Manafonistas

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2022 25 Nov.

Nun streichen wir auch dich. Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

von: Lajla Nizinski Filed under: Blog | TB | 4 Comments

Gerade hatte ich noch einen Freund gebeten, mir den Kommentar von Enzensberger zu dem neuen Buch über Ingeborg Bachmann und Max Frisch („Wir haben es nicht gut gemacht“) zukommen zu lassen. Die Bachmann war ja auch kurz mit ihm liiert. Nun sind meine beiden Lieblingsdichter im Himmel.

 

NOTIZBUCH

 

Abgenutzt, kleine Spuren im Leder,

berieben nennen die Buchhändler das,

alt, doch jünger als ich.

 

Roberto Moretti aus Santiago

 

Nummern die nicht mehr antworten,

oder es meldet sich

eine Chemische Reinigung.

 

Claudine Avilain aus Clermont-Ferrand.

 

Verschwundene Minuten,

Namen notiert in Hotelbetten,

auf Bahnsteigen oder Kongressen

 

Olga Diez aus Gunzenhausen.

 

Empfänger unbekannt verzogen,

Amtszeichen, der Anschluss

besteht nicht mehr

 

War ich je in Clermont-Ferrand?

Olga, Roberto, Claudine.

Wer mag das gewesen sein?

 

Liebe, Brot, ein Gespräch,

ein Nachtlager, ein Versprechen,

das niemand gehalten hat.

 

Der Zufall mit seinem Gewisper,

mit seinen toten Gesichtern,

seinen blinden Namen

 

So steht der meinige, leicht

berieben, älter als ich,

in anderen Büchern.

 

Wer mag das gewesen sein?

Wer immer es war,

streicht ihn aus.

 

This entry was posted on Freitag, 25. November 2022 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

4 Comments

  1. Jochen:

    Schönes Gedicht, erinnert mich an Dietmar Kamper, der in seinen letzten Tagen im Futurum Zwei schrieb: „Ich werde nicht gewesen sein.“

    Enzensberger „hatten“ wir schon in der Oberstufe, Handke auch … ;)

  2. Ursula Mayr:

    Gut, dass Du einen Zwinkerer hingesetzt hast …

  3. Olaf Westfeld:

    Optimistisches Liedchen

    Hie und da kommt es vor,
    daß einer um Hilfe schreit.
    Schon springt ein andrer ins Wasser,
    vollkommen kostenlos.

    Mitten im dicksten Kapitalismus
    kommt die schimmernde Feuerwehr
    um die Ecke und löscht, oder im Hut
    des Bettlers silbert es plötzlich.

    Vormittags wimmelt es auf den Straßen
    von Personen, die ohne gezücktes Messer
    hin- und herlaufen, seelenruhig,
    auf der Suche nach Milch und Radieschen.

    Wie im tiefsten Frieden.

    Ein herrlicher Anblick.

  4. Jan Reetze:

    Zu den wichtigeren Aktivitäten Enzensbergers gehörte sicherlich sein Versuch, mit der „TransAtlantik“ eine Art deutschen „New Yorker“ oder „Atlantic“ zu etablieren. Hat leider nur zwei Jahre lang geklappt, dann holte die Wirtschaftlichkeit das Projekt auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Schade.

    Es gibt dazu jetzt auch ein Buch: https://www.welt.de/kultur/article242355049/Kai-Sina-ueber-Enzensbergers-Zeitschrift-TransAtlantik.html


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