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2022 11 Sep

Das Geheimnis von „The Duke of Burgundy“ (2/3)

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 34 Comments

Wenn ich mit Ingo oder anderen aus der grossen Runde das Spiel unserer 12 Lieblingsfilme des 21. Jahrhunderts spielen würde – es wäre spannend, die Differenzen der Wahrnehmung zu erkennen. Obwohl „First Man“, „Parallel Mothers“, „1917“, „Locke“, „Lovers Rock“, „In the Mood for Love“, „It Follows“ ihre Plätze bei mir sicher hätten, „The Duke of Burgundy“ wäre die unzweifelhafte Nummer 1.

 

 

Cat’s Eyes – „Duke of Burgundy – Opening Credits“ (Official Video)

 

 

Als ich Peter Stricklands Film vor Wochen zum ungefähr siebten Mal erlebte, stellte ich etwa sehr Seltsames fest: etliche Szenen kamen mir wie noch nie gesehen, wie neu, vor, und wie kann das sein, bei einem Film, in dem ich jede Sekunde hellwach oder in Trance bin, gefesselt, bei vollen Sinnen, im perfekten flow, hin und weg und voll da!?

Ich überlegte ein wenig, und fand diese Erklärung: der Film ist, was Story, Dialog, Musik, Kamera und das Zusammenspiel dieser Elemente angeht, so reich an „Wirkungstreffern“, „Tiefenwirksamkeiten“, dass er sich in der Erinnerung nicht zu einzelnen Schlüsselszenen, „impacts“, verdichten lässt. The spell is unbroken, and cannot be classified. Der Zauber dieses Films wirkt bei mir so allumfassend, dass es keine Hierarchie der erinnerten Bilder gibt – sie bilden allesamt ein ebenmässiges Plateau der Faszination. Und daher, angesichts der Vielgestaltigkeit jeder einzelnen Szene, ist es nicht verwunderlich, dass mir so manches wie noch nie gesehen erscheint. Wenn ein Kunstwerk unaufhörlich neue Seiten, Perspektiven und Momente preisgibt, dann gibt es kaum ein grösseres Lob, oder?

Alles Weitere dann, unter anderem ein gründliches Aufräumen mit den Konnotationen von SM, BDSM, Bondage, und wieso das alles oft genug, und hier sowieso, nichts mit „Lust am Quälen“ oder „Lust am Gequältwerden“, mit irgendwelchen Krankheitswerten, Ausschlägen auf der Neurotizismusskala oder manch landläufigen Assoziationen von „Sadismus“ und „Masochismus“ zu schaffen hat (wenn der „spirit“ stimmt), im dritten und letzten Teil der „Mysterienforschung“! (Den schreibe ich auf jeden Fall noch vor Weihnachten, vielleicht in Grassau, in dem schönen Hotel, das Uschi mir empfohlen hat, mit Blick auf den Chiemsee. I look up to the hills, and, oh, I surrender.)

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34 Comments

  1. Martina Weber:

    Der Link zum official video: wundervoll, wie die Farben changieren und verschiedene Effekte hervorrufen, ebenso die „stills“, das kurze Anhalten einer Einstellung, was mich daran erinnert, dass ich sehr gern die still-Taste der Fernbedienung verwende, um kurz zu verweilen. Das schafft eine vielschichtige Atmosphäre, auch der Blick auf die ganz kleinen Lebewesen und Dinge. All das trägt dazu bei, dass Hierarchien abgebaut werden. Es erinnert mich an ein Experiment, von dem ich in dem Essayband „Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik“ (Leipzig 1990) las und das mich immer fasziniert hat:

    „Sie kennen sicher die Geschichte von jenen Psychologen, die in einem Dort im hintersten Winkel Afrikas gekommen waren, um einen kleinen Text-Film zu zeigen. Anschließend bitten sie die Zuschauer, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sie verstanden haben. Na ja, in dieser story mit den drei Personen hatte diese nur eines interessiert: das Gleiten der Schatten und die Lichter durch die Bäume. Bei uns bestimmen die Personen die Wahrnehmung. Die Augen richten sich mit Vorliebe auf Gestalten, ihr kommen und gehen, auftauchen und verschwinden.“

    Ich werde mir den Film aus der Videothek ausleihen. Also den Duke of Burgundy, nicht den Test-Film aus Afrika ;)

  2. ijb:

    „First Man“ ist in der Tat ein toller Kandidat für so eine Liste. Der Film ist völlig zu Unrecht kaum beachtet und dann auch z.T. ungerecht nachlässig besprochen worden. In der meisterhaften Beherrschung filmischer Sprache ein wahrhaft großer Film.

