Damals waren die auffindbaren Filmkritiken noch nicht inflationär. Und ich gewöhnte mir rasch an, das, was ich über Filme meiner Lieblinge fand, im Vorfeld des Sehend nicht Wort für Wort aufzusaugen, ich huschte nur über einzelne Zeilen der Filmkritiken, die mir in der SZ begegneten, oder am Aushang des City-Kinos. Da stand dann zu lesen, was vorher mit der Schere ausgeschnitten oder fotokopiert wurde. Peter Buchka über Wenders, unvergesslich. Doch niemand sollte mir die Stories aufbereiten. Nie wollte ich der Erfüllungsgehilfe der Wahrnehmung eines anderen werden. Und ich versuchte, Diskusionen über Filme zu vermeiden, deren Abspann gerade vorüber, und deren Bilder noch auf der Netzhaut brannten.
Jacques Rivette zum Beispiel. Als Teenager waren die Filme von Claude Chabrol und Francois Truffaut heisser Stoff für mich: Chabrol liess die Fassaden des Bürgertums bröckeln, und Truffaut irrte mit Jean Pierre Leaud durch endlose Wirrungen des Eros. Früh in der Studentenzeit wurde aber Jacques Rivette mein ganz persönlcher „Held“ unter den Regisseuren der Nouvelle Vague. Er improvisierte mit seinen Darstellern in einem Paris fernab des kämpferischen Zeitgeists. Liebe, Verschwörung und andere Rätsel wurden zwar selten gelöst, doch stets in eine besondere Aura getaucht: die wunderbaren Hauptdarstellerinnen von „Celine und Julie fahren Boot“ bewegten sich voller Anmut, gleichzeitig im Stolperschritt, durch ihre Stadt: Alltag als Improvisation mit kleinen Geheimnissen. Die Waffe der Rivette’schen Figuren war die Phantasie. John Surman und Barre Phillips spielen in einem anderen Werk (Merry-Go-Round) ihre Filmmusik vor der laufenden Kamera, statt sie später zu laufenden Bildern zu erfinden. Zu den Schlangenlinien des Surman’schen Saxofons huschten die Protagonisten anders durchs Bild, die Musik empfahl ein leicht verändertes Gehen, das mitunter einem Tanz nahe kam. Schon damals war immer von diesem opus magnum zu hören, dass kein Normalsterblicher je zu Gesicht bekommen hatte. „Out 1 – Noli me tangere“ ist 13 Stunden lang. Jede Menge sympathische Verrückte, freies Theater, ein Hauch von Balzac nach dem Mai 68, und eine liebevoll-verrückte Hommage an die „Stadt der Liebe“, selten war ein Blick auf den Alltag und seine kleinen Mysterien so reich an Verzweigungen, so nah an permanenter Träumerei! Julio Cortazar sah sich einst im Quartier Latin jeden Rivette-Film an, der in den Kinos anlief. Und wie fühlte es sich an, sich damals an der Seine rumzutreiben? Man höre dazu Robert Wyatts Lied „Old Europe“. Ich nehme an, meine Beziehung zu Rivettes Filmen hat sich leicht gewandelt, obowohl ich noch vor Jahren in den Bann der „schönen Querulantin“ geriet, die 4-Stunden-Version natürlich. Alle Erinnerungen sind positiv aufgeladen, wir hatten unsere Zeit. Nicht wahr!? Oder fahren Celine und Julie immer noch Boot, und ich bin ein wenig in Bulle Ogier verliebt? Es sind die späten Siebziger Jahre in Würzburg, was und wann sonst, und ich lege eine schon ziemlich abgespielte Platte von Ralph Towner auf, „Diary“.