Bei ECM sind in diesem Sommer und Herbst nicht wenige ungewöhnliche Neuveröffentlichungen im Angebot, darunter freilich auch neue Alben und Projekte von einigen zuverlässig erstklassigen Komponisten und Interpret(inn)en, die seit langem zum kreativen Stamm des Labels gehören – wie etwa die neuen, sehr zeitgemäßen Werke von Heiner Goebbels (A House of Call) oder Valentin Silvestrov (Maidan) sowie Carolin Widmanns neues, famos zusammengestellte Solo-CD L’Aurore. Gerade habe ich ein paar der Frühjahr-Erscheinungen nachgekauft; die Suiten Return from the Stars (Mark Tuner Quartet) und Naked Truth (Avishai Cohen Quartet) kommen als Vinyl-Ausgaben ganz besonders schön – erstere 65 ausladend spannende Minuten, letztere sehr dichte 35 Minuten, die sich nicht sofort erschließen; und auch die LP-Hüllen mit den Fotografien von Thomas Wunsch und Juan Hitters gefallen mir in dieser Größe besonders gut.
Das alle anderen in den Schatten stellende Werk ist allerdings Paul Gigers ars moriendi. Was für eine Platte! Gigers (wenige) bisherige ECM-Alben kann man ohnehin durchweg nicht hoch genug schätzen – jedes öffnet eine eigenes (Klang-)Welt; ars moriendi scheint mir vieles davon wieder aufzugreifen, kompositorische Spuren, Einflüsse aus anderen kulturellen und musikalischen Universen, Streichensembles, Gesang, seine Liebe für Bach, die Einladung in die Stille (Towards Silence) und zur inneren Einkehr – oder Meditation durch Musik, aber auch Berührungspunkte mit dem Tod, mit der Natur, mit anderen Künsten.
Der Großteil des Albums wurde bereits 2015 aufgenommen, erschien erst jetzt, anlässlich Gigers 70. Geburtstag im August 2022. Allein das eröffnende, 19 Minuten lange „Guggisberglied“, das Giger alleine auf der Violino d’amore aufgenommen und aus mehreren Schichten bzw. Einzelstimmen zusammensetzt, ist den Preis der CD wert. Schön auch die Fotos im Beiheft, sowie zwei Gemälde des Tiroler Malers Giovanni Segantini, von denen eines sehr der verschneiten Landschaft ähnelt, die ich Anfang Februar 2019 hoch oben in den Schweizer Bergen angetroffen habe, als ich Paul Giger und Marie-Louise Dähler auf 1000 Meter Höhe für dieses Interview/Portrait besuchte. Und wenn ich schon dabei bin: Hier auch noch ein Link zu meinem Interview/Portrait mit dem Fotografen Jan Kricke; es freut mich, dass Manfred Eicher ein tolles Foto von ihm für diese CD ausgewählt hat; Jan schickte mir im Juli erfreut einen Link dazu, als er den Hinweis auf die CD bei Amazon entdeckte.
Ob ars moriendi („Die Kunst des Sterbens“) Gigers bestes Album ist…? Schwer zu sagen – bei der „Konkurrenz“. Auf jeden Fall ist es – neben Ruins and Remains – mein ECM-Highlight in diesem Jahr. Und hat seinen Platz in meiner „Top 10“ sicher. Und was für ein unbeschreiblicher, fantastischer Klang!