Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2022 11 Dez

Das Großvaterprinzip

von: Jan Reetze Filed under: Blog | TB | Tags: , | 6 Comments

Dieses Prinzip funktioniert so: Der Anfang einer Geschichte muss stimmen und für die Zuschauer/-hörer nachvollziehbar, im günstigen Fall überprüfbar sein und mit ihrem Wissen übereinstimmen. Personen und Schauplätze müssen wiedererkennbar sein, idealerweise wirklich, zumindest aber als Idee. Nun kommt aber die Phantasie hinzu. Sie liefert den Grund, aus dem die Geschichte überhaupt erzählt wird, und dazu reichen Tatsachen allein nicht aus. Die Geschichte geht weiter, steigert sich, ist eigentlich bereits eine Lüge, aber bleibt immer der Wahrheit so ähnlich, dass man weiter dranbleibt, ohne das Gefühl zu haben, dass man hochgenommen wird.

Der Regisseur und Autor Edgar Reitz hat dieses Prinzip von seinem Großvater gelernt, der ein begnadeter Geschichtenerzähler gewesen sein muss. Das Großvaterprinzip zieht sich nicht nur durch Reitz‘ Filme, sondern wie ein roter Faden auch durch Filmzeit, Lebenszeit, Edgar Reitz‘ Erinnerungen, die er sich und uns als Klotz von 670 Seiten zu seinem 90. Geburtstag spendiert hat.

 

 

 

 

Ich will mal nicht unterstellen, dass Reitz das Großvaterprinzip auch auf seine Erinnerungen angewandt hat, obwohl man ja weiß, dass nirgendwo so viel gelogen wird wie in Autobiografien, oder in Tagbüchern, die bereits mit Sicht auf eine spätere Veröffentlichung verfasst worden sind. Reitz war Dokumentar- und Werbefilmer und gehörte zu den Protagonisten des Slogans „Papas Kino ist tot“, der die Oberhausener Kurzfilmtage 1962 in dauerhafte Erinnerung brachte. Er gehörte zu den Begründern des „Autorenfilms“, dessen Idee war, dass die Arbeitsvorgänge des Drehbuchschreibens, der Regie und der Produzententätigkeit in eine Hand gehören sollten. Dass das nicht immer funktioniert, wurde schnell offensichtlich, weil dazu jeweils unterschiedliche Talente gehören, die keineswegs notwendigerweise immer zusammen auftreten. Aber die Bewegung enstand, und Reitz war ein Teil davon. Interessant ist die Reaktion der damals etablierten Autoren — Walser, Grass, Bachmann & Co. — auf deren Auftreten: Arroganz und Wut wäre noch freundlich ausgedrückt. Sie sahen Film nicht als Kunstform, sondern noch als Jahrmarktsvergnügen an. Mit solcherart Bräsigkeit hatten Reitz, Kluge, Fassbinder etc. immer wieder zu tun.

Hauptsächlich wurde Reitz aber durch seine monumentale Heimat-Trilogie bekannt. Die Arbeit daran nimmt denn auch den größeren Teil des Buches ein. Jeder, der die drei Filmreihen gesehen hat (ich mag sie nicht als „Serien“ bezeichnen, obwohl sie das faktisch sind), hat natürlich zumindest geahnt, dass Reitz da viel Autobiografisches eingebaut hat. Die Autobiografie legt nun offen, wie viel das tatsächlich ist — man nimmt es einerseits mit Erstaunen, aber ebenso auch mit leisem Erschrecken wahr. Aber genau das ist in der Tat das Großvaterprinzip. Es ist das, was diese Filme bei aller gelegentlichen Verdrehtheit packend und glaubwürdig macht. Bei Reitz kommen die genannten Talente tatsächlich zusammen: Er ist nicht nur ein hervorragender Regisseur, nicht nur ein guter Produzent, der für seine Projekte die richtigen Leute findet, sondern er ist auch ein großartiger Geschichtenerzähler, der seine Storys zu Papier zu bringen weiß. Langeweile tritt in dem Buch nur dann auf, wenn sich Reitz allzu offensichtlich selbst auf die Schulter klopft — ein bekanntes Autobiografienphänomen, aber hier ist es auszuhalten.

Die Arbeit an der Trilogie ist eine Abenteuergeschichte. Insbesondere schüttelt man den Kopf über das Verhalten gewisser Fernsehverantwortlicher, denen es gelungen ist, die Heimat-Filme durch ungeschickte Platzierung im Programm (Die Zweite Heimat) und Kürzungsforderungen, die einem die Haare zu Berge treiben (Fernsehfassung von Heimat 3) in den Sand zu setzen — und dann noch Reitz öffentlich die Schuld am angeblichen „Misserfolg“ in die Schuhe zu schieben, während die Filme von der Presse wie vom Publikum weltweit enthusiastisch bejubelt wurden. Nun ja, schon Tucholsky sah diese Redakteursspezies als Leute, die auf ihren Stühlchen sitzen und in erster Linie Angst haben — Leute, die nicht ansatzweise könnten, was Autoren, Regisseure und Schauspieler leisten, aber über die Macht verfügen, den Daumen zu heben oder zu senken und deshalb glauben, sie seien von auch künstlerisch von Bedeutung. Es ehrt Reitz, dass er sich verkneift, die Betreffenden mit ihrem Namen zu nennen. (Ich will es hier auch nicht tun, aber jeder, der die deutsche Fernsehlandschaft der 1980er und 1990er Jahre kennt, weiß, wer gemeint ist.) Umso mehr staunt man über die unendliche Geduld, mit der Reitz an seinem Werk gearbeitet hat. Und weshalb er den Nachzügler Die andere Heimat vorrangig als Kinoprojekt ohne Fernsehhilfe gemacht hat.

