Mitte Juli erscheint David Mitchells Roman „Utopia Avenue“ in deutscher Übersetzung bei Rowohlt. Martin Chilton bemerkte dazu im „Independant“:
„An ambitious, rambunctious, hugely enjoyable tale . . . [it] is filled with sparkling dialogue and has stimulating things to say about creativity, mental health, the effects of domestic violence, the Vietnam War, grief, parental responsibility and what it was perhaps like to be an independent-minded female musician back in the day. Above all, Mitchell pulls off this bold attempt at a novel exploring the undefinable mysteries of music and why music has such an impact on people. — Martin Chilton ― Independent. Hierzu an dieser Stelle ein Gespräch aus dem Jahre 2020 zwischen David Mitchell und David Byrne …
Zudem erinnern wir an seinen Roman „Die Knochenuhren“, und mein Interview mit dem Autor anno 2016, eine der letzten feinen Zusammenarbeiten meinerseits mit dem „Herrn der Jukeboxen“.
Es ist schon einige Zeit her, da hat ein Lehrer aus Stuttgart ihr Buch „Der Wolkenatlas“ mit einer seiner Schulklassen behandelt, und nimmt jetzt an auch den neuen Roman „Die Knochenuhren“ mit seinen Schülern durch.
Wow! Das ist eine Weltpremiere glaube ich! Eine Weltpremiere im Klassenzimmer für „Knochenuhren“!
Seine Schüler haben mir zwei Fragen mitgegeben. Die erste: „Warum bringt er Fantasy-Stücke in sein Buch mit ein? Vielleicht, um der jungen Generation eine Geschichte der modernen Welt, mit all ihren Desastern, nahe zu bringen? Was war der Hintergedanke?“
Das war nicht die Idee dahinter. Ich habe mich gefragt, welchen Preis ich zu zahlen bereit wäre, um dem Alterungsprozess zu entkommen und unsterblich zu werden. Was wäre ich bereit zu opfern für diese Art eines faustischen Pakts? Für mich stellt der Roman meine eigene „Midlife-Crisis“-Literatur dar. Ich wollte ein Gedankenexperiment wagen: wie wäre es, wenn mein magisches Bankkonto der Lebenszeit nie erschöpft sein wüde.
Dafür brauchte ich unsterbliche Charaktere. Solche, die bereits einen solchen Pakt abgeschlossen oder ihn gar geerbt haben. Sie haben diese Unsterblichkeit, ob sie sie wollen oder nicht. Ich wollte den Tod aus der Sichtweise der Unsterblichen sehen. Da es keine Unsterblichen gibt, musste ich die Gattung des „Fantasy-Romans“ nutzen, jedoch wollte ich keinen reinen Fantasy Roman schreiben, sondern ein Buch das viele verschiedene Genres beinhaltet.
Das Buch sollte auch einen politischen Teil besitzen, dabei gibt es kaum Bücher, in denen Fantasy und Politik erfolgreich vereint wurden, eins davon zum Beispiel ist „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marquez, ein anderes „Mitternachtskinder“ von Salman Rushdie. Und das berühmte Werk von Mikail Bulgakow. Es ist also machbar, ich wollte herausfinden, ob auch ich Politik und Fantasy so vereinen könnte, dass kein Ungleichgewicht besteht.
Es war also nicht dazu gedacht, um junge Leser auf mein Buch aufmerksam zu machen; so schlau, geschickt und verschlagen bin ich nicht, aber ich habe gelernt darauf zu vertrauen, dass, Bücher die mir gefallen, oft auch anderen Menschen gefallen.
Ich fand es interessant zu sehen, dass der Anteil an Fantasy Im Verlauf des Buches langsam, aber stetig, zunimmt. Sie mussten also den Aufbau geschickt planen.
Ja, ich brauchte guten Füllstoff, um die verschiedenen Kapitel miteinander zu verknüpfen, da sie in verschiedenen Gattungen geschrieben sind. Von sozialem Realismus über Politik bis hin zu Satire und Fantasy und Dystopie. Also beschloss ich, das Buch in verschiedene Teile zu teilen, um jedem Genre einen Abschnitt zu geben.
