Manafonistas

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2022 22 Nov

Kathy

von: Manafonistas Filed under: Blog | TB | 3 Comments

 


Dss ist nun mal was für Zeitreisende und Abgrundforscher*innen! Aber hallo! Wer war Kathy Acker? Man konnte sie live im CBGB erleben, wo sie ab und an ihre Texte performte. Sie trat auch mit Hüsker Dü auf. Sie hörte den jungen Talking Heads zu und erlebte Tom Verlaines kurzen Höhenflug mit „Television“. Deren Album „Marquee Moon“ habe sie tausend Mal gehört, sagte sie einmal. Kathy Acker war literarische Erbin von William S. Burroughs und Gertrude Stein, Sexarbeiterin, Streberin nach maximaler Unverschämtheit, und wurde 1947 in ein sanftes Leben in Manhattans East Side hineingeboren. 
Wie viele aufgeweckte, sensible Kinder fühlte sich Acker als Fremde und Waise und – trotz gegenteiliger Beweise – als eine der besonders Unterdrückten und Verdammten schlechthin. Sie machte sich daran, sich neu zu erfinden, während sie langsam ein vitales und subversives Werk schuf, das die Grenzen zwischen Fiktion, Lyrik und Sachbüchern verwischte.

Sie, werte Leserin, werter Leser, könnten sich auch fragen, ob das hier alles wahr ist oder komplett erfunden, ein pures Spiel mit mögliche Wirklichkeiten. Und das Cover der Biografie reiner fake. Aber tun wir mal so, alles wäre real. Kathy war also eine Meisterin darin, sich selbst neu zu erfinden. Muss man dazu die Persönlichkeit wechseln, liebe Uschi, oder nur den Habitus, die persona, David Bowie-like? Ja, ja, es kommt darauf an.

Ein Teil ihrer Neuerfindung war physischer Natur. Zum Leidwesen ihres Freundes schnitt sie sich vor der Punk-Ära die Haare ab; sie war stark tätowiert, lange bevor man das im Einkaufszentrum machen lassen konnte; sie war eine frühe Fitnessstudiobesucherin. Sie trug Leder und war stark gepierct. Sie war dünn, ein Ungeheuer, mit dem man rechnen musste. Ein Beobachter sagte, sie sei wie einer der zum Leben erweckten Replikanten aus „Blade Runner“.

Ein Großteil ihrer Neuerfindung war intellektuell. Acker las alles. „Man braucht Gesetze, die Gesetze des Schreibens, damit man sie hassen kann“, schrieb sie 1979. Sie fühlte sich zu Außenseitern wie Jean Genet hingezogen und zu denen, die wie Alain Robbe-Grillet vor dem konventionellen Erzählen zurückschreckten. Sie mochte die Tüftler, die Diebe und die Elstern, und sie verliebte sich in die lustigen Piraten. Zwei ihrer bekanntesten Bücher tragen die Titel „Don Quijote“ und „Die große Erwartung“. Sie hat Cervantes und Dickens wie mit einer Lötlampe zerlegt und sie (irgendwie) wieder aufgebaut. Ihr Don Quijote wird abgetrieben.

 

„Wenn es zwei Dinge gibt, die man aus „Eat Your Mind: The Radical Life and Work of Kathy Acker“, einer klugen und sympathischen, aber knallharten neuen Biografie des Journalisten Jason McBride aus Toronto, gibt, dann sind es diese. Erstens: Literarische Karrieren werden nicht verschenkt – man muss sie sich verdienen, man muss sie sich erarbeiten. Ackers Arbeitsmoral war gigantisch. Arbeit war ihre Religion. Sie schrieb acht Stunden am Tag, unabhängig davon, was in der Nacht zuvor passiert war, und da Acker impulsiv, ungemein attraktiv und sexuell omnivor war, passierte in der Nacht zuvor oft viel. Zweitens: Acker hat von Anfang an über fast alles gelogen oder übertrieben. Sie führt einen Biographen auf eine lustige Verfolgungsjagd. Es gibt zum Beispiel kaum Beweise dafür, dass ihre Mutter (einer von Ackers Romanen trägt den Titel „Meine Mutter: Dämonologie“) das Monster war, als das Acker sie darstellte. Acker sagte einmal: „Ich bin so queer, dass ich nicht einmal schwul bin.“ 


Viele von Ackers frühen Arbeiten wurden im Selbstverlag veröffentlicht. Sie hatte eine Mailingliste und verschickte ihre Arbeiten als Broschüren. Tagsüber schrieb sie, nachts strippte sie, weil sie pleite war. Andere junge Frauen strippten zu Popsongs; Acker bevorzugte Velvet Underground oder Ornette Coleman. Mit einem Freund drehte sie einige Pornofilme. Ein späterer Sexfilm – geschwätzig, kunstvoll, in bröckeligem Schwarzweiß gedreht – ist heute als „The Blue Tape“ bekannt. Er hat ein kompliziertes Nachleben in der Kunstwelt.

Für eine Kerze, die an beiden Enden brannte, wuchs ihr Ruhm langsam, und sie lernte jeden kennen. Fast jeder experimentelle Künstler, Schriftsteller oder Szenemacher der 1980er und 90er Jahre ist hier vertreten. Sie schlief auch mit fast jedem. Acker liebte Sex; er war ihr wichtig. Sie sammelte Liebhaber, sagt ein Freund, so wie andere Menschen Bücher sammeln. Die Aufnahme neuer Liebhaber nährte und beflügelte ihre Arbeit. Sie erkundete sie, als wären sie neue Städte.

Sie mochte S&M und war eine devote Frau. Sie ging ins Fitnessstudio und schockierte die städtischen Fachleute, indem sie ihre blauen Flecken zur Schau stellte. Ein Liebhaber, ein verheirateter Journalist des deutschen Wochenmagazins Der Spiegel, „zwang“ Acker zum Orgasmus, indem er sie von der anderen Seite der Hotellobby anstarrte. Für Acker war der Ort immer hier, die Zeit war immer jetzt. Sie schrieb, während sie masturbierte, und riet ihren Studenten, das Gleiche zu tun. Ein Freund sagte, dass sie beim Sex wie ein Hund bellen würde. Sie bewahrte Dutzende von Stofftieren auf, die erst weggefegt werden mussten, bevor man mit ihr schlafen konnte.

Sie war launisch, hinterließ unerwartete Schürfwunden und eine Menge Menschen. Sie konnte ihre Gefühle im Handumdrehen zurückziehen, und ihre verlassenen Freunde fühlten sich wie Frösche, die von einem Rasenmäher überfahren wurden. Sie wollte so sein, dass niemand sie verletzen konnte, aber das hat sie nie ganz geschafft.

Ackers Liebhabern fiel ebenso wie ihr selbst auf, dass sie eine Menge Leberflecken und Geschwüre am Körper hatte. Einer entpuppte sich als bösartig. Acker beschäftigte sich seit langem mit der Rückführung in die Vergangenheit und dem Lesen von Tarotkarten, und sie widmete eines ihrer Bücher ihrem Astrologen. Wie zu erwarten war, lehnte sie eine Chemotherapie ab. Sie wählte den alternativen Weg und starb 1997 in einer ganzheitlichen Klinik in Tijuana. Hätte sie weiter gelebt, wäre sie  jetzt 75 Jahre alt geworden, so alt wie Paul Auster und Stephen King.  


P.S. Fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Tod erlebt Acker eine Wiederauferstehung. Mehrere ihrer Bücher wurden kürzlich als Penguin Classics neu aufgelegt, womit einer ihrer Träume in Erfüllung ging. Das wäre doch mal eine Biographie für ein manafonistisches Parallelleseabenteuer (running gag!). Dieser Text hier hat sich übrigens Kathys Talent zum Plündern zueigen gemacht, und sich mal masslos, mal paraphrasierend, mal nacherzählend, aber stets reflektiert, mit drastischen Kürzungen und persönlichen Erweiterungen, an einer Rezension der New York Times bedient.

 

(Dwight Garner, Michael E.)

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3 Comments

  1. Ursula Mayr:

    Eine aussergewöhnliche Frau und es wird sicher nie langweilig – leider habe ich nichts von ihr gelesen, aber klingt verlockend.

    Ob man dazu die Persönlichkeit wechseln muss? Schwer zu sagen wenn man nicht weiss, wie derjenige aus dem Mutterleib gekrochen ist. Man kann sie wechseln als kreatives Spiel, man sucht ein Entkommen, es besteht eine Not die dazu zwingt. Die wahrgenommene Realität verändert sich nach Verinnerlichung derart, dass sie beim Herauskommen wie eine Lüge anmutet, es aber nicht ist.

    Als 14-Jährige bekam ich einen Stiefvater und bin eine zeitlang wie ein Junge herumgelaufen, weil ich spürte, dass er junge Mädchen ablehnte – er musste zuviel inzestuöses Begehren abwehren. Er hatte 7 wohlsituierte Söhne und eine Tochter, die schon als junges Mädchen in die Prostitution geriet, also zu dem wurde, was er in sie hineinprojizierte. Ab dem 14. Lebensjahr war sie schon „der Schlampen“.

    Im Bayerischen unterliegt die Schlampe einem Geschlechterwechsel, genau wie die Butter, die Kartoffel und die Schokolade. Er hätte einen brauchbaren Dschihadisten in seiner Frauenverteufelung abgegeben, so reichte es nur zu einem Mitläufernazi.

    Im späteren Erwachsenenleben verkleidete ich mich immer im Fasching als Mann, also nix Zigeunerin, sondern Cowboy oder Araber mit Bart und sogar schwarzer Brustbehaarung unterm Kaftan. Was alles furchtbar juckte. Meine Begleiter wurden mittels Perücke, die auch juckte, und Spitzennachthemd in die polare Position gezwungen und liessen die Tunte raus und ich den Macho. Legendäre Szenen, leider gabs damals noch keine Videokameras. Toppt vielleicht noch Michas Stadtneurotiker. Ich konnte es also ritualisieren und es überschwappte nicht mein Alltagsleben.

    Besonders interessant finde ich den Satz “ … so queer, dass ich nicht mal schwul bin!“. Es gibt tatsächlich sehr viele Geschlechter, wenn man nicht von den körperlichen Gegebenheiten ausgeht (da gibt’s wirklich nur 3) sondern von den Sexualzielen. Da gibt es Heterofrauen die sich vorstellen sie wären ein Mann und würden eine Frau oder einen Mann penetrieren, manche Männer stellen sich vor eine Vagina zu besitzen und von einem Mann penetriert zu werden oder von einer Frau mit Dildo … sind die jetzt bi oder schwul oder lesbisch? Freies Spiel der Sexualitäten eben.

    Ob man alles das jetzt als eigenes Geschlecht benamsen muss, ist eine andere Frage, obwohl ich die Genderdebatte trotz ihrer Auswüchse schätze, denn sie schafft ein zunehmendes Bewusstsein für dieses freie Spiel. Halt nur für die, die Ohren dafür haben. Nur als besonders hinterhältig oder besonders dämlich finde ich die Forderung nach einer öffentlichen Toilette für alle Nicht-Eindeutigen.

    Da rotten sich dann davor oder darin die kahlrasierten Moralwächter zusammen und dann passiert Bekanntes. Und was da in Schulen dann passiert, stell ich mir lieber gar nicht mehr vor … Und jetzt sind wir von der Kathy aufs Klo gekommen. Freies Spiel der Assoziationen – hätte sie sicher ihren Spass dran gehabt.

  2. Jörg R.:

    Butter? Schokolade??

  3. Ursula Mayr:

    Manno, wie lang lebst Du denn schon in München?

    Der Budda, der Kardoffe und der Schogglad. In manchen Landstrichen auch der Schonglad!


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