Ich komme nochmal zurück auf das Jazzfest Berlin, das am ersten Novemberwochenende im Berliner Festspielhaus und mehreren anderen Spielstätten wie Clubs (aber auch Galerien, Friseursalons und Privatwohnungen) und in der Gedächtniskirche (Konzert von Lucian Ban/Mat Maneri/John Surman wie Konzert des Gurdjieff Ensembles aus Yerevan) stattfindet.
Häutungen
Das Programmieren des Festivals ist ein komplexer Prozess mit vielen Häutungen. Die Realisierung des Programms ist eine ebenfalls komplexe Angelegenheit, dann aber in Kürzestzeit. Ich habe viele Seiten aus der Innensicht in den letzten fünf Ausgaben mitwirkend kennengelernt.
Fünf immer wieder unterschiedliche Inszenierungen
Jede der letzten fünf Ausgaben war eingreifend anders als die jeweils Vorherige in den Formaten und Inszenierungen. Und das nicht einfach nur in der Auswahl, Anordnung und Präsentation der Musiker/Gruppen. Es ging immer um neue Wirklichkeitsbezüge, Organisationsformen, thematische Beziehungen und Präsentationsformen (wo Bühnenräume und Publikumsbeweglichkeit aufgebrochen wurden), die sich, vorangetrieben von der künstlerischen Leiterin Nadin Deventer, im Zuge des Programmierungs- und Planungsprozesses herausschälen. Ein wichtiges Element unter ihrer Ägide sind Teamgeist und die frühe Beteiligung von Musikern bei der Programmgestaltung.
Und realisierbar müssen alle wilden Ideen und kühnen Vorstellungen dann auch noch gemacht werden. Beispiele demnächst mal in einem weiteren Beitrag. Kurzum, es ist weit mehr als das Auswählen und Verteilen/Anordnen von tollen, vorwärtspreschenden, provokanten, mitreissenden etc Acts. Weiteres dazu in einem Gespräch mit Nadin Deventer HIER.
Tiefenblick in regionale kulturelle Räume
Die Ausgabe dieses Jahres blickt, getriggerd durch den Krieg, weiter und tiefer in Kulturen des osteuropäischen Raum. Dabei geht es auch um die Beziehung von bodenständigen, indigenen Musiktraditionen und Jazz im weiteren Sinne. Anknüpfungen an solche finden sich im Programm nicht nur in der osteuropäischen Blickrichtung. Äthiopien, Südafrika oder Brasilien finden ebenso Eingang und Anklang.
Aus der Tiefe der Zeit, Querverbindungen, Überlagerungen
Diese Ausgabe blickt auch zurück auf die wilden Zeiten der Herausbildung eigenständiger europäischer Spielarten und Linien, die sich von da aus in die Gegenwart ziehen. An bestimmten Knotenpunkten laufen beide Linien zusammen, etwa in der jüngeren offenen Improvisationsgruppe Die Hochstapler oder dem Veteranentrio von Peter Brötzmann, Hamid Drake und dem marokkanischen Guimbrispieler Majid Bekkas. Hamid Drake ist eine wichtige Verbindungsfigur zwischen US-amerikanischem Jazz, orientalischerMusik und Free Jazz.
Solche Mehrseitigkeit findet sich bei einer ganzen Reihe von teilnehmenden Musikern. Sie spielen in unterschiedlichen Feldern, nehmen aber auch immer etwas aus dem jeweils anderen Feld (bei)m Spielen mit. Hamid Drake steht mit seiner eigenen Gruppe TURIYA am ersten Abend auf der Hauptbühne, die sich dem musikalischen Erbe von Alice Coltrane widmet. Hier wirken musikalische Kräfte wie Punkt-Oberhaupt Jan Bang oder die französisch-syrische Flötistin Naïsam Jalal mit.
Kompussula
Eine Keimzelle bildet das KOMПOUSSULĂ-Projekt, in dem MusikerInnen mit ukrainischem, polnischen, rumänischem, türkischem, französischem und belgischem Hintergrund mitwirken und von wo aus es weiter ausstrahlt in den Schwarzmeerraum, nach Armenien, Transsylvanien, Bulgarien und Italien.
Kateryna Ziabliuk piano, prepared piano, vocals
Samuel Hall drums, electronic, percussions
Maryana Golovchenko vocals
Louis Laurain trumpet, cornet
Pierre Borel alto saxophone
Olga Kozieł vocals, traditional polish percussions
Sébastien Beliah double bass
Sanem Kalfa vocals
Joachim Badenhorst clarinet, live electronics
George Dumitriu acoustic & electric guitars, viola, effects
Hier ist die Perspektive teilweise eine andere als oft in Jazz, der östliche Elemente inkorporiert. Musiker ‘östlicher Herkunft’, die in westlichen Metropolen durch die Kreativschule von Jazz gegangen sind, greifen von dort aus ihr indigenes musikalisches Erbe auf.
Das KOMПOUSSULĂ-Projekt ist am Samstagabend (5.November) zudem eingebettet, gesandwiched, in einem südafrikanischem Teil “Dialectic Soul” von Schlagzeuger Asher Gamedze und einem neuen Teil “Memphis” von Matana Roberts’ afro-amerikanischem Epos “Coin Coin”. Dies ist eben mehr als die Aufeinanderfolge verschiedener interessanter Gruppen.
KOMПOUSSULĂ ist ein Beispiel für die Kooperation mit Musikern, zu denen aus früheren Jahren etwa das Berliner KIM Collective, das T(R)OPIC Projekt von Julien Desprez’ CoCo/Rob Mazurek’s São Paulo Underground, die sechsstündige Totalmusik von Anthony Braxton’s SONIC GENOME, das CAIRO Projekt und einige mehr gehörten. Man muss wohl lange suchen, um ein Jazzfestival von dieser inszenatorischen Macht zu finden.
Reiche Wechselbeziehungen freilegen
Dabei ergeben sich auch innerhalb dieses Raumes interessante Wechselbeziehungen. Etwa in dem Teil SHADOWS OF FORGOTTEN ANCESTORS, in dem Maryana Golovchenko, Kateryna Ziabliuk und Anna Antypova Musik zu diesem Schlüssel-/Meisterwerk ukrainischer Filmkunst von 1964 bringen, ein Film von Sergej Parajanov (1924-1990), einem in Georgien geborenem Armenier, der in Sowjetzeiten wegen ukrainischem Nationalismus im Gefängnis landete. Es war der einzige Film in Sowjetzeiten, der nicht russisch synchronisiert wurde, sondern in der indigenen ukrainischen Sprachvariante lief (und läuft).
Parajanov, der lange in der Ukraine lebte und wirkte, ist auch der Regisseur von THE COLORS OF POMMEGRANATES (1968), einem der zehn wichtigsten Werke der Filmkunst, das bis heute vielfach ausstrahlt (ua bis in Lady Gaga Videos). THE COLORS OF POMMEGRANATES (Musik von Tigran Mansurian) bezieht sich auf Leben und Werk des armenischen Dichters und Musikers Sayat-Nova (1712-1795), das auch Eingang in das Konzert des Gurdjieff Ensembles findet.
Vom Gurdjieff Ensemble weist auch wieder eine Linie zu Bela Bartók, der in Nachfolge von Komitas und Gurdjieff in Armenien, bodenständige indigene Musik in Transsylvanien und anderen Balkanregionen bis hin Ägypten sammelte, Feldaufnahmen machte und Elemente in seinen eigenen zeitgenössischen Werken verarbeitete. Pianist Lucian Ban, Bratschist Mat Maneri und Saxophonist John Surman reimaginieren Bartóks Feldaufnahmen in ihrem Konzert in der Gedächtniskirche. Und so kann man noch mehr Linien ziehen und ihnen im Konzertbesuch folgen. Mehr dazu für Interessierte in meinem Essay im Digital Guide des Festivals.
Als Orientierung zu den Feldern und Linien siehe auch die MAP 1 oben