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2022 24 Juli

Der Westcoast-Mythos

von: Jan Reetze Filed under: Blog | TB | Tags:  | 1 Comment

„Der Westcoast-Mythos — Eine leicht verklärte Erinnerung“, so hat Ingeborg Schober eine fünfteilige Serie überschrieben, die sie 1973 in Sounds veröffentlichte, der damals amtlichen deutschen Rockmusikgazette. Die Serie beruhte auf Interviews mit Bands, vielen Platten, Lillian Roxons „Rock Encyclopedia“ und vor allem dem Besuch vor Ort: in der Bay Area zwischen Berkeley und Los Angeles.

Diese Serie liegt nun wieder vor, kompakt als ein schönes, jackentaschengerechtes Büchelchen mit knapp 160 Seiten, herausgegeben von Gabriele Werth als eine Art Nachlieferung zu ihrem Schober-Sammelband „Die Zukunft war gestern“ (2021), und deutlich interessanter als es das Cover vermuten lässt. Es enthält neben Schobers Originaltext Faksimiles der Sounds-Seiten sowie zwei leicht gekürzte Kapitel aus ihrem Buch „Tanz der Lemminge“ (1979) über die Band Amon Düül II.

Ingeborg Schober war nicht nur die erste Frau, die es im damals wie heute männerdominierten Musikjournalismus zu Ansehen brachte, sondern auch eine, die einen eigenständigen, sofort erkennbaren Ton entwickelte, und wenn man diesen Ton kennt, fühlt man sich sofort zu Hause. Dass sie es mit Fakten nicht immer allzu genau nimmt, verzeiht man gern — so macht sie etwa Marty Balin zum Kanadier oder hört aus Songtexten falsche Zeilen heraus. Man muss im Kopf behalten, dass sie damals nicht auf das Internet zurückgreifen konnte.

Ihr Blick auf die Dinge ist deutsch. Nun kann man natürlich sagen: Klar, sie ist ja Deutsche, und ihre Leser degleichen, doch führt das gelegentlich dazu, dass sie deutsche Maßstäbe an amerikanische Gepflogenheiten anlegt, was dann zu falschen Einschätzungen führt. In manchen Fällen kennt sie auch einfach Infrastrukturen nicht; sie weiß zum Beispiel offenkundig nicht, wie Platten ins amerikanische Radio gelangen. Obendrein hält sie anscheinend die Bezeichnung „Frisco“ für besonders schnittig, dabei ist Frisco eine Kleinstadt in Texas, und in SanFrancisco hört man diese Verballhornung gar nicht gern (dort spricht man, wenn es schon kurz sein muss, von „SF“ oder schlicht „the City“).

Das ist aber alles Kleinkram, über den man schnell hinwegliest. Denn Ingeborg Schober hat die Gabe, die Atmosphäre jener Jahre und Gegend einzufangen und so wiederzugeben, dass man sie fast zu spüren glaubt — wie man natürlich auch sofort die alten Platten wieder ausgräbt oder den Streamingdienst seines Vertrauens auf Herz und Nieren prüft. Denn das ist klar: Der Westcoast-Mythos beinhaltete viel mehr Musik von viel mehr Bands als wir es heute noch wissen. Grateful Dead, Creedence Clearwater Revival, Janis Joplin with Big Brother & The Holding Company, CSN & Y, Blue Cheer, Sir Douglas Quintet, It’s A Beautiful Day, die Byrds, die Turtles, Buffalo Springfield, Country Joe & The Fish und viele mehr kommen vor, und ihre damalige Bedeutung wird ebenso eingeordnet wie ihre Vielfalt. Dass die meisten davon, heute gehört, dann doch nicht mehr so recht überzeugen, kann eine überraschende Erkenntnis sein. Liest man, wie wild sich Jim Morrison auf der Bühne aufgeführt haben soll (ja, der legendäre Vorfall wird erwähnt, auch wenn niemand weiß, ob er überhaupt stattgefunden hat), dann staunt man doch, wie friedlich eigentlich die Musik der Doors war. Man ist heute ganz anderes gewohnt. Deutlich wird auch, dass nur wenige dieser Bay-Area-Bands mit der musikalischen Kompetenz von Jefferson Airplane mithalten konnten, die deswegen auch quer durch das Buch immer wieder vorkommen.

Dass die Musiker — insbesondere Grace Slick, aber auch der anderen Bands — sehr zugänglich waren, in der Regel nicht herumzickten und von Fans jederzeit angesprochen werden konnten, ist ein Phänomen, das wir bei heutigen durchgetakteten und securitygeschützen Festivals nicht mehr kennen. Das war das eigentliche San Francisco. Dass damals das politische Geschehen im Umfeld der Bay Area, der Universitäten, der Bands und Jahre dramatisch überschätzt wurde, verwundert aus heutiger Sicht nicht — wie man auch manchmal darüber staunt, dass (auch von Ingeborg) bereits mittelgroße kommerzielle Erfolge als „beginnender Ausverkauf“ angesehen wurden. Als ob die Plattenindustrie jemals ein Wohltätigkeitsverein hätte sein können und/oder wollen. Im Normalfall aber hält Ingeborg Schober einfach als Chronistin fest, dass man das so sah, widerspricht aber auch nicht. Sie schreibt als Teil der Szene, die sie beschreibt.

Man hat das Buch an zwei Abenden durch, und man freut sich, dass es das alles mal gab und dass dieser Text jetzt wieder zugänglich ist. Ingeborg, wenn sie es wüsste, würde sich riesig darüber freuen — leicht verklärt.

Ingeborg Schober:
Der Westcoast-Mythos
Eine leicht verklärte Erinnerung
Herausgegeben von Gabriele Werth
Edition kopfkiosk im Verlag Andreas Reiffer, Meine 2022
ISBN 978-3-945715-76-5; 11,50 Euro

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1 Comment

  1. Michael Engelbrecht:

    So jung war sie mal, so,strahlend ihr Lachen, ihre Stimme immerzu willkommen, als sie den Zündfunk moderierte. Einmal waren wir beim gleichen Konzert, was ich weiss, weil zwei Tage apäter in der SZ ihre Lobeshymne zu lesen war, und da waren wir einer Meinung, als Peter Gabriel in der Frankfurter Oper gastierte, 1982, glaube ich. Sein bestes oder zweitbestes Soloalbum war gerade erschienen: 4. Mit Rhythm of the Heat. 2010, viel zu früh, ist sie gestorben. In „Frisco“ hat sie sicher eine tolle, bewegte Zeit gehabt.


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