Irgendwann begannen sie, die nahezu Soloalben von John Surman – „Upon Reflection“ war wohl das erste, und jede dieser Multitrack-Exkursionen enthielt mindestens einen Ohrwurm. Auf „Road To St. Ives“ war es das Stück „Tintagel“, und auf „Salatash Bells“ war fast jedes Stück nah am Surrender-Faktor 10. Anouar Brahem geriet in den Sog von „Road To St. Ives“, und bald sollten sich Anouar und John in einem Studio in Oslo begegnen (Dave Holland gesellte sich noch dazu). Der Schriftsteller David Mitchell begeisterte sich während eines Interviews (in dem wir über „Die Knochenuhren“ und seine Liebe war zu Platten von ECM sprachen) für „Saltash Bells“, und ich erzählte ihm von meiner unvergesslichen Reise nach Cornwall.
Der Titel „Saltash Bells“, so bemerkt John Fordham, erinnert an die Geräusche, die Surman auf der anderen Seite der Saltash Church hörte, als er als Kind mit dem Schlauchboot seines Vaters unterwegs war, und sie finden sich in den computergenerierten Glockentönen und kreisenden Loops wieder. Das lange Finale, Sailing Westwards, hat die jazzigsten Passagen, deutet aber auch eine jubelnde, rhumba-artige Partystimmung an. Es ist weniger introspektiv als Surmans frühere Solowerke manchmal waren, und es ist voll von beschwingter, einnehmender Lyrik.
Etliche der Orte, die für die Strasse nach St. Ives titelgebend waren, kann man heute mittels Navi leicht ansteuern. Damals verwendeten wir noch Landkarten. Ich hatte, in einer Besprechung („Jazzthetik“) dem Fremdenverkehrsverein von Cornwall den Tipp gegegeben, mit diesem akustischen Trip Werbung zu betreiben. Tatsächlich machen die Namen neugierig, die in unzähligen historischen Roman auftauchen, Geschichten von Tod, Wahnsinn, Hexerei; Liebe, Licht Mythen, die in unseren Hinterköpfen rumschwirren, von König Artus bis zu den Nebeln von Avalon.
Es war Hochsommer, als John Surmans Platte der Soundtrack unserer Reise wurde. Wir scliefen in dem Haus, in dem Daphne de Mauriers Schreibzimmer unversehrt erhalten war: da hatte sie diesen berühmten Piratenroman geschrieben, den Hitchcock (?) später verfilmte. Wir gingen durch Tintagel, ich erinnere mich an den das Backsteinpflaster, die Ruhe am Meer, einen Fish’n’Chips-Laden, aus dem Scarborough Fair von Simon & Garfunkel ertönte. Wir wanderten lange Tage den Coastal Path entlang, von Klippe zu Klippe.
Einmal brachenwir auf zu Trethevy Quoit. Die Sonne stach vom Himmel, schließlich kamen wir an. Ein oller Steinhaufen, dem man nur mit viel Phantasie etwas Pittoreskes abgewinnen konnte. Ein Hund schlug an der Kette, neben dem keltischen „Power Spot“ hingen weiße Bettlaken im müden Wind. Der Ort hatte allen Zauber eingebüßt, aber einen dezenten Charme vom Verfall und Vergänglichkeit beibehalten. Ein power spot für Menschen mit britischem Humor. Das Stück von John Surman ist sehr kurz, ein wilder Furor übereinander geschichteter Saxofone. Ich habe ihn später einmal gefragt, wie er auf die Namen seiner Kompositionen gekommen sei. ich kann mich nicht genau erinnern, was er sagte, aber ich glaube, er hatte einfach Namen von Orten genommen, deren Klang ihm gefiel. Und flüchtige Erinnerungen spielten auch hinein, an Reise der Kindheit. Von Kent nach Cornwall.
In jenen Tagen erschien auch Bob Dylans „Time Out Of Mind“. Wir kauften die Cd in Portsmouth und das Album war ein wunderbarer Kontrapunkt zu John Surmans Werk. In einem langen Song unterhielt sich der Sänger mit einer Frau in einer Bar am Ende der Welt, und ich spielte „Tintagel“ und „Highlands“ nacheinander, verbunden allein mit der kleinen Reisegeschichte, mit dem Steinhaufen von Trethewy Quoit, Daphne de Mauriers Himmelbett, und einer Ausstellung in der Tate Galery in St. Ives: als ich nichtsahnend durch die Gänge stromerte, erklang auf einmal leise Musik, die mir seltsam vertraut war, von Gavin Bryars.