„Der Platz“, „Eine Frau“, „Die Scham“. Drei schmale Bücher, die mich unerwartet berühren. Ich habe sie gelesen, um das Anliegen von T, einer Seminarteilnehmerin, besser zu verstehen. Autobiographische Bezüge literarischer Texte werden meist verwischt, um sich und andere zu schützen. Man schreibt auf das Cover „Roman“, verfremdet Handlung und Figuren, wählt einen Titel, der eine Ebene der Irritation einfügt („Lügen über meine Mutter“, „153 Formen des Nichtseins“). T geht es um das, was geschehen ist, und sie erzählt mir von Annie Ernaux, deren Bücher in der Schnittstelle von Familie und Gesellschaft, Mythos und Geschichte angesiedelt sind und die in Frankreich viel gelesen und sehr geschätzt wird. Ich las erst das Buch über den Vater („La Place“, 1984), dann das über die Mutter („La Femme“, 1987) und schließlich das Buch, in dem Annie Ernaux Schicht für Schicht die Hintergründe eines Dramas beschreibt, das sich an einem Sonntag Nachmittag im Juni 1952 ereignet hat, als die Autorin zwölf Jahre alt war: Der Vater versucht, die Mutter zu töten („La honte“, 1997). Was ist das für eine Familie? Mutter und Vater stammen aus einfachen Verhältnissen, sie leben in einem kleinen Ort zwischen Rouen und Le Havre, betreiben ein Ladengeschäft und eine Kneipe. Unterlegenheit ist das Grundgefühl. Die Tochter geht auf eine katholische Privatschule und wird Lehrerin. „Ich verspreche mir nichts von der Psychoanalyse oder der Familienpsychologie“, schreibt Annie Ernaux in „Die Scham“ und in „Eine Frau“: “Mein Vorhaben ist literarischer Art, denn es geht darum, nach einer Wahrheit (…) zu suchen. (…) Gleichzeitig will ich sozusagen unterhalb dessen bleiben, was gemeinhin als Literatur gilt.“ Ernauxs Sprache ist präzise, beschreibend und bildlich. Die wenigen Sätze, in denen Ernaux etwas wertet, Zusammenhänge herstellt oder ein Resümmee zieht, wirken umso stärker. Beim Lesen schärft sich das Gespür dafür, Teil von etwas zu sein, das wir uns nicht ausgesucht haben, dem wir aber entkommen können, indem wir uns schreibend damit auseinandersetzen.