Ich wollte zudem das Fantastische dezent einführen. Deshalb musste Hollys übernatürliche Erfahrung am Anfang des Buches aus ihrer Erinnerung gelöscht werden – sonst hätte das einen zu großen Einfluss auf ihr Leben gehabt. Erst im fünften Teil bricht die „Fantasy“ vollends durch, explodiert. Ich glaube, dass ein Buch nur dann gut wird, wenn ich als Autor Angstschweiß und Herzblut investiere.
Nun kommen wir zu Holly Sykes. Ich könnte mir vorstellen, dass es gewisse Parallelen zwischen Ihrem und Hollys Leben gibt, vor allem, da das letzte Kapitel auch noch in Ihrem Wohnort spielt.
Und Holly und ich haben dasselbe Geburtsdatum. Dass wir in der gleichen Ära aufgewachsen sind, erleichterte mir das Schreiben, da brauchte ich nicht viel recherchieren. Die Sechziger Jahre waren eine spannende Zeit, jene Generation ist wahrscheinlich die letzte, die sich noch an die Zeit ohne Internet erinnern kann. Hollys Charakter basiert auf einem Mädchen, das ich während meiner Schulzeit kennengelernt habe. Die Zeiten damals waren aufgrund vieler unterschiedlicher sozialer Schichten kompliziert. Durch diese Vielfältigkeit habe ich als Schriftsteller einen Vorteil gegenüber denen, die Privatschulen besuchten. In meiner Schulzeit bewunderte ich Mädchen wie Holly aus der Ferne. Holly sollte ursprünglich irischer sein, aber schlussendlich entschied ich mich doch dagegen. Der letzte Teil des Romans spielt in der Zukunft und katapultiert den Leser in eine komplett neue Umwelt.
Immer wieder geht es um Parallelwelten, Verstörungen des normalen Alltagsbewusstseins, bis hin zu sog. Psychosen.
Ja, wir reden über Schizophrenie. Einer meiner Freunde leidet an Schizophrenie, er ist der Sohn meines Uni-Tutors, dem ich immer noch ziemlich nahe stehe.
Ich glaube, das war vor allem früher noch verbreiteter als heute, dass die Leute, die Stimmen im Kopf hören, einfach die Gegenmedikamente bekommen. Inzwischen gibt es andere Entwicklungen, wo man diese Personen ernst nimmt, ihnen zuhört und sich in sie einfühlt. Also gibt es inzwischen Brücken von einer Welt in die andere, es gibt nicht nur die getrennten Welten der Gesunden und der Kranken.
Amen, Hallelujah! Über dieses Thema könnten wir sehr lange reden. Meine Antwort, kurz gefasst, dass es ein nutzloses und reduzierendes System ist, in Gesunde und Kranke aufzuteilen. Aber wir dürfen auch nicht glorifizieren oder romantisieren, wie schwierig es ist, mit irgendeiner Form von Abnormalität zu leben. Mit Schizophrenie kann man nur sehr schwer leben, mit Autismus genauso … selbst in einer viel abgeschwächteren Form der Sprachfehler ist es nicht leicht, das kann ich Ihnen aus erster Hand sagen.
Allerdings bringt es auch nichts, in den Krieg gegen sein eigenes Gehirn zu treten, das macht es nur noch schwerer. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich Fortschritte machte, die Auswirkungen meines Sprachfehlers, meines Stotterns, in meinem Leben zu reduzieren, war, als ich aufgehört habe, dagegen zu kämpfen, als ich aufhörte, an eine magisches Mittel zu glauben, das mich heilen könnte, als ich aufhörte, es als Krankheit zu sehen. Ich machte erst Fortschritte, als ich es als ein Teil von mir anerkannte, und lernte, dass es okay ist zu stottern. Und ich sah mein Stottern nicht mehr als Feind, sondern als etwas, was genauso das Recht hat zu existieren, dem ich Unterschlupf geben kann. Sobald ich anfing, es besser zu behandeln, behandelte es auch mich besser.
