TITANE (Frankreich, Belgien, 2021), Julia Ducournau
Ein Film mit zweifellos hohem ZQS, bepreist mit der goldenen Palme in Cannes, aufgeführt und besichtigt auf dem Filmfestival in Mannheim (das ich, in Quarantäne verbannt, nicht besuchen konnte), von einer Freundin mit den Worten „Da bumst eine Frau mit ihrem Cadillac, das ist was für Dich!“ überreicht. Aha! Nun ja …
Es ist nie schlecht zu erfahren, wie man von anderen gesehen wird. Ich nehms als Kompliment für einen relativ tabulosen Menschen mit dem Hang zum Abgründigen.
Die Überreicherin ist dieselbe Dame, die auch den ZQF erfunden hat. Das ist der „Zuschauer-Quäl-Faktor“, also der prozentuale Anteil der Zuschauer, die in der ersten Viertelstunde des Filmes das Kino verlassen unter dem Gepolter umgeworfener Stühle, falls man die überhaupt umwerfen könnte, wenn man das gerne wollte. Manchmal will man das ja. Im Fall von „Titane“ wohl ZQF > 50.
Ein bizarrer Film einer französischen Newcomer-Regisseurin, bepreist und trotzdem Gefahr laufend, in die „Trash- und Splatter-Schublade“ sortiert zu werden. Es wäre jetzt ein Leichtes, diesen Film als geschickt verschlüsselte Missbrauchsgeschichte einer Frau aufzudröseln, wenn man darauf Gusto hätte. Aber langsam wird dergleichen platt und die Ubiquität von Missbrauchsthemen in den Medien ärgert mich schon lange, es vergeht kein Fernsehabend ohne Missbrauchsinzestkrimi auf mindestens drei Sendern. Besonders zwerchfellerschütternd wird es, wenn noch mit dem Slogan „Der Film bricht mit einem Tabu, über das niemand zu sprechen wagt …“.
Seit den 90ern leben ganze Verlage von Missbrauchsliteratur und Versandhäuser von der Herstellung von Spielmaterialien wie Püppchen mit Körperöffnungen zur Diagnostik für Psychotherapeuten; die Sache nahm damals schon inflationäre Ausmasse an. Und man tat sich schwer zu differenzieren zwischen Patientinnen, die Missbrauch erlebt hatten und denen die das nur glaubten. Und den Betroffenen tut es überhaupt nicht gut, wenn ihr Leiden unter „Sex and Crime“ vermarktet und nebst Popcorn konsumiert wird, weils halt auch so spannend und für entsprechend Gestrickte sogar stimulierend ist. Und ich frage mich oft, wie es mir als Überlebende der Titanic ergangen wäre, wenn ich mir den Schinken im Kino angeschaut hätte. Oder das Geiseldrama von Gladbeck, oder der Todesbus von Trudering – aber das ist jetzt eine andere Geschichte.
Um den Subtext eines Filmes zu erfassen, genügt es, das eigene Gefühlsleben zu beobachten, demnach zerfällt der Film in zwei Teile. Die junge Alexia trägt seit einer Autofahrt als Kind mit ihrem feindselig wirkenden Vater, der cholerisch einen Unfall verursachte, Titanplatten im Kopf. Diese verändern ihre Persönlichkeit, sie fühlt sich zu metallischen Objekten erotisch hingezogen, hat Sex auf und mit Autos, liebt Bondage, verdient ihren Lebensunterhalt mit Tabledance auf Auto-Shows und räkelt sich lustvoll auf Motorhauben, Fetischisierung der Technik, Fetischisierung des weiblichen Körpers. Das Ding, das sie fast getötet hätte, verschafft ihr nun sexuelle Erregung.
Und sie ist Serienmörderin: jeder, der menschlich-erotische Gefühle in ihr wachruft, wird getötet, sie scheint sich auf lebendige Menschen nicht einlassen zu können. Sie tötet auch ihre Eltern.
Anatomisch nicht ganz nachvollziehbar (aber wir befinden uns hier ja mal wieder in einer magisch-phantasmischen Welt), wird sie auch von einem Auto schwanger. Sie ist auch metallisch-hart zu sich selbst, ein Abtreibungsversuch mit einer Haarnadel misslingt, aus ihrer Vagina fliesst Motoröl.
