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2022 16 Okt

Die Prothesengöttin

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 20 Comments

 
 
TITANE (Frankreich, Belgien, 2021), Julia Ducournau
 

Ein Film mit zweifellos hohem ZQS, bepreist mit der goldenen Palme in Cannes, aufgeführt und besichtigt auf dem Filmfestival in Mannheim (das ich, in Quarantäne verbannt, nicht besuchen konnte), von einer Freundin mit den Worten „Da bumst eine Frau mit ihrem Cadillac, das ist was für Dich!“ überreicht. Aha! Nun ja …

Es ist nie schlecht zu erfahren, wie man von anderen gesehen wird. Ich nehms als Kompliment für einen relativ tabulosen Menschen mit dem Hang zum Abgründigen.

Die Überreicherin ist dieselbe Dame, die auch den ZQF erfunden hat. Das ist der „Zuschauer-Quäl-Faktor“, also der prozentuale Anteil der Zuschauer, die in der ersten Viertelstunde des Filmes das Kino verlassen unter dem Gepolter umgeworfener Stühle, falls man die überhaupt umwerfen könnte, wenn man das gerne wollte. Manchmal will man das ja. Im Fall von „Titane“ wohl ZQF > 50.

Ein bizarrer Film einer französischen Newcomer-Regisseurin, bepreist und trotzdem Gefahr laufend, in die „Trash- und Splatter-Schublade“ sortiert zu werden. Es wäre jetzt ein Leichtes, diesen Film als geschickt verschlüsselte Missbrauchsgeschichte einer Frau aufzudröseln, wenn man darauf Gusto hätte. Aber langsam wird dergleichen platt und die Ubiquität von Missbrauchsthemen in den Medien ärgert mich schon lange, es vergeht kein Fernsehabend ohne Missbrauchsinzestkrimi auf mindestens drei Sendern. Besonders zwerchfellerschütternd wird es, wenn noch mit dem Slogan „Der Film bricht mit einem Tabu, über das niemand zu sprechen wagt …“.

Seit den 90ern leben ganze Verlage von Missbrauchsliteratur und Versandhäuser von der Herstellung von Spielmaterialien wie Püppchen mit Körperöffnungen zur Diagnostik für Psychotherapeuten; die Sache nahm damals schon inflationäre Ausmasse an. Und man tat sich schwer zu differenzieren zwischen Patientinnen, die Missbrauch erlebt hatten und denen die das nur glaubten. Und den Betroffenen tut es überhaupt nicht gut, wenn ihr Leiden unter „Sex and Crime“ vermarktet und nebst Popcorn konsumiert wird, weils halt auch so spannend und für entsprechend Gestrickte sogar stimulierend ist. Und ich frage mich oft, wie es mir als Überlebende der Titanic ergangen wäre, wenn ich mir den Schinken im Kino angeschaut hätte. Oder das Geiseldrama von Gladbeck, oder der Todesbus von Trudering – aber das ist jetzt eine andere Geschichte.

Um den Subtext eines Filmes zu erfassen, genügt es, das eigene Gefühlsleben zu beobachten, demnach zerfällt der Film in zwei Teile. Die junge Alexia trägt seit einer Autofahrt als Kind mit ihrem feindselig wirkenden Vater, der cholerisch einen Unfall verursachte, Titanplatten im Kopf. Diese verändern ihre Persönlichkeit, sie fühlt sich zu metallischen Objekten erotisch hingezogen, hat Sex auf und mit Autos, liebt Bondage, verdient ihren Lebensunterhalt mit Tabledance auf Auto-Shows und räkelt sich lustvoll auf Motorhauben, Fetischisierung der Technik, Fetischisierung des weiblichen Körpers. Das Ding, das sie fast getötet hätte, verschafft ihr nun sexuelle Erregung.

 

 

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Und sie ist Serienmörderin: jeder, der menschlich-erotische Gefühle in ihr wachruft, wird getötet, sie scheint sich auf lebendige Menschen nicht einlassen zu können. Sie tötet auch ihre Eltern.

Anatomisch nicht ganz nachvollziehbar (aber wir befinden uns hier ja mal wieder in einer magisch-phantasmischen Welt), wird sie auch von einem Auto schwanger. Sie ist auch metallisch-hart zu sich selbst, ein Abtreibungsversuch mit einer Haarnadel misslingt, aus ihrer Vagina fliesst Motoröl.

Prothesen scheinen Menschen zu kontaminieren – ein alter Mythos, den schon Freud 1930 in seinen Abhandlungen über den „Prothesengott“ beschrieben hat, zu dieser Zeit hatte er bereits eine siebenjährige schmerzhafte Erfahrung mit seiner Kieferprothese. Die Befürchtung, dass man nach Herztransplantation ein anderer Mensch würde, da ja das Herz der Sitz der Gefühle sei, habe ich auch von ganz fortschrittlichen Menschen gelegentlich gehört.

Prothesen vermögen unser Herz oder Gehirn zu stimulieren und Blinde wieder sehen zu lassen, das Fremde ist aber nicht immer einfach in das bekannte Körperbild zu integrieren – diese Gedanken treibt der Film konsequent auf die Spitze: die Beeinflussung der Seele durch Manipulation ist eine menschliche Urangst; viele haben Angst vor Psychopharmaka, nicht mehr „sie selbst zu sein“, die Auflösung der gewohnten Identität. Das Verlernen erlernter Fähigkeiten durch Prothesen ist Fakt – wer findet ohne sein Navi noch nach Hause? Wer weiss noch, wie man Wäsche kocht ohne Maschine? Auch das eine Entfremdung.

Alexia bemerkt, dass die Polizei nach ihr fahndet, sie schert sich die Haare ab und bricht sich selbst die Nase, um anders auszusehen, bandagiert sich Bauch und Brüste und nimmt die Identität eines Jungen an, der seit 10 Jahren vermisst ist. Ihr „Vater“- also der Vater des vermissten Jungen – den sie dann aufsucht, bemerkt die Täuschung zunächst nicht. Und hier kippt der Film, wird leise und anrührend. Der Vater, Vincent, fasst Zuneigung zu dem verstörten androgynen Wesen, ermöglicht ihr einen beruflichen Einstieg in seiner Feuerwehrtruppe und schützt sie vor ihren Machokollegen. Und durchschaut zunehmend ihre Tarnung, ohne dabei seine väterliche Zuneigung zurückzunehmen. Auch er braucht Prothesen, spritzt sich muskelaufbauende Substanzen.

 

 

 

 

Alexia verändert sich. Unter den entgeisterten Blicken der Kollegen beginnt sie auf einer Ladefläche zu tanzen (lasziv, weiblich und verführerisch) – ohne Auto, sie braucht kein stimulierendes Objekt mehr, kann autark den eigenen Körper geniessen.

Vincent erträgt die Situation nicht mehr, versucht sich in seinem Bett anzuzünden, löscht aber das Feuer wieder. Was ihn antreibt erfährt man nicht, er bleibt hier terra incognita, entzieht sich der generell alptraumhaften Logik dieses Filmes.

Bei Alexia setzen die Wehen ein, Maschinenöl fliesst aus den Brüsten, aus der aufreissenden Bauchdecke, sie stirbt bei der Geburt eines Wesens, von dem man nur den Rücken sieht, die durchschimmernden Rückenwirbel sind aus Metall. Vincent hat ihr bei der Entbindung geholfen, nabelt das Baby ab und hält es liebevoll im Arm. Damit kehrt der Film zurück in einem Gegenbild zur Anfangsszene, als Alexia als kleines Mädchen im Auto sitzt und von ihrem Vater angeschrien wird.

Somit bleibt der Eindruck eines kunstvoll verrätselten Filmes über die Entfremdung einer Frau von ihrem Körper und ihren ursprünglichen Empfindungen, die auch durch bedingungslose Liebe nicht mehr geheilt werden kann.

 

 

 

 

Die Regisseurin vermeidet geschickt die Festlegung auf ein bestimmtes Trauma und löst auch das bekannte Täter-Opfer-Pairing auf, indem sie Alexia selbst Täterin sein lässt – erst in der Umwandlung zum Jungen wird sie anrührend, bemitleidenswert und mädchenhaft. So eröffnen sich völlig neue Denk- und Fühlräume für den Zuschauer, wenn er nicht abgeschreckt nach einer Viertelstunde das Kino verlässt.

Das ist das grosse Plus des Filmes, das sollte man geniessen und weiterspinnen und begrübeln anstatt vorschnell mit Deutungen hereinzubrettern. Dann entdecken wir auch die gesellschaftliche Dimension dieses Filmes – wie verändern wir uns mit unserer übergriffigen Technik? Wie verändern sich unsere Beziehungen, und wie brutalisieren wir uns durch unsere intrusiven Medien?

Und der goldene Wedel aus Cannes scheint mir durchaus verdient.

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20 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Offenbar ein Film für die ganze Familie.

    Kann man als dvd, blu ray bekommen, und bei amazon prime leihen.

  2. Ursula Mayr:

    Kann ich Dir auch schicken!

  3. Lajla:

    Mir ist bisschen mulmig zumute, wenn solche Vorlagen intendieren, Erkenntnisse über den Menschen abgeben zu können.

    Anyway, ich bin Autofan. Bei einem heiteren Parallellesen – Michael, wie hieß das Buch nochmal? – machte ich mir die Mühe, alle amerikanischen Automodelle zu fotografieren und meiner Interpretation hinzuzufügen. Mich faszinieren Autos als ästhetische Objekte.

  4. Ursula Mayr:

    Jedes Kunstwerk – ich nehme an das meinst Du mit Vorlagen? – gibt vor, Erkenntnisse über den Menschen abzugeben, insofern es von Menschen handelt. Und meistens tut es das auch.

    Oder willst Du die Erkenntnisgewinnung über den Menschen ganz den Naturwissenschaften überlassen?

  5. Michael Engelbrecht:

    Alles, was als Erweiterung des Egos erlebt werden kann, kann Erkenntnisse über menschliches Verhalten und psychische Hinter- und Abgründe liefern.

    Das Auto ist allzugerne ein Objekt vorzugsweise männlicher Ich-Erweiterung. Sog. sexy ladies, die ich ans Autoblech oder -aluminium räkeln, gähhhnnnm, sind immer noch im Repertoire der Werbung.

    Solche Subjekt-Objekt-Verschränkungen subversiv zu nutzen, auch darum scheint es TITANE zu gehen. Ich denke da auch an Filme von David Cronenberg, wie VIDEODROME oder CRASH.

  6. Ursula Mayr:

    Die Regisseurin orientiert sich sehr stark an Cronenberg – nach eigenen Angaben.

  7. Michael Engelbrecht:

    Als Gegengift bei so viel Unheimlichkeit empfehle ich Walt Disneys Herbie-Filme. Aber auch da gings recht seltsam zu, ich zitiere Wiki:

    „Wie man erst in der fünften Verfilmung von 1997 erfährt, wurde Herbie 1963 von dem deutschen Mechaniker Dr. Stumpfel gebaut, der den Wagen für die Amerikaner konstruierte. Seine übernatürlichen Kräfte erhielt er durch Zufall, als eine gerahmte Fotografie von Stumpfels Ehefrau in die noch flüssige Metalllegierung geriet.“

  8. Ursula Mayr:

    Das macht Sinn!
    Funktioniert das auch bei Kartoffelsuppe?

  9. Michael Engelbrecht:

    Bei Kartoffelsuppe, und der DNA eines Blogs. Stell dir vor, unser Blog würde, echt trashig, gefüttert mit dem Konterfei von Johann Sebastian😂 (insider joke)

  10. Ursula Mayr:

    Ich dachte, das wäre schon passiert?
    Wurde gerade korrigiert: Der ZQF ist die Anzahl der Minuten nach Filmbeginn bei denen man auf die Uhr schaut.
    Dass die Wissenschaftler einfach nicht mal bei einer Theorie bleiben können…

  11. Michael Engelbrecht:

    ZQO: ich habe ca.50 mal auf die Uhr geschaut, als ich einst einer Aufführung der Aida beiwohnte. Horror. Die SängerInnen klangen alle so, als hätten sie einen Stock anstelle eines Rückgrats.

    Aber Ernst beiseite, TITANE ausgeliehen. Wird daheim geguckt anstelle eines Tatorts mit den Münsteranern.

  12. Ursula Mayr:

    Ja, da war ich auch drin. Und in der Walküre.
    Aber ich sag nix. Kein Bock auf ne Dusche E605. Insiderwitz!

  13. Lajla:

    1. Nee: Ich meinte diese Filmbesprechung
    2. Nee: claro die Philosophie
    Outsider joke: Bach is bright and gorgeous

  14. Ursula Mayr:

    Filmbesprechungen haben auch nicht den Anspruch, etwas über den Menschen mitzuteilen, sondern über den Film. Nachdem der Film aber von einem Menschen gemacht wurde, teilt er natürlich etwas über den Menschen mit, über dessen Sicht der Welt und seinen speziellen Themen. Vom Menschen kommste nicht weg und das Drehbuch hat vermutlich auch kein Pferd geschrieben.

    Und was lernen wir aus der Philosophie über den Menschen? Der Mensch ist eine fensterlose Monade, klasse – die Frau ist dem Mann geistig untergeordnet, klasse – der Mensch ist zur ewigen Freiheit verdammt als gäbs keine inneren Begrenzungen – klasse. Marx ist strenggenommen kein Philosoph, aber hielt den Menschen für fähig einen guten Sozialismus zu leben, klasse.
    Gerne noch weitere Beispiele.

    Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich schätze Philosophie als Denkschule, das räumt das Gehirn auf und trainiert es. Moralische Handlungsanweisungen schaden durchaus nicht und die Existenzphilosophie macht sogar Spass. Aber es ist auch ein Sammelsurium der grössten Irrtümer der Menschheit in der Theorie über den Menschen und die meisten Philosophen hockten in ihren Elfenbeintürmen und dachten wie der Mensch sein könnte.

    Freud – natürlich auch kein Philosoph – verzweifelte in dem Aufschrei: Was will das Weib? Anstatt einfach seine Frau zu fragen oder eine seiner Töchter, aber die hatten ja in der Küche zu tun und durften da eh nicht raus. Ich fürchte, bei unseren deutschen Philosophen wars da nicht anders.

    Und gegen Bach hab ich gar nix, er sagt mir nur nicht viel. Vielleicht hat ihn mir auch nur niemand richtig erklärt. Andererseits … wenn man schon eine Erklärung braucht, lässt mans doch besser gleich. Das ist noch lange keine Wertung.

  15. Michael Engelbrecht:

    Wenn man Bach halt als Fetisch hat (kommt vor, als Teil einer Ich-Erweiterung, die wenig mit Mystik und mehr mit Neuerosenlehre zu schaffen hat), wird es leicht genauso ungesund wie wenn man einen Cadillac vögelt, also in einer libidinösen Bindung an einen chromblitzendes Automobil verharrt.

    „Bitte singet die Kantate,
    Nehmt den Rosenkranz zur Hand,
    Schreibet fröhliche Traktate,
    Lasst klingen eure Liebe übers Land!“

    😂

  16. Ursula Mayr:

    Und zur Philosophie sagst Du nix, alter Blasphemiker?

    Schliesslich haben wirs studiert … meistenteils Nietzsche wg Prof. Rombach, da blieb einem nix anderes übrig. Aber der sah wenigstens gut aus – der Rombach, nicht der Nietzsche. Wobei ich letzteren weniger für einen Philosophen und mehr für einen Utopisten und Ideologen halte. Also nimm endlich die Füsse aus der Ägäis, auch wenns schwerfällt und sag was!

  17. Michael Engelbrecht:

    Die Füsse bleiben im Mittelmeer, Madame.
    Am besten philosophiert man nur in offenen Räumen.
    Das verknöchterte Denken findet sich in jeder Schule.
    „Keep everything anti-dogmatic“
    (dann kann auch Philosophie sinnlich werden,
    in den Alltag fliessen)

  18. Jörg R.:

    Klasse Diskussion! 😊

  19. Lajla:

    Hier fand auf dem Dorfplatz ein dreitägiges Filmfest statt. Es wurden neuere Kurzfilme über Kuba gezeigt. Über die Armut und über die Gewalt gegenüber Frauen, aber auch Männern. Ich schweifte immer wieder ab zu den erleuchteten Fenstern links und rechts von der Leinwand und fragte mich, was wohl hinter den Vorhängen ablief. Das Leben ist doch das Spannendste. Und die Erkenntnistheoretiker (Adorno) glaubten, jeder ist seines Glückes Schmied. Ich glaube eher, jeder kann einen Film machen.

  20. Ursula Mayr:

    Wer mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde hat leicht schmieden, ja. Und sicher kann jeder einen Film machen, manche könnens sogar gut. Wobei das eine mit dem anderen nichts zu tun hat.

    Adorno hat sich nie die Klavier -Fingerchen dreckig gemacht. Sartre schon, der ging mit den Arbeitern auf die Strasse, schrieb für die Cause de peuple und ging in die Gefängnisse der RAF. Leider hat ihn seine ganze Denkarbeit und das Reflektieren über die Freiheit des Menschen nicht daran gehindert an seiner Sucht vorzeitig zu versterben.

    Der Körper zeigt uns zuletzt eben doch, wo die Grenzen der menschlichen Freiheit sind und den hatte er überhaupt nicht im Griff. Der Bursche war genial und ist mir sehr sympathisch, aber ich seh mir auch den Umgang mit dem eigenen Leben an – und dann wird vieles nicht mehr so glaubwürdig. Auch Philosophen sollten mal den Keller aufräumen.


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