Berlin Zentrum, Französische Strasse 33: wer würde vermuten, dass der alte viereckige Klotzbau (das ehemalige Magazin der Staatsoper Unter den Linden) eine aussergewöhnliche, einmalige ovale Konzertstätte birgt, die nach dem Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez (1925-2016) benannt ist. 2017 mit einem Konzert unter Leitung von Daniel Barenboim eingeweiht, eröffnet sie mit ihrem freischwebenden arenaartigem Raum ungeahnte Möglichkeiten raumerfüllenden Spielens und damit eng verbundenen Zuhörens in flexiblen Größenordnungen.
„One day, after we gave it to him, he sat in front of the model and just stared into it for hours“, Frank Gehry recalls Pierre Boulez’s reaction to his first impression of the hall that was to bear his name. Boulez’s enthusiasm was fuel led by the seemingly endless possibilities offered by this flexible space. Thanks to its unique architectural shape, the seating and stage areas can be set up in many different configurations. The idea of a „Salle modulable“,” or modular hall, distinguishes the Pierre Boulez Saal from other venues and gives it a special place within Berlin’s musical landscape.
Dieser aussergewöhnliche Konzertraum entstand im Zusammenspiel von Barenboim mit dem Architekten Frank Gehry und dem Akustiker Yasuhisa Toyota (verantwortlich auch für die Akustikeinrichtung der Hamburger Elbphilharmonie). Das klotzige historische Gebäude beherbergt nun in seinem umgemodelten Inneren diesen einmaligen Konzertraum und die Daniel-Barenboim-Edward-Saïd Akademie mit zugehörigem allseits bekannten West-Eastern Divan Orchester. In Materie, Gestalt und Geist ist die Stätte darauf ausgerichtet mannigfache musikalische Welten zu umfassen und zu erfassen: vertikal unterschiedliche historische Stadien der Musikentwicklung wie horizontal polykulturelle Felder in genreübergreifenden Aktivitäten. Seit 2016/2017 wird dieser Raum inspiriert durch die künstlerisch-menschlichen Ideale von Boulez in 150 Veranstaltungen pro Jahr mit ent-sprechendem Leben und Inhalt gefüllt. Dies materialisiert sich auch auf dem Gebiet von zeitgenössischer Improvisation und Jazz, das seit 2017 von Piotr Turkiewicz kuratiert wird.
Die letzten beiden Konzerte in dieser Reihe im Juni dieses Jahres, “Hand To Earth” und “Bungul” waren eine besonders gelungene Fügung einer aussergewöhnlichen musikalischen Welt mit dem ovalen Raum und seinen beiden scheinbar schwebenden Ellipsen. Die musikalische Spielfläche ist gänzlich umrandet von den sechs aufsteigenden Sitzreihen und damit nach allen Seiten offen (statt frontal wie in vielen Konzerthäusern). Im Falle dieses Konzerts waren auch die fünf bzw. sieben Musiker des Australian Art Orchestra mehr oder weniger elliptisch in der Spielfläche verteilt:
Mit der vogelgleich in der Ellipsenbahn sich bewegenden koreanischen Vokalistin Sunny Kim und der magischen Präsenz des Aboriginal Vokalisten Daniel Wilfred konnte man sich schnell in einem erfüllten und atmenden rituellen Raum fühlen und diesen, geführt durch die erzählenden Gesangslinien und umhüllt durch die sphärischen Klänge wie knispernden Geräusche, durch- kreuzen. Kurzum, es war der Raum, der klang, und alle Beteiligten in der Vibration miteinander verband und bewegte. Das reiche Zusammenspiel der sieben Musiker folgte keinem üblichen Kalkül. Es erwuchs in den gegenseitigen Erweiterungen aus einer sich auftuenden Erdenkraft und verstärkte sich sanft und stetig im allseitigen durchdringenden und erfüllenden Miteinander.
Im Monat zuvor beflügelte der Gitarrist Jakob Bro zusammen mit Cellistin Anja Lechner, Perkussionistin Marilyn Mazur und dem Trompeter Nils Petter Molvær die Möglichkeiten dieses musikalischen Raumes, um sich darüber in ein offenes Duo mit der japanischen Perkussionsmeisterin Midori Takada zu begeben. Solche Traumbegegnungen sind ein Kennzeichen dieser Reihe, die in hochkarätige Begegnungen solch bis dato nicht existierende Konfigurationen einbringt (alles im Audio Livestream gegen Gebühr (nach)zu hören). Die September-Begegnungen um den US-Amerikanischen Trompeter und Santurspieler Amir ElSaffar mussten krankheitsbedingt verschoben werden und jetzt schauen wir voraus auf Ende Oktober, wenn der höchst umtriebige Tausendsassa Alexander Hawkins (aus Oxford) seine Partner in Crime empfängt: zuerst im Duo die Vokalistin Sofia Jernberg, um dann in die Begegnung mit Flötistin Nicole Mitchell, der Cellistin Tomeka Reid, Schlagzeuger Gerry Hemingway und Turntablist/Elektroniker Matthew White einzusteigen. Das Ganze ist gleichzeitig als Auftakt Teil des Jazzfestes Berlin 2022. Das Duo Musho mit Jernberg leitet mit seiner Verarbeitung und Verwandlung äthiopischer, armenischer und schwedischer Folk Music auf einen Schwerpunkt der diesjährigen Festivalausgabe hin (Digital Guide Jazzfest Berlin 2022: Folktraditionen und Kulturtransfer in Jazz und Improvisierter Musik – ein dynamischer Prozess fortwährender Wechselwirkungen).
2023 wird die beschriebene Fährte im Pierre Boulez Saal vielversprechend weiter verfolgt: im Februar einmal mit einer Konfiguration um den Cellisten Vincent Courtois und dann mit einer höchstspannenden Begegnung der in Europa höchst selten zu sehenden Kotospielerin Mishiyo Yagi mit drei für Manafonistas bekannten Punktisten in Person von Jan Bang, Eivind Aarset und Dai Fujikura.
Die Musiker, die in der Reihe auftauchen, haben sich in anderen Konfigurationen oft bereits auf dem Breslauer Jazztopad Festival, das von Piotr Turkiewicz geleitet wird, manifestiert – und zwar eindrucksvoll kann ich dazu aus jahrelanger eigener Anschauung unumwunden bemerken. Zu sehr haften der Duo-Auftritt von Alexander Hawkins mit Esperanza Spaulding und vor allem die Konzerte mit Mishiyo Yagi noch in meiner Erinnerung. Im Programm des Pierre Boulez Saal verbindet sich das Erprobte des einstmals Risikoreichen mit dem erneut blühend Expandierenden.
©FoBo_ Sunny Kim, Daniel Wilfred; live drawing (Wroclaw 11/2017)