    Ich habe tatsächlich keine wirklich brauchbare Liste parat, was meine 12 oder 10 oder 20 Lieblingsfilme betrifft. Aber spontan wären die folgenden eine gute Auswahl fürs Kino seit 2001:

    „Mulholland Drive“ (David Lynch)
    „Le Temps du Loup“ / „Das weiße Band“ (Michael Haneke)
    „2046″ (Wong Kar-Wai)
    „Last Days“ (Gus van Sant)
    „There will be Blood“ (Paul Thomas Anderson)
    „Detroit“ / „Zero Dark Thirty“ (Kathryn Bigelow)
    „Burning“ (Lee Chang-dong)
    „The Wild Goose Lake“ (Diao Yinan)
    „Strong Island“ (Yance Ford)
    „Sicario“ (Denis Villeneuve)
    „Interstellar“ (Christopher Nolan)
    „Les Salauds“ (Claire Denis)

    Vielleicht noch „The Irishman“ von Scorsese, sein bester Film in den letzten 25 Jahren. Und „Parallel Mothers“ vielleicht auch. Keine Ahnung.

  3. ijb:

    Fürs vorige Jahrhundert hätte ich diese mehr oder weniger spontane Top 20+ anzubieten:

    „Persona“ / „Das Schweigen“ / „Wilde Erdbeeren“ (Ingmar Bergman 1966/1963/1957)
    „Le Mépris“ („Die Verachtung“, Jean-Luc Godard 1963)
    „La belle Noiseuse“ (Die schöne Querulantin“, Jacques Rivette 1991)
    „Sátántangó“ (Béla Tarr 1994)
    „The Sweet Hereafter“ (Atom Egoyan 1997)
    „Paris, Texas“ (Wim)
    „Heat“ / „The Insider“ (Michael Mann 1999)
    „Blade Runner“ (Ridley Scott 1982)
    „Das Boot“ – Director’s Cut 1998 (Wolfgang Petersen)
    „Stalker“ / „Andrej Rubljov“ (Andrej Tarkowskij)
    „Unforgiven“ (Clint Eastwood 1992)
    „Apocalypse Now“ / „The Conversation“ (Francis Ford Coppola)
    „Blue Velvet“ / „Lost Highway“ (David Lynch 1985)
    „Casino“ (Martin Scorsese 1996)
    „Die Ewigkeit und ein Tag“ (Theo Angelopoulos 1998)
    „Vertigo“ (Alfred Hitchcock 1958)

    Aber der beste Film, der in der Geschichte des Kinos gemacht wurde, ist natürlich „Il Conformista“ („Der Konformist“ aka „Der große Irrtum“) von Bernardo Bertolucci 1970.

    vielleicht ein guter Anlass, das mal in eine Ordnung zu bringen…

  4. Michael Engelbrecht:

    @ Ingo Dafür, dass du keine grosse Lust auf so eine Liste hast, eine hochspannende. Fast alle kenne ich, Mulhollamd Drive ist gesetzt in den Top 5, gute Chancen hätten auch Zero Dark Thirty und Sicario.

    @ Martina: interessant. In Therapien gebe ich manchmal einem Klienten, einer Klientin einen Film als homework, weil er etwas von dessen Situation spiegelt, aber unverbrauchte Lösungsansätze und coping strategies enthält.

    Insofern ist The Duke of Burgundy ein Film, den ich nie „objektiv“ beurteilen möchte, weil er sehr viel mit mir zu tun hat. Aber nur spiegeln wäre langweilig, er öffnet auch, und zwar die vielzitierten gates of perception. Ähnlich wie bei Lovers Rock. Diese zwei Filme sind für mich also Selbsterfahrungstrips😉 – in einer mir vertrauten Welt zeigen sie unausschöpfbaren Reichtum.

    Es ist wie in der Liebe. Du musst immer neue Facetten freilegen, sonst laufen Muster ab, die sich abnutzen. Um solche patterns dreht sich auch TDOB. Die beiden Hauptfiguren: psychisch intakt, and exploring….

    Anders gesagt: TDOB ist im Grunde ein hochromanistischer, dabei komplett unkitschiger Film, und, guten Humor hat er passagenweise auch noch. Hoppla, was für eine verräterische Selbstbeschreibung, das bin ja ich: romantisch, unkitschig, und humorvoll. Wenn das meine Analytikerin lesen würde…😂

  5. ijb:

    Dass ich keine große Lust hätte, möchte ich so allerdings nicht gesagt haben. Ich habe keine „brauchbare Liste zur Hand“ hatte ich geschrieben.