Aber im Vergleich zu Schizophrenie oder Autismus ist das nur eine kleine Sache, und ich will auch nicht so tun, als hätte ich die gleichen Hürden wie die Menschen mit Schizophrenie, also vielleicht sind es die gleichen, aber sie sind viel kleiner.
In „Die Knochenuhren“ war bei Holly die erste Reaktion auf die Stimmen in ihrem Kopf, dass es Schizophrenie sein müsse. Es muss irgendein neurologischer Fehler sein, ein extremes Merkmal, und ich hätte mit Sicherheit das Gleiche gedacht, wäre es mir passiert. Aber im fünften Teil des Romans wird gezeigt, dass diese Stimmen, unabhängig von einem Krankheitswert, Realität sind und wirklich existieren! Also ist dieser Teil vielleicht eine Art Hoffnung für Menschen mit Schizophrenie, demnach die Realität eben ein Spektrum von Graustufen ist, nicht von Schwarz und Weiß, wie es die traditionellen Modelle Hinstellen. Ich weiß, meine Antwort dreht sich ein wenig um sich selbst, aber …
Nein, nein, so kommt etwas Licht in die Sache. Ich glaube auch nicht an diesen Kontrast zwischen erfundener und realistischer Welt. Alles ist immer nur eine Version, alle erzählen Geschichten, ob das jetzt der Irak ist oder jemand mit einer psychischen Krankheit, das ist immer nur eine Version, eine Geschichte, die erzählt wird. Und mit jedem Erzählen wiederholt man nur, was man beim ersten Mal erzählt hat, man legt sich die Wahrheit zurecht, und entfernt sich leicht von der ursprünglichen Erfahrung. Und es gibt andere Realitäten als die, in der wir uns common sense-mässig befinden. Das ist meiner Meinung nach auch eines der größten Vorteile von Fantasy-Lektüre: sie öffnet Türen der Wahrnehmung. Ich meine nicht Leute auf einer Drogenreise, es ist schlicht hilfreich, offen zu sein für die „Andersheit“ der Dinge. Wenn ich als Psychotherapeut arbeite, ändere ich die Geschichten, die Wahrheit ist, überspitzt gesagt, sekundär, immer nur eine Annäherung, und meistens ein Mythos.
Ganz gewiss, und das haben Sie spannend auf den Punkt gebracht. Was, wenn Fantasy gar keine Fantasie ist? Sondern einfach nur eine andere Realität, die wir bis jetzt noch nicht getroffen haben. Überhaupt, was meinen wir eigentlich mit Realität? Ich habe ein iPhone, das vor 200 Jahren, ganz zu schweigen von der Zeit vor 800 Jahren, wie reine Magie ausgesehen hätte. Selbst die vernünftigste Antwort darauf, wie ich mit meinem iPhone einfach mit Menschen auf der anderen Seite der Welt reden kann, wäre nicht Wissenschaft, es wäre Magie gewesen für die Leute damals. Also scheint es mir unvernünftig, in unserer digitalisierten Welt eine so klare Linie zwischen Realität und Fantasie zu ziehen.
Insofern geht es in den „Knochenuhren“ auch nicht um Wahn und Wirklichkeit, sondern zm einen Pool von Realitäten. Das kann Menschen Angst machen. A propos Furcht und Erschauern: „Fear of Music“ von den Talking Heads kommt eine spezielle Bedeutung zu in dem Roman. Ein fantastisches Album, von Jonathan Lethem in einem brillianten Buch gewürdigt, als junger Mann bewohnte er diese Songs geradezu, über einen langen Zeitraum. Eines der grossen drei Talking Heads-Alben. Holly liebt es, und Sie bestimmt auch …
Ja, „Fear of Music“ ist wahnsinnig gut. Es klingt heute, 2016, fast noch besser als damals, als es herauskam. Ich habe das Album in Japan entdeckt, als ich so 26, 27 Jahre alt war. Die Musik klirrt und funkelt. David Byrnes Gitarre ist nicht schön, das versucht er auch gar nicht, sie verströmt einen sehr industriellen Klang. Aber, mein Gott – trotzdem schön!
(übersetzt von Michelle Mages & Mitra Estiry, beide Theodor-Heuss Schule Reutlingen).