Prothesen scheinen Menschen zu kontaminieren – ein alter Mythos, den schon Freud 1930 in seinen Abhandlungen über den „Prothesengott“ beschrieben hat, zu dieser Zeit hatte er bereits eine siebenjährige schmerzhafte Erfahrung mit seiner Kieferprothese. Die Befürchtung, dass man nach Herztransplantation ein anderer Mensch würde, da ja das Herz der Sitz der Gefühle sei, habe ich auch von ganz fortschrittlichen Menschen gelegentlich gehört.
Prothesen vermögen unser Herz oder Gehirn zu stimulieren und Blinde wieder sehen zu lassen, das Fremde ist aber nicht immer einfach in das bekannte Körperbild zu integrieren – diese Gedanken treibt der Film konsequent auf die Spitze: die Beeinflussung der Seele durch Manipulation ist eine menschliche Urangst; viele haben Angst vor Psychopharmaka, nicht mehr „sie selbst zu sein“, die Auflösung der gewohnten Identität. Das Verlernen erlernter Fähigkeiten durch Prothesen ist Fakt – wer findet ohne sein Navi noch nach Hause? Wer weiss noch, wie man Wäsche kocht ohne Maschine? Auch das eine Entfremdung.
Alexia bemerkt, dass die Polizei nach ihr fahndet, sie schert sich die Haare ab und bricht sich selbst die Nase, um anders auszusehen, bandagiert sich Bauch und Brüste und nimmt die Identität eines Jungen an, der seit 10 Jahren vermisst ist. Ihr „Vater“- also der Vater des vermissten Jungen – den sie dann aufsucht, bemerkt die Täuschung zunächst nicht. Und hier kippt der Film, wird leise und anrührend. Der Vater, Vincent, fasst Zuneigung zu dem verstörten androgynen Wesen, ermöglicht ihr einen beruflichen Einstieg in seiner Feuerwehrtruppe und schützt sie vor ihren Machokollegen. Und durchschaut zunehmend ihre Tarnung, ohne dabei seine väterliche Zuneigung zurückzunehmen. Auch er braucht Prothesen, spritzt sich muskelaufbauende Substanzen.
Alexia verändert sich. Unter den entgeisterten Blicken der Kollegen beginnt sie auf einer Ladefläche zu tanzen (lasziv, weiblich und verführerisch) – ohne Auto, sie braucht kein stimulierendes Objekt mehr, kann autark den eigenen Körper geniessen.
Vincent erträgt die Situation nicht mehr, versucht sich in seinem Bett anzuzünden, löscht aber das Feuer wieder. Was ihn antreibt erfährt man nicht, er bleibt hier terra incognita, entzieht sich der generell alptraumhaften Logik dieses Filmes.
Bei Alexia setzen die Wehen ein, Maschinenöl fliesst aus den Brüsten, aus der aufreissenden Bauchdecke, sie stirbt bei der Geburt eines Wesens, von dem man nur den Rücken sieht, die durchschimmernden Rückenwirbel sind aus Metall. Vincent hat ihr bei der Entbindung geholfen, nabelt das Baby ab und hält es liebevoll im Arm. Damit kehrt der Film zurück in einem Gegenbild zur Anfangsszene, als Alexia als kleines Mädchen im Auto sitzt und von ihrem Vater angeschrien wird.
Somit bleibt der Eindruck eines kunstvoll verrätselten Filmes über die Entfremdung einer Frau von ihrem Körper und ihren ursprünglichen Empfindungen, die auch durch bedingungslose Liebe nicht mehr geheilt werden kann.
Die Regisseurin vermeidet geschickt die Festlegung auf ein bestimmtes Trauma und löst auch das bekannte Täter-Opfer-Pairing auf, indem sie Alexia selbst Täterin sein lässt – erst in der Umwandlung zum Jungen wird sie anrührend, bemitleidenswert und mädchenhaft. So eröffnen sich völlig neue Denk- und Fühlräume für den Zuschauer, wenn er nicht abgeschreckt nach einer Viertelstunde das Kino verlässt.
Das ist das grosse Plus des Filmes, das sollte man geniessen und weiterspinnen und begrübeln anstatt vorschnell mit Deutungen hereinzubrettern. Dann entdecken wir auch die gesellschaftliche Dimension dieses Filmes – wie verändern wir uns mit unserer übergriffigen Technik? Wie verändern sich unsere Beziehungen, und wie brutalisieren wir uns durch unsere intrusiven Medien?
Und der goldene Wedel aus Cannes scheint mir durchaus verdient.