  6. ijb:

    Gerade gefunden, aktueller Beitrag beim Guardian:

    Claire Denis’s cultural highlights

    The French director on being mesmerised by the film Memoria, and her love of Tindersticks, Anne Teresa De Keersmaeker and the Mediterranean

    Auszug:

    I have been working with Tindersticks and their singer, Stuart Staples, for almost 25 years. The music is in me. When I saw their first concert in Paris, I was writing a script that was about a sister, and when they sang My Sister, for some reason I felt this is it. We know we are not obliged to work together, but doing so is always new and rich for me. The music, the beauty of Stuart’s singing and the melody, the way they play. Stuart has a way of saying things about sex and flesh that are very poetic.

  7. Michael Engelbrecht:

    Yep, da siehste mal, was man bei zu schnellem Lesen missverstehen kann.

    Claire Denis und Tindersticks wie Fellini und Rota.

  8. Ursula Mayr:

    Alles von Fellini, Almodóvar, Cocteau, Cronenberg und Carax.
    Schöne Mischung, gelle? Mit Wong Kar Wai könnt Ihr mich auch jagen…
    Der Duke of Burgundy ist sicher meisterhaft, aber ich werd mit den Darstellerinnen einfach nicht warm, da stimmt die Chemie nicht und dann greift der ganze Film nicht, wies halt so ist im Leben.Bei allem Lob für Formales. Wie gehts Dir mit der “ warmen Farbe “ , Micha?
    Mir ganz anders.
    Und nachdem ja hier deutlich wurde wieviel Zeit ich auf “ Cruising “ verwendet habe weiss jetzt jeder was meine Kragenweite ist.

  9. Michael Engelbrecht:

    Also, Uschi, mit den beiden Darstellerinnen werde ich jedesmal „warm“. Und die Chemie erleb ich als perfekt. Das sind Anmutungen, bei jedem anders.

    Deswegen interessieren mich ja auch nicht die allgemein anerkannten Filme, die objektiv wertvollsten, sondern die mit der grössten Tiefenwirkung. Und da gilt, wenn es um Bereicherungen geht, bei jedem eine andere Auswahl. Das ist gut so.

    Interessant in dieser Hinsicht: meine Lieblingsfilme des 20. Jahrhunderts: da würdeen heute etliche, zum Beispiel von Wenders ind Truffaut rausfallen, weil sie mir damals existenziell wichtig waren, aber heute distanziert lassen.

    Einen meiner 12 Lieblingsfilme des 21. Jahrhunderteüs finden wahrsxheinlich 80 Prozent der Manas totlangweilig, 24 Frames.
    Manchmal eine mood Sache, wie In The Mood for Love.😉

    Mit Ingmar Bergmann konnte man mich schon in den 70ern zu Tode langweilen, Kunst hin, Psychoanalytischer Impact her. Auch manches von Fellini: schnarch. Aber Amarcord: grandios.

  10. Ursula Mayr:

    ROMA und SATYRICON : Ein Bilderrausch. Da gehts mir wie Dir mit dem Duke. Und nicht nur wegen der knackigen Jungs. Und der bezaubernde “ Ginger und Fred“, ein grosses Alterswerk.

  11. Michael Engelbrecht:

    Ja, Ginger und Fred, ich erinnere mich, da war ich auch voll dabei, selbst in jungen Jahren.

    @ Ingo: „der beste Film, der in der Geschichte des Kinos je gemacht wurde“, da habe ich natürlich einen anderen:

    GOLDRAUSCH, von Charlie Chaplin.

  12. ijb:

    „Goldrausch“ – Hammer, ja. Aber was ist mit dem „Großen Dikator“? Ist der nicht eigentlich noch besser?

    Wim hatte ich in meiner obigen Spontan-Liste schon mal vergessen. Mindestens „Paris, Texas“ muss da genannt werden, vielleicht auch „Salz der Erde“, einer der intensivsten (Künstler-)Dokumentarfilme (und einer der einfachsten obendrein).

  13. ijb:

    PS: Das Werk von Leos Carax natürlich auch, ja. „Mauvais Sang“ ist ganz oben.

    Mit Fellini tat ich mich immer etwas schwerer als z.B. mit Pasolini.
    Mein Favorit wäre in jedem Fall „Achteinhalb“, muss auch noch in meine Zwanzigstesjahrhundertliste, neben „Stardust Memories“ natürlich.

  14. Ursula Mayr:

    Holy Motors

  15. Olaf Westfeld:

    Ich habe bis 2003 sehr intensiv, sehr viele Filme geschaut, danach aber … so normal halt. Insofern lese ich hier gerne mit und hole mir Inspirationen.
    Dementsprechend kenne ich von Carax nur einen Film, der viel Eindruck hinterlassen hat: ich sah ihn mit meiner ersten Freundin im Kino, wir waren so 16/17 und fanden „Die Liebenden von Pont Neuf“ ganz ganz herzzerreißend & schön. Wohlmöglich ist das der kitschigste Film von ihm, am nächsten am Mainstreamkino dran, wohlmöglich würde er mir heute auch nicht mehr gefallen – damals war das aber ein großartiges Erlebnis.

  16. ijb:

    Nein, „Les Amants du Point Neuf“ ist gar nicht so kitschig – und vor allem hält er der Zeit stand. Du würdest ihn heute kaum weniger wertschätzen als damals.
    Aber schau dir auch mal die anderen Filme an – die sind wirklich alle sehr unterschiedlich – und, was ich vor allem an seinem Werk schätze, sie sind alle, ausnahmslos, kompromisslos und eigenwillig wie nur sehr weniges im Autorenkino. Kitschig ist vielleicht am ehesten der letzte, „Annette“, aber das ist zugleich auch ein sehr intellektueller Film, der eine so haarsträubends Prämisse hat, dass man sich echt nur fragen kann, warum der einen dennoch berührt. (Viele allerdings fanden den Film gerade deshalb auch ärgerlich.)

  17. Olaf Westfeld:

    Annette wollte ich eigentlich im Kino sehen, hat irgendwie dann doch nicht geklappt – jetzt kommt ja die dunkle Jahreszeit, da schaue ich deutlich mehr Filme, vielleicht kommt der dann mal dran.
    „Salz der Erde“ fand ich auch sehr intensiv. Der ist inspirierend für Jugendliche.

  18. Michael Engelbrecht:

    10 very deep movie experiences in the 20th century

    – Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent
    – Die Mutter und die Hure
    – Die 39 Stufen
    – Paris,Texas
    – Die Vögel
    – Celine und Julie fahren Boot
    – Goldrausch
    – Amarcord
    – Zwei glorreiche Halunken
    – Heaven‘s Gate
    – Lohn der Angst

  19. Ursula Mayr:

    Les amants vermischt innere und äussere Realität so geschickt dass man in eine Art Trance gerät, Träume und Wunschphantasien nicht unterscheiden kann, da gehts mir wie Micha beim Duke. Das als kitschig apostrophierte furios – triumphale Ende wäre dann eher als Nahtoderfahrung zu deuten.
    Wenn man an Weihnachten im Wintermantel in die Seine plumpst hat man nämlich ganz schlechte Karten.

  20. Michael Engelbrecht:

    Ich bin in einem fernen Sommer in einem früheren Lebenin Paris mal vor eine Statue dieses berühmten Bildhauers gestolpert, in diesem berühmten Museum, ich trug eine Sonnenbrille, genau, Rodin war das, also, ich trug eine Sonnenbrille, dahinter frei laufende Tränen, Rinnsale, die schönste Frau von Holzwickede an meiner Seite, ich im totalen Liebeskummer, jede Nacht die gleichsam letzte Liebesnacht, was für eine traurige ergreifende merde, auch ganz schlechte Karten, Urtyp etc., erzähl mir was von den Liebenden von Pont Neuf…😉… ich sah dem Film 1992, als er in die Kinos kam, im Roxy in Dortmund…sehr ergreifend in meiner Erinnerung…

  21. Olaf Westfeld:

    Lohn der Angst… ich musste kurz googeln, den habe ich gesehen, als ich noch jünger war als bei „Die Liebenden…“ im elterlichen Wohnzimmer mit meinen Vater. Ich war vielleicht 12. Wohl einer der ersten Filme meines Lebens ohne happy ending. Hat mich einige schlaflose Stunden gekostet. Da gibt es doch ein Friedkin Remake von, Sorcerer?! Hab ich allerdings nicht gesehen.

  22. Michael Engelbrecht:

    In der Tat ohne Happy End und shocking.

    Zu den grossartigej Kinofilmen dieses Jahres (bluray) zählt für mich Licorice Pizza. Wer ihn gesehen hat, wir haben ihn ja besprochen, hier ein interessanter Text dazu aus Popmatters:

    https://www.popmatters.com/licorice-pizza-paul-thomas-anderson-2

    Ausschnitt:

    „Anderson ist sich der verführerischen Anziehungskraft großartiger Musik und aufregender Kamerabewegungen bewusst und bestreut daher jede Szene mit antinostalgischen Landminen wie bei Mad Men, um uns zu warnen: Macht es euch nicht zu bequem. Jede Sequenz ist geprägt von der Spannung zwischen dieser Verführung (durch Amerika, durch Männlichkeit, durch Filme, durch Popkultur) und dem ständigen Übergießen mit kaltem Wasser. Das ist die bestimmende Struktur der Geschichte und ihr emotionaler Antrieb.

    In der Eröffnungsszene von Licorice Pizza werden unsere Hauptfiguren, Alana Kane (Alana Haim) und Gary Valentine (Cooper Hoffmann), in schwungvoll ausgearbeiteten Kamerafahrten vorgestellt, in denen der unreife High-School-Mann wie ein selbstbewusster Spritzer auf die stagnierende und zappelnde Frau in ihren Zwanzigern wirkt. Die Sequenz ist mit der großartigen Stimme von Nina Simone unterlegt, und die letzte verträumte Einstellung ist perfekt auf das Ende des Songs abgestimmt.

    Aber gerade als wir denken, „was für eine tolle Aufnahme“, endet sie mit einer unhöflichen Interpunktion: einem eigentümlichen Klaps auf Alanas Hintern durch ihren Fotografenchef. Dieser schockierende Moment beendet die „romantische“ und „nostalgische“ Szene mit einem unerwartet bitteren Beigeschmack. Wie reagiert Alana darauf? Mit Empörung wie eine der richtig aufgeklärten Heldinnen von heute? Sie reagiert überhaupt nicht. Ihre Untätigkeit deutet darauf hin, dass dies schon einmal passiert ist, und sie nimmt es als Teil ihres Lebens, als Teil ihres Jobs.

    Dies ist das erste unsanfte Erwachen von Licorice Pizza: Lasst euch nicht von dieser Zeit, diesem Ort und diesen Leuten einlullen. Das ist nicht die verführerische gute Zeit, nach der es aussieht.“

  23. Ursula Mayr:

    Die schönste Frau von Holzwickede? Da gibts doch nur anerkannt schöne Frauen – muss ja ne Granate gewesen sein…
    Die Amants sind eigentlich eine Art modernes Märchen, die Prinzessin mischt sich verkleidet unter die Armen und findet dort ihren Schweinehirten und es geschehen allesamt wundersame Dinge, aber auch immer hart an der Realität gefilmt und nie in Fantasy abgleitend wie etwa bei der Welt der Amelie. Die Verunsicherung über den Realitätscharakter wird an keiner Stelle aufgelöst bis zum Ende, das ebenso märchen – wie traumhaft gestaltet, aber wohl doch zutiefst pessimistisch ist.

  24. Michael Engelbrecht:

    Jetzt erinnere ich mich noch mehr, Uschi, aufgrund deines textes, was für ein wunderbarer Film das war, den ich, wie gesagt, nur einam sah, anno 1992…

    Die schönste Frau aus Holzwickede war Sophie Marceau, und ich war Jean Pierre Leaud im seiner grössten Rolle als Liebesidiot😂

  25. Ursula Mayr:

    Das hättste gern, was?

  26. Ursula Mayr:

    Dazu der Song von Les Rita Mitsoukos “ Les Amants“ als Schlussakkord. Unbedingt nochmal gucken!

  27. Michael Engelbrecht:

    @ Uschi: das hatte ich tatsächlich. On the other side of BEFORE SUNSET:)

  28. Michael Engelbrecht:

    Und nach Truffaut und Co. nun ist eine der letzten Französischen Regielegenden von uns gegangen: Jean Luc Godard. Unvergessen mein Kinonachmittag 1973 in Münster mit WEEKEND, und ewig später die Box, in der ganz viel Godard und ECM Musik war…

    S.a. Spiegel Online:

    »Lebe gefahrvoll bis zum Schluss« hieß eine Maxime aus seinem großen Film »Außer Atem«. Auf seine Art hat sich der Regisseur und Revoluzzer Godard bis zuletzt daran gehalten.

  29. Ursula Mayr:

    WAS??

  30. Michael Engelbrecht:

    Wie WAS?
    Godard war schon über 90, da stirbt man schon mal.

  31. Ursula Mayr:

    Ja, schon. Erschrecke trotzdem immer …

  32. Michael Engelbrecht:

    In memory of La Nouvelle Vague

    Es war das alte Jahrhundert, und wir hatten sogar „Die Liebenden von Pont Neuf“ im Kino gesehen. Ich ging gerne mit Sara in französische Filme, und wenn es langweilig wurde, ging ich ganz in der Berührung ihrer Hand auf, wusste, wieder würde sich ein Gedicht von allein schreiben. Also hielt ich immer Ausschau nach Eric Rohmer-Retrospektiven, denn seine Filme waren zärtliches Dialoggesplätscher junger Liebesforscher, und tauchte mal der Eiffelturm auf, träumte ich von dem Tag, an dem wir gemeinsam unter diesem alten unendlich oft romantisierten  Monster flanieren würden, Hand in Hand, und Kuss um Kuss.

    Das passierte dann auch später, aber mit jenen tiefmelancholischen Stimmungslagen, die erotische Endspiele garantieren. Einmal in der Metro sah ich in unserem fast leeren Wagon, eine hinreissende Brünette sitzen, und wollte Sara fragen, ob wir sie für eine Nacht in unsere Suite im Hilton einladen sollten. Ich hatte ein Preisausschreiben gewonnen und somit dieses  luxuriöse, mich ansonsten kalt lassende Refugium der Reichen für drei Nächte erworben. Ich würde die Unbekannte galant zu einem Abenteuer zu dritt einladen, zumal ich mehr als ahnte, dass Sara auch offen war für lesbische Erfahrungen.

    Wir stiegen aus, und standen zu dritt auf einer Rolltreppe, und ich verwarf meine Idee. Sara hätte es als weiteren Grund gesehen, das Ende unserer Geschichte vorzuziehen. Wir gingen dennoch zu dritt in die Richtung einer Seinebrücke, und zwei Engländer passten die unbekannte Schöne ab (deren Schönheit in meiner Fantasie bereits abzublättern begann). Sie sagten ihr einen Preis, sie war also eine Käufliche, und die Zwei, von Akzent und Habitus aus der Schule Eton stammend, liessen sie dann zehn Meter hinter sich hergehen. Ein Akt absoluter Demütigung, den sie klaglos über sich ergehen liess. Allmhlich sah ich in ihr den Junkie, der nicht mehr die Kontrolle über ihre Welt besass.

    Der erste Eindruck in der Metro war blind und verhiess eine Abeneteuerhungrige, bereit, die Abenteuer der Nacht zu erkunden. Ich entwickelte eine grosse Abscheu vor den beiden Upperclass-Ärschen, aber was sollte ich tun. Es war von gespenstischer Tristesse, jeder in seiner Welt, auch meine Geschichte mit Sara hatte ihr Verfallsdatum mehr als erreicht hatte, ich war nurmehr der Narr aus dem Tarot und geisterte  durch die Stadt der Liebenden.

    Später sassen wir in Harrys Bar, die auch Hemingway einst aufsuchte, und neben Sara und mir hockten zwei Geschäftsleute. Der eine erspähte die Frau an meiner Seite, die Göttin, die Verunsicherte, die Bildungstouriatin, die Endspielteilnehmerin,  und als icn auf der Toilette war, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, bot er ihr eine immense Summe für eine Nacht an, sie stand sofort auf, gab mir einen Wink, ich zahlte, wir verschwanden, das Hotel, sie erzählte es mir, ich wollte dem Typ eine Szene hinlegen, ihn kalt kompromittieren mit meinem Schulfranzösisch, sie sagte nein, das Hotel empfing uns mit kaltem Licht, ihre Liebe war sowieso verschwunden, und heute auch ihre Lust auf den Tanz am Rande des Orgasmus, und wenn es so etwas gäbe, wäre mein Schlaf traumlos gewesen.

  33. Michael Engelbrecht:

    Zu meinen Lieblingsfilmen des 21 Jh falken mir noch ein:

    Roma (natürlich nicht der Fellini)
    Gravity
    Das Porträt einer Frau in Flammen

  34. jlg:

    “He could not live like you and me, so he decided with a great lucidity, as he had all his life, to say, ‘Now, it’s enough’”
    Jean-Luc Godard chose to end his life through assisted suicide, his lawyers have confirmed.

    https://www.nme.com/news/film/jean-luc-godard-chose-to-end-life-through-assisted-dying-lawyer-confirms-3309492


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