Jedesmal, wenn ich den Philosophen Julian Nida-Rümelin im Fernsehen sehe, nicke ich wohlwollend wie einst mein Grossvater beim schwarzweiss-televisionären Anblick von Willy Brandt in der Tagesschau (Franz-Josef Strauss hingegen wurde stets mit unwirschem Kopfschütteln bedacht). Und das hat seinen Grund. Ich erinnere den Moment noch genau, als mich das surrealistisch anmutende Cover eines Buches auf dem Fenstersims in der Nordstadt-Bücherei anlachte: es zeigte einen wie eine Wolke im Himmel schwebenden Stein. Betitelt war der Band mit „Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis v. Wright“, herausgegeben von jenem Philosophen eben, der unter Schröder irgendwann Kulturminister wurde. Ich war damals inmitten der Neunziger in der glücklichen Lage, die gesamte Philosophie wie unentdecktes Neuland nach und nach auskundschaften zu dürfen, wie eine sattgrün und frisch darliegende Wiese, kein Stückweit abgegrast. Ich nahm das Buch in die Hand und fand unter den über hundert dort aufgelisteten Denkern neben dem pflichtgemässen Heidegger auch die Namen Emile Cioran und Jaques Lacan. Schonmal gut, dachte ich und nahm das Buch, das ich bis heute nicht besitze, mit nach Hause. Nun komme ich, wie der von mir geschätzte Politologe Albrecht von Lucke gerne in jeder zweiten seiner sprachmächtig verschachtelten Satzkaskaden zu sagen pflegt, „auf den entscheidenden Punkt“: in dem Buch fand nämlich eine Art „Dreisprung“ statt, indem von einem Denker zunächst persönliche Lebensverhältnisse und Werdegang eingehend vorgestellt wurden, es folgten Inhalt beziehungsweise die Kernpunkte seines Werkes und dann – jetzt kommt’s: die Rezeption, also die Art und Weise, wie sein Werk dann öffentlich angenommen und geschichtlich eingeordnet wurde. Ich las das Buch wie einen Krimi durch, wie einst in Weihnachtstagen mit heissem Kopf schon Pirsigs initiales Zenkunst- und Motorradbuch. Selbst japanische, mir völlig unbekannte Denker, bekamen dergestalt Profil. Wenn ich beispielsweise heute mich mit Verschwörungstheoretikern beschäftige und der Frage, was davon zu halten sei, dann denke ich, dass es genau daran mangelt: „Eine Rezeption findet bei euch nicht statt, ihr Banausen bleibt in einer sektiererischen Nische, wähnt euch bedeutsam allein qua Selbstermächtigung!“ Und auch die codes der Bildenden Kunst beinhalten ja unverzichtbar die Einordnung in den historischen Kontext: Kunst kommt auch von Kennen. Nicht zuletzt in den heutigen Fernsehserien kommt dieser julianische Dreisprung irgendwie zum Tragen: zunächst ist da das Werk selbst, und dann sind da die Schauspieler, das ganze Drumherum und schlussendlich folgen Betrachter, Rezensenten, Filmkritik. Sollte ich mir das Büchlein, das ich nie besass, nun doch noch kaufen, mmh? Ich werde es wohl dabei belassen, beim Anblick Nida-Rümelins weiterhin wohlwollend zustimmend mit dem Kopf zu nicken, dazu mit Billy Wilder sportlich, rhythmisch und geschmeidig bleiben: Eins, Zwei, Drei!
2 Comments
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Lajla:
Wegen solcher Texte bin ich gern auf diesem Blog.
Nida Rümelin ist ja auch Künstler. Was hat er als Kulturminister damals für die Künstler getan? Sein Aufruf, jetzt nicht die russischen Künstler zu blockieren, hat mich gefreut. Auch, dass er so optimistisch in diesen Zeiten ist, gefällt mir. Die Meisten sind ja viel zu negativ drauf. Kreativ sein, hilft immer.
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Michael Engelbrecht:
Jochen, da kommt heute eins zum andern.
Die Mail von Eckhardt, das Abschweifen in alte Zeiten, und dann deine Erwähnung von Robert Pirsigs „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“. Das Buch gehörte zu den drei wichtigsten Büchern meiner Würzburger Jahre. Ich habe es damals zweimal gelesen, und mir ein paar Dinge von „motorcycle mama“ Lydia Langhammer erklären lassen.