Vor 11 oder 12 Jahren bei der Arbeit an meinem Dokumentarfilm über Maja S. K. Ratkje hatte ich den Plan, anstelle eines konventionellen Protagonistinnen-Interviews für ein klassisches Dokumentarfilm-Voice-Over bzw. für die üblichen „Talking Head“-Zwischenschnitte durch den Film hindurch lieber ein persönliches Gespräch mit einer Musikerin oder Künstlerin aus einer anderen Generation in die Wege zu leiten, das uns dann Material für interessante und vor allem eher szenische bzw. filmische Momente anstelle reiner Informationsvermittlung geben würde. Ich schlug Maja eine norwegische Musikerin vor, die mir spannend genug als Gesprächspartnerin für einen Austausch auch zwischen Generationen und künstlerisch-musikalischen Herangehensweisen schien. Wir sprachen über diesen Ansatz, aber Maja fand meine Wahl nicht so ideal und schlug stattdessen Sidsel Endresen vor – eine Musikerin, die ebenfalls die Stimme als ihr erstes Instrument hat und die eine Generation älter ist. Auch bestünde seit langem eine Freundschaft und ein großer gegenseitiger Respekt zwischen ihnen, meinte sie.
Der Vorschlag fiel bei mir auf fruchtbaren Boden, waren doch mehrere Alben von und mit Sidsel Endresen wesentlich mit daran beteiligt gewesen, dass ich einst die für Innovationen offene norwegische Musikwelt lieben lernte. Undertow und In There. Out Here. zählen bis heute zu meinen ca. 20 bis 25 Lieblingsalben überhaupt. Sehr wenige Songwritingalben vermochten mich über viele Jahre hinweg so sehr zu fesseln.
Leider kam es damals nicht zu dieser Zusammenarbeit, was, wenn ich mich recht erinnere, im Wesentlichen damit zu tun hatte, dass Sidsels Telefon oder Mac irgendwelche Probleme hatte und wir sie nicht erreichten bzw. längere Zeit keine Antwort von ihr erhielten. So jedenfalls ihre sehr herzliche Entschuldigung, nachdem wir den Drehtag dann mit Rolf-Erik Nystrøm durchführten. (Was auch super war, vor allem spannend für mich, ein zweistündiges Gespräch zwischen befreundeten Musiker/innen auf norwegisch zu inszenieren, obwohl ich kaum mehr als einzelne Worte verstand. Nach langer Schnittarbeit bliebe allerdings letzten Endes nichts aus dieser Szene / aus diesem Gespräch im fertigen Film.) Viele Jahre behielt ich Sidsels SMS auf meinem Händi, und wir tauschten später auch ein paar E-Mails, da ich mein Interesse bekräftigte, irgendwann einmal etwas mit der Kamera mit ihr zu machen oder sie vielleicht doch noch in dem Film unterzubringen.
Über die Jahre sah ich sie natürlich hin und wieder bei PUNKT in Kristiansand, stand auch bei einem Konzert direkt neben ihr im Publikum, verpasste dann aber den Augenblick, mit ihr ins Gespräch zu kommen. (Während eines Konzerts schien mir das nicht der richtige Moment.) Ein paar Jahre später, als ich die 50-teilige ECM-Kurzfilmreihe anging, war natürlich klar, dass ich sie dabei haben wollte. Ich organisierte ein gemeinsames Gespräch zwischen ihr und den beiden Musikerinnen Vilde und Inga, die Studentinnen von ihr an der Musikhochschule in Oslo gewesen waren. (Sidsel hatte wohl dafür gesorgt, dass Vilde&Ingas selbst aufgenommenes erstes Album Makrofauna bei ECM veröffentlicht wurde.) Ich bereite dieses Gespräch mit den Beteiligten gut vor, und wir hatten, zwischen anderen Arbeitstagen mit Vilde und Inga während der Aufnahmen zu ihrem dritten Album, dessen Produktion ich mit der Kamera begleitete, einen Drehtag in Sidsels Büro in der Musikhochschule angesetzt. (Bei ihr zu Hause sei ihr privater Raum, da sei es absolut tabu zu filmen, erläuterte sie.) Doch dann schrieb sie mir spät in der Nacht vor dem Drehtermin, dass sie nicht ganz gesund sei und zu ihrem großen Bedauern leider doch absagen müsse.
Dann hatte ich fast ein Jahr später, im Rahmen eines weiteren Besuchs in Oslo, wieder einen neuen Termin mit ihr angesetzt, Mitte März 2020, um dieses ECM-Interview mit ihr alleine zu führen, wieder im Hochschulbüro. Dann wurde, corona-begründet, just am Vormittag meiner geplanten Grenzüberfahrt, von Schweden kommend, die norwegische Grenze für alle Nicht-Landesbürger geschlossen. (Ich hatte abends zuvor im Hotel bei Göteborg noch überlegt, ob ich sicherheitshalber schon um 6 Uhr weiterfahren sollte, damit ich noch vor der möglichen Grenzschließung um 9 oder 10 Uhr am Vormittag ins Land komme… aber letzten Endes stand ich dann um ca. 11 Uhr vor verschlossenen Grenztoren.)
Wir mussten unser Interview also ein weiteres Mal vertagen. Im Sommer besuchte ich Django Bates für ein ECM-Interview in Bern; dabei sprach er voller Bewunderung über die Zusammenarbeit mit Sidsel bei den beiden ECM-Alben, darüber, wie sehr ihn die Arbeit mit den leisen Norwegern damals geprägt habe und dass er seit langem gerne noch einmal ein Duoalbum mit ihr aufnehmen würde. Norwegen öffnete die Grenzen wieder im August, und dann ließ sich endlich der Gesprächstermin mit Sidsel in Oslo einrichten. Da sie aus Angst vor Corona alle Begegnungen in Innenräumen und auch die Musikhochschule konsequent mied, konnten wir uns sogar in ihrem Garten treffen – mit gebührendem Sicherheitsabstand. Es war eine überaus inspirierte und inspirierende Begegnung, die in mir noch lange nachwirkte. Offener als nahezu alle anderen Musiker/innen, die ich getroffen habe, erzählte sie von der Zusammenarbeit mit Manfred Eicher und ordnete ihr eigenes Lebenswerk zumeist sehr selbstkritisch ein; gerade mal ein oder zwei ihrer Alben ließ sie als rundum gelungen stehen, was sie als mit Ausschlag gebend dafür nannte, dass sie nur noch sehr selten ins Studio gehe (wenn überhaupt) oder CDs veröffentliche. Ein Duoalbum mit Django Bates könne sie sich allerdings sehr gut vorstellen. Ich hoffe, dass – sollte es dazu kommen – die beiden an mich denken und mich als Fotografen bei der Aufnahme genehmigen. Das editierte Gespräch aus dem August 2020 in Sidsels Garten ist (mit einem Gastauftritt von Django Bates) nach wie vor HIER zu sehen.