Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2022 7 Jun

Das Verschwinden der Bilder hinter den Bildern

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 32 Comments

 

Eine Giraffe ist eine Giraffe ist eine Giraffe – nö, eben nicht, vor allem nicht wenn sie aus der eigenen Feder stammt. Da gibt es Diddl-Giraffen oder König-der-Löwen-Giraffen oder Madagaskar-Giraffen und die Giraffe Zarafa und Mein-Freund-die-Giraffe-Giraffen oder welche die aussehen wie ein Bambi-Hybrid. Mit Kindern zu malen oder zu modellieren hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend verändert – die Zufriedenheit mit dem eigenen Produkt ist bei Kindern, die aus der Ich-bin-Superman/woman-Phase herausgewachsen sind – also etwa Schulalter – nur noch schwer zu erlangen. Nein, die Giraffe ist nicht so wie sie sein soll! Die ist falsch! Die ist schlecht! Die muss aussehen wie in MADAGASKAR oder im KÖNIG DER LÖWEN oder sonstige prominente Giraffen. Interventionen in Richtung „Das ist ja aber jetzt DEINE Giraffe, die ist einmalig, etwas ganz Besonderes …“ fruchten wenig, es muss einem zweidimensionalen Vorbild gleichen. Und ein junger Löwe hat auszusehen wie Simba und ein Löwenpapa wie Mufasa und und … Neue Archetypen.

Im Zoo gibt es dann Überraschungen: „Ach das ist eine Giraffe? Ooch, die lacht ja gar nicht!“ In der Realität wird bei Tieren selten gegrinst .

Auf die Muttertagskarte muss dann eine Diddlmaus und nicht eine gewöhnliche Hausmaus aus dem Keller oder ein selbstgemalter Blumenstrauss. Das ist uncool! Oder die geplagte Therapeutin muss ran: „Zeichne mich mal als Sailormoon-Kriegerin mit den langen Haaren! Und dann als Sailor Saturn!“ (Googelt es nicht, Ihr wollt nicht wissen, wie die aussehen! Bestimmt nicht! Oder haltet einen Cognac bereit).

„Und jetzt malen wir mal alle Pokémon die es gibt!“ (Klar, sind ja auch nur etwa 150! Die Digimons noch gar nicht dazugerechnet!). „Du hast doch so ein Heft, da können wir abpausen!“ (Ja, habe ich, zu Fortbildungszwecken angeschafft und nicht gut genug versteckt, aaarrrgghhh!).

„Und dann malen wir die mit Fensterfarbe aus und ich tu die an mein Fenster!“ (Die Fensterfarben-Pest der Jahrtausendwende!).

Seit 1995 hängen die also an MEINEM Fenster, weil’s die Mutter nicht erlaubte, und gehen nicht wieder ab. Eine kleine Fernsehkamera, mit der ich Patientengespräche aufnehmen wollte, wurde auch entdeckt:

 

 

„Du filmst mich jetzt mal als Celine Dion, wie sie „My heart will go on“ singt.“

Es ist eine Binse, dass mit einem Überangebot an vorgefertigten an Bildern im Aussen die Aktivierung innerer Bilder zu lahmen beginnt, dass die zeichnerische Perfektion der Film- und Comic- und Merchandise-Produkte den Anspruch an Selbstgefertigtes in unerreichbare Höhen schraubt, die an das eigene Aussehen natürlich auch – auch eine Binse. Das gab’s früher auch – da wollten die Mädels aussehen wie Conny Froboess oder Manuela, die Jungs wie Peter Kraus oder Ted Herold, aber immerhin änderten wir nur die Frisuren und die Klamotten, aber wollten nicht umoperiert werden und bastelten noch Giraffen aus Kastanien, Eicheln und Streichhölzern und gingen mit gesenktem Kopf mit einer Halskette aus Kastanien herum wie ein Ackergaul unter dem Joch und fanden die toll. Zur Zeit der Hochzeit von Harry und Meghan wünschten sich viele Mädels eine Meghan-Markle-Nase und viele bekamen sie wohl auch. Dabei ist die keineswegs formvollendet, aber eben trendy.

Die Realität verschwindet hinter den Bildern – wenn’s denn noch Bilder wären, aber es werden zunehmend Stereotypien und Perseverationen – genial auf den Nenner gebracht von Andy Warhol bei der Vervielfältigung von Marylin Monroe. Bilder verselbständigen sich, werden zu Avataren und Logos, verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung und bekommen eine neue – eine 18-Jährige zeigte mir stolz ihr Che-Guevara-T-shirt, es handelte sich allerdings um Fidel Castro – wurscht! Wer das war? Auch wurscht! Ist aber geil!

Und Hitler und Goebbels sind die, die man in einem Kino in Paris eingesperrt und verbrannt hat.

Die Realität verschwindet hinter den Bildern und ihren neuen Bedeutungen. Es wird immer weniger kreiert und immer mehr kopiert. Heut heisst’s Influencing!

Soweit so – naja, so isses nun mal, man muss nicht alles werten. Aber es tut sich noch eine tiefere Ebene auf:  es wird zunehmend weniger bis gar nicht mehr geträumt – immer mehr unserer Patienten geben an, nicht mehr zu träumen, auch Ausbildungskandidaten, intelligent und differenziert und mit der Materie des Unbewussten beschäftigt, schaffen es in 300-stündigen Lehranalysen kein einziges mal zu träumen. (Die Generation der 90er, als die digitale Bilderwelt die Kinderstuben überflutete und Filmserien für 2jährige entwickelt wurden – die Teletubbies 1997. Googelt es nicht!).

Somit wäre der Königsweg zum Unbewussten versperrt und die Behandlungen erreichen nicht die regressive Tiefe, die zur Erforschung desselben und zur Modifikation nötig wäre. Die Unfähigkeit zur eigenen Bildgebung innerer Prozesse erreicht offenbar nun die tieferen und tiefsten Schichten der Persönlichkeit. Was passiert hier?

Zum Ausbilden innerer Bilder braucht es ca. 18 Lebensmonate kohärente Erfahrung mit den Objekten, bis sich stabile Imaginationen bilden. Um diese Bilder phantasmisch im kindlichen Gehirn hervorzurufen, braucht es einen Zustand des Unbefriedigtseins, des Sehnens und Begehrens und Sich-Vorstellens der kommenden Befriedigung – der freilich nicht zu lange dauern darf, um nicht realem Unbehagen durch Hunger und Angst Platz zu machen, dann zerfallen die Imagines und machen böseren Bildern Platz.

Das ist der Grund, warum Kinder ihre Mutter nach längerer Abwesenheit nicht mehr wiedererkennen – es gibt kein Bild mehr, mit die sie mit der Realität abgleichen können. So entwickelt sich Vorstellungs- und Symbolisierungsfähigkeit.

Zu rasche Bedürfnisbefriedigung verhindert diesen Prozess, Vernachlässigung auch. Eine Überflutung mit Bildern und Vorgefertigtem auch.

Der Horror vacui, unter dem die Menschheit leidet, drücken wir unseren Kindern auf – die Malen-nach-Zahlen-Generation. Mandala- Ausmalbücher sind sehr beliebt.

Früher hat ein einsamer junger Mann ein Liebesgedicht geschrieben, heute geht er tindern. Und weiss gar nicht, wieviel dabei in der eigenen Innenwelt auf der Strecke bleibt. Welche Fähigkeiten man im Zustand der Sehnsucht entwickeln kann.

Manchmal frage ich mich, ob es nicht langsam zu einem Verschwinden des Unterbewusstseins generell kommt – als Reservoir für Abgedrängtes, Tabuisiertes, Ungelöstes, Konflikthaftes, Unvereinbares, Wünschbares … das meiste ist erlaubt, nichts mehr tabuisiert, Aggressionen werden ausgelebt, für jeden Konflikt wird etwas bereitgestellt, für alles werden schnelle Lösungen zur Verfügung gestellt (schon mal „Höhle der Löwen“ gesehen, mit dem ganzen Start-up- Schwachsinn in Zeiten verknappender Ressourcen? Da wird zur Fitness nicht mehr einfach Seil gesprungen und einfach mitgezählt, wie wir Dödel das früher gemacht haben, da braucht’s Seile von verschiedenem Schweregrad für die Oberarmmuskulatur, und unter den Füssen einen Zähler und Pulsfrequenzmessung und Stolperer- Zählung und Blutdruckregistrierung).