Filmzeit, Lebenszeit ist exzellent geschrieben, und auch, wenn man einige Dinge vielleicht so genau dann doch nicht wissen wollte, jede Leseminute wert. Danke, Großvater.

This entry was posted on Sonntag, 11. Dezember 2022 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

6 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Wusste gar nicht dass es überhaupt Schriftseller gab, wir die genannten, die den Film / Autorenfilm als eine Art Jahrmarktsvergnügen sahen und so arrogant abhandelten. War wohl teilweise so ein Geberationending.

    Grass, Walser und Co. waren öffentliches Hätscheln ja gewohnt, und in jeder gefühlten zweiten Ausgabe der ZEIT präsent. Die wurden behandelt wie Nationalheiligtümer.

    Die erste Heimat: ein Highlight der Fernsehgeschichte. Das wae doch die zweite Hälfte der Achtziger….. Die zweite war auch fesselnd, mit ihrem Sprung in eine jüngere Zeit. Die Dritte… aber da schreibst du ja, wie es ihr erging …

  2. Lajla:

    Edgar Reitz und das Großvaterprinzip. In “Heimat” beherrscht er es perfekt. Er war während der Filmzeit Vorort, hörte also den Dialekt. Mich hat “Heimat 2” enttäuscht. Wahrscheinlich, weil ich mir eine Steigerung von “Heimat” vorgestellt hatte. “Heimat 3” habe ich mir nicht angetan.

  3. Michael Engelbrecht:

    Die Heimat 3 war damals nie so zu sehen, wie es ER wollte. Gibt es sie mittlerweile als „director‘s cut“, und hast du sie gesehen, Jan? Vielleicht ist da ja noch ein Schatz zu heben?

    David Lynch ist mit Staffel 3 von TWIN PEAKS, Jahrzehnte nach dem Ende von Staffel 2, eine Meisterstück gelungen. Staffel 3 famd viel Kritikerlob, aber keine grosse fanbase mehr. Warum? Nun, und das ist Lynch hoch anzurechnen, Drehbuch und Film sind gegen alle nostalgischen Reflexe vorgegangen.

    Mir kam es nach meinen flüchtigen Eindrücken so vor, als habe Staffel 3 der HEIMAT auch eine radikaleren Erzählansatz gehabt, gegen Erinnerungsseligkeit und gegen Erfolgsrezepte angeschrieben…

  4. Jan Reetze:

    Heimat 1 war ganz sicher ein Highlight des deutschen Fernsehens. Inzwischen bild- und tonrestauriert und auf 16:9-Format umgestellt, auch die Farbdramaturgie wurde etwas verändert. Auch einige Längen sind rausgekürzt worden, was der Sache gut bekommen ist.

    Heimat 2 habe ich damals an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Kino gesehen, ich glaube, im damals noch existierenden Hamburger UFA-Palast. Das ist natürlich ein anderes Wahrnehmen als am Fernseher. Auch da gab es allerdings einige Längen und einiges, was ich nicht notwendig fand (etliches erklärt sich allerdings jetzt aus der Reitz-Bio), aber aufs Ganze gesehen fand und finde ich die Filme immer noch verdammt beeindruckend. Ich meine, Heimat 2 stünde auch zur Bild- und Tonrestaurierung an, ist aber wohl noch nicht gemacht.

    Heimat 3 hatte in der Tat einen anderen Erzählansatz. Es war Thomas Brussig als Co-Autor dabei, und dessen eher satirischer Ansatz vertrug sich nicht immer mit Reitz‘ epischer Erzählweise. Das führte zu einigen reichlich albernen und überflüssigen Szenen und Episoden, außerdem ging mir Uwe Steimle sehr schnell auf den Geist. Die ARD kam nach Abschluss der Schnittphase damit, alle Folgen hätten genau 89 Minuten lang zu sein. Das bedeutete Kürzungen von insgesamt etwa 2 Stunden, und Reitz weigerte sich, die selbst vorzunehmen. Daraufhin haben dann irgendwelche ARD-Dramaturgen zur Schere gegriffen und die Folgen teils sinnentstellend und bis zur Unverständlichkeit zusammengestrichen. Ich halte Heimat 3 allerdings auch in der vollständigen DVD-Version für die schwächste der drei Staffeln. Aber selbst wenn Reitz nur mittelmäßig ist, ist er immer noch besser als 90 Prozent dessen, was da sonst noch läuft. Und nein, als Director’s Cut gibt es sie meines Wissens noch nicht. (Ich bin auch gar nicht so sicher, ob Director’s Cuts immer so optimal sind — eine versierte Schnittmeisterin wie Beate Mainka-Jellinghaus, die die ersten beiden Heimat-Staffeln montiert hat, hat möglicherweise sogar den besseren Blick dafür, wie der Film am besten rüberkommt, gerade, weil sie nicht die Regie geführt hat. Aber das ist ein anderes Thema …)

  5. Ursula Mayr:

    Gute Empfehlung!
    Reitz hat in jedem Fall Filmgeschichte geschrieben. Ich hab mir Heimat 3 angetan, konnte man gucken, aber es unterschied sich in nichts von anderen Filmproduktionen dieser Art.Das Besondere, Atmosphärische war weg.
    Aber es scheint ja ein Naturgesetz zu sein dass die weiteren Staffeln nach hinten zu kontinuierlich abfallen.

  6. Michael Engelbrecht:

    Kein Naturgesetz, eher ne Regel mit vielen Ausnahmen

    Siehe

    The Leftovers 1-3
    Justified 1-6

    Stimmt aber bei

    Lost
    Game of Thrones


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz