In meinem Post über den Dschihadismus hat Micha als Schlusscomment Hanna Arendt zitiert: Das Böse ist banal. Leider war ich da gerade vom Netz abgeschnitten und konnte es nicht lesen bzw rechtzeitig beantworten. Also auf ein Neues!
Ich denke – bzw erfahre täglich das „Böse“ , nennen wir’s mal ruhig weiter so, es kann sich ja jeder was darunter vorstellen, das in seiner Entstehung, Weiterentwicklung und seinem vollständigen „Erblühen“ ein sehr komplexer Vorgang ist. Arendt erlebte einen geistesschlichten Eichmann – er hatte keinen Schul- oder Berufsabschluss vorzuweisen – während des Prozesses und seiner Aburteilung in Israel. Sie hielt das Böse ebenfalls für schlicht, eindimensional, undifferenziert-monolithisch; sollte einer Philosophin eigentlich nicht passieren, wobei sie diese Bezeichnung für sich lebenslang ablehnte. Zumal das Böse keine Entität ist, sondern ein Prozess – etwas bildet sich, differenziert sich und fliesst in Gefühle, Gedanken, schliesslich in Handlungen ein und trifft schliesslich den jeweils anderen. Allein das ist schon ein komplexer, sich verzweigender Verlauf, eine Form der Kontaminierung des menschlichen Seelenorganismus.
Daher fiel mir dieser Film ein, der die Dynamik des „Bösen“ gut abbildet und durchdekliniert, und hier zeigt sich schon der Facettenreichtum des Phänomens: tragisch vor allem, weil der Protagonist das Böse bei sich als ich-dyston empfindet – er will nicht böse sein, er wäre gern anders. Das Böse überwältigt ihn aber ebenso, wie er seine Opfer überwältigt. Das unterscheidet ihn schon mal von Eichmann, er war ich-synton mit seinen Handlungen und damit in toto identifiziert. Da gab es sicher keine schmerzhaften innerseelischen Spannungen durch ein Gewissen, das seine Arbeit brav erledigt und Druck auf das Ich ausübt, anders sein zu müssen. Auch unmittelbar vor seinem Tod bekannte sich Eichmann noch zum Nationalsozialismus und seinen Idealen.
Der Film heisst „Der freie Wille“, der Titel also schon eine Ironisierung – hier gibt es keinen freien Willen. Theo ist ein krimineller junger Mann, verurteilt wegen Körperverletzung und Vergewaltigung, er hat nicht gelernt seine Impulse zu kontrollieren, Sexualität kann nur auf aggressive Weise gelebt werden, verbindet sich nicht mit liebevollen, zärtlichen Gefühlen oder lässt die gewalttätigen Wünsche zumindest in spielerischen Ritualen erfüllt werden. Liebevolle Affekte sind bei ihm schwach ausgeprägt oder überhaupt nicht vorhanden und vom Triebleben abgetrennt, Befriedigung und Erleichterung findet er nur in Gewalthandlungen.
Der Film findet einen ungeschönten Einstieg mit der Vergewaltigung eines jungen Mädchens, das Theo auch noch an den Händen gefesselt und ihm die Augen verbunden hat, so dass sie nach dem Akt völlig hilflos nackt durch die Gegend taumelt und eine Böschung hinabstürzt. Theo blickt ihr nach und plötzlich – eine leise Regung von Mitleid – läuft er ihr hinterher, zerschneidet die Handfesseln und flüchtet. Ein bisschen Hoffnung keimt im Zuschauer, ein plötzlicher Bruch in der Brutalität, eine Verwerfung in der Psyche.
Theo lebt in einer therapeutischen WG, hat eine vertrauensvolle Beziehung zu seinem Bewährungshelfer. Er lernt Nettie kennen, ein von seinem Vater psychisch und vielleicht auch physisch ausgebeutetes Mädchen, zwei beschädigte Menschen. Er arrangiert für sie ein Date in einer Kirche, in der eine Sopranistin das Ave Maria singt, das sie tags vorher zusammen im Radio gehört hatten; sie nehmen sich bei der Hand. Hier wechselt Theo in den Innenbereich des Guten, Unbefleckten, Ungetrübten – wofür Maria steht, er macht erste liebevolle Objekterfahrungen.
In einer Krise – sein Bewährungshelfer zieht aus der Stadt weg – bricht er in die Wohnung einer alleinstehenden Frau ein, diese liegt schlafend im Bett. Es kommt zu einer sehr anrührenden Szene – er streckt die Hand nach der schlafenden Frau aus aber die Geste des Zupackens wird plötzlich zu einem vorsichtigen verhaltenen, geradezu ängstlichen Streicheln. Dann verlässt er wieder die Wohnung. Der Schritt ist geschafft – die aggressiven Strebungen haben sich mit den liebevollen verbunden, entschärfen den Hass und machen ihn kontrollierbar. Eine Heilung könnte beginnen.
Aber der Zustand ist nicht stabil – eine Enttäuschung über Nettie – sie geht mit ihren Kollegen aus, anstatt sich mit ihm zu treffen – führt wieder zu einer Triebentmischung, Theo ist rasend vor Eifersucht und vergewaltigt erneut eine nächtliche Passantin.
Nettie sucht ihn und findet ihn am Strand, kann ihn nicht mehr daran hindern, sich die Pulsadern zu öffnen, er verblutet in ihren Armen. Sie holt keine Hilfe, sieht ein, dass er genug hat vom ständigen Kampf gegen seine destruktiven Affekte. Hier am Ende des Dramas finden Theo und Nettie immerhin noch ein Stück freien Willens, er wählt den Frei-Tod, sie entscheidet für sich, ihn nicht zu retten. Aber es ist ein Pyrrhussieg.
Das „Böse“ entsteht durch ein Missverhältnis von frühen guten und negativen Objekterfahrungen. Hass Wut und Sexualtriebe müssen sich mit Liebe und Zuneigung verbinden, um einen integrierten ambivalenzfähigen Menschen zu formen. Sind die Niederschläge liebevoller Erfahrungen im Seelenleben zu wenig, wird eine Spaltung durchgeführt, um das wenige Gute vor dem überflutenden Bösen zu schützen – diese Menschen leben abwechselnd den einen oder anderen Pol und kommen nicht in eine Form von Mitte und Mass: „Meine Frau ist die beste aller Frauen und eine wundervolle Mutter – wenn ich sie nur wieder hätte!“ versus: „Die verdammte Hure betrügt mich mit sämtlichen Nachbarn, man sollte sie …!“ Undsoweiter. Es handelt sich um die selbe Frau.
Jürgen Bartsch, der Kirmesmörder, war ein ruhiger , freundlicher junger Mann,der Kinder mochte und sich gerne mit ihnen beschäftigte. Er geriet aber in Zustände in denen er sie vergewaltigte, grausam verstümmelte und tötete. Seine Kindheit war eine Aneinanderreihung von sadistischen Handlungen von Adoptiveltern und Internatserziehern und sexuellem Missbrauch durch einen Geistlichen. Zeitweise brach die Identifikation mit dem Angreifer bei ihm durch und er wurde vom Opfer zum Täter und dann wieder zurück.
Hitler war reizend zu seinen Sekretärinnen und seinem Hund.
Der Dschihadist richtet liebevolle Worte an seine Mutter.
Wie definieren wir also das Böse aufgrund dieser Darstellungen?
Eindimensional ist es sicherlich nicht, es ist hochdynamisch, lässt sich abdrängen, vermischen, entmischen, neutralisieren, durch erlernte Fähigkeiten im Zaum halten und wieder von der Leine lassen und durch Verschiebungen und Abwehroperationen unsichtbar werden. Eine dynamische und talentierte Entität, die sich durch die Abwesenheit des Guten definiert und sich sorgfältig davon fernhält, um sich ungehindert ausleben zu können und nicht zerstört zu werden. Und besonders gefährlich wird’s, wenn es noch das Gewand einer Ideologie angezogen bekommt, so dass es aussieht als wäre es gut. Dann wird es nämlich nicht mehr vom Gewissen attackiert: Der Kampf gegen Ungläubige legitimiert es moralisch – und da wird’s besonders gefährlich – und abstossend. Theo hat noch einen Rest unserer Sympathien im Kampf gegen seine Dämonen. Der durchideologisierte Dschihadist kämpft diesen Kampf gegen sein Gewissen nicht mehr, er ist mit sich im Reinen, ernennt das Böse zum absolut Guten und verfolgt es mit ultimativer Verbissenheit. Seinen Tod sieht er als Opfertod. Das sind neben den Psychopathen, den Nichtfühlenkönnenden, völlig Gewissensfreien, die Gefährlichsten.
Alles jetzt natürlich stark vereinfacht. Somit ist das Böse in der Choreographie menschlicher Verhaltensweisen sicher eins nicht: banal!