Wünsche erfüllen sich zeitnah … welches Agens soll da noch Traumleben produzieren? Wo sollten wir noch Unerlaubtes hinstecken, wenn alles erlaubt ist? Was sollten wir noch wollen wollen?

Hier nur mal in die Kladde geredet für die, die das Problem mit der rasch herunterladbaren Giraffe für ein marginales halten.

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32 Comments

  1. Anonymous:

    Hitler und Goebbels im Kino??

  2. Ursula Mayr:

    Inglorious Basterds
    😉

  3. Anonymous:

    Aaaaaahhhh…😁

  4. Martina Weber:

    Ich denke gerade an die Giraffe meiner Kindheit: ein Stofftier, ca. 17 cm hoch, von meinem älteren Bruder übernommen. Sie schaut ganz normal übers Bücherregal, lacht nicht. Ich habe sie immer noch, obwohl sie eher eine Randfigur meiner Kindheit war.

    Was für eine treffende Anaylse. Ernüchternd und erschütternd. Scheint wie ein Teufelskreis, aus dem die Jüngeren, die in ihren Peergroups sich beweisen wollen, kaum ausbrechen können, wenn das, was unbewusste Bilder ermöglicht, uncool und unerwünscht ist. Und so ein Liebesgedicht schreibt sich auch nicht so leicht ;)

  5. Ursula Mayr:

    Schreibt sich nicht leicht, nein. Aber wenns von Herzen kommt ists immer schön.
    Und Rap – Songs schreiben können die Kids ja schon – aber die sind rauh, aggressiv, rotzig…
    Der Druck der Peers ist immens.
    Manchmal ists auch witzig:
    Eine 5 – jährige spielt friedlich bei mir in der Praxis. Vom nahen Bauernhof muht eine Kuh.
    Kommentar: Du hast abern coolen Klingelton aufm Handy!
    Ein Landkind, keine Grosstädterin.
    Ich fands lustig damals.
    Aber ist es lustig??

  6. Martina Weber:

    Finde ich nicht. Auch unter dem Aspekt nicht, dass die 5-Jährige annimmt, dass du während der Arbeit dein Handy angeschaltet hast. Wobei dieser Gedanke für ein kleines Kind natürlich zu komplex ist.

  7. Ursula Mayr:

    Die Kids sind gewöhnt dass dauernd die Erwachsenen ans Telefon rennen. Falls ich mal das Festnetz vergessen hatte abzustellen waren die völlig von den Socken wenn ich nicht ranging. Ja, warum gehste denn nicht hin?
    Weil das jetzt DEINE Stunde ist!
    Ja, sowas!!Aber Du musst doch jetzt…
    Erwachsene übrigens genauso.
    Telefon hat Vorrang gegenüber dreidimensioaler Anwesenheit.

  8. Roland K.:

    Kann ich von meinen Kindern bestätigen. Da wurden nur noch Pokemon gezeichnet.

  9. Lajla:

    Ursula, schreibst du jetzt nur über deine Klientel? Vielleicht solltest du nicht so kritisch immer alles mit der alten besseren? Zeit vergleichen. Sondern mehr das Positive der heutigen Zeit genauer kennenlernen.
    Die Teletubbies fand ich lustig.
    Es gibt ganz tolle Malware für Kids im PC.
    Die digital Nomaden, die hier auf El Hierro überwintern, haben meist Startups gegründet. Ich finde das sehr spannend.

  10. Ursula Mayr:

    Nö, nicht nur meine Klientel, auch Verwandtschaftskinder, Nachbarskinder, was man halt im Leben so trifft. Hab ich übrigens allen das Zeichnen nahegebracht, einige machens heute noch. Aber Trends sind feststellbar und Trends sollten beachtet und beschrieben werden damit man damit umgehen kann und sie sich nicht verfestigen. So arbeitet auch Wissenschaft: Beobachtungen sammeln, Kausalitäten finden, einordnen und sehen ob es Handlungsbedarf gibt. Das Positive wäre dass Heere von Eltern, Lehrern und Kindergärtnerinnen dem Nachmach – Trend entgegenwirken und die kindliche Kreativität zu erhalten verstehen.

    Mit alter, besserer Zeit hat das überhaupt nichts zu tun, ich hätte nämlich im Mittelalter nicht leben wollen, auch nicht vor 100 Jahren und nicht mal mehr in der Nachkriegszeit. Die schwarze Pädagogik steckt mir noch sehr in den Knochen und geht auch nicht mehr raus. Und wenn man mal nachts den Notarzt braucht oder eine Operation ist man sehr froh um die Errungenschaften der modernen Wissenschaft. Und der Micha über seine Triptane. Alles besser als Hexenverbrennung und Kinder – Verhauen. Die Beschreibung von Trends der Neuzeit impliziert nicht automatisch dass man gleichzeitig in Nostalgie versinkt.

    Die Anekdote mit der muhenden Kuh ist lustig aber irgendwie auch nicht, die Teletubbies sind nett und putzig, leben aber in einem Zuhause das einer fliegenden Untertasse ähnelt und werden per kratzigem Mikrophon zum Heimgehen gerufen – im Hause, das auch eher einem Labor ähnelt auch viele Vorrichtungen zum Kochen, damit sie es selber machen können, den Tabby – Pudding. Staubsaugen auch. Ein Ventilator ist auch noch dabei. Wo sind die Eltern? Durch Technik ersetzt. Die vier sind völlig allein auf der Welt. Lustig? Und dass Zweijährige schon vor dem Fernseher geparkt werden ist auch nicht lustig. Die gucken später noch viel zu viel.

    Startups auf El Hierro sind sicher was anderes als hier – wenn man sich anschaut Millionen von Dingen produziert werden die niemand wirklich braucht und die Unmengen an Energie und Ressourcen verschleudern – Springseile mit Sprungzähler, Blumentöpfe die per App von der Firma gewartet werden damit man weiss wann man giessen und güngen muss, auf den Tisch irgendwie per Overheadprojektor projizierte Speisekarten, man muss nur antippen und die Küche hat die Bestellung … also ich weiss nicht.

    Spart aber Arbeitsplätze und Bedienungspersonal. Und dann die tausendste Gesichtscreme, diesmal mit Cannabis weils die Haut beruhigt, ein Set, für verschiedenste Körperstellen je eine Creme in jeder Menge Pappe und Folie. Alles letzte Woche kennengelernt. Und für alles ne App. Und dann frisch gecremt bei der Klima – Demo mitlatschen. Da krieg ich Pickel, sorry.

  11. Lajla:

    Wenn wir mal wieder ein offline Treffen haben, freue ich mich auf Diskussionen mit dir. Hier auf dem Blog geht das nur begrenzt. Tatsächlich denke ich in allen Punkten anders als du.

  12. Ursula Mayr:

    Ja, da sind wir wohl unterschiedlich verdrahtet.

    Aber ich habe auch den Verdacht, wir haben eine sehr unterschiedliche Sozialisation – und natürlich auch unterschiedliche Berufe – der Psychotherapeut focussiert das Nicht-Funktionierende, Kranke, Dysfunktionale … das prägt die Wahrnehmung. Der Künstler ist mit Schönem und Wohltuendem beschäftigt.

  13. Michael Engelbrecht:

    Eure Diskussionen möchte ich erleben!!!! 😂

    Dunkelzifferexpertin vs. Leuchtraketenbeauftragte

    Ob sie dann so hochtourig laufen wie auf Sylt 2014, als Gregorius und meine Wenigkeit leicht kontrovers die üblichen Verdächtigen verhandelten …

  14. Ursula Mayr:

    Bestimmt! Kommt drauf an wo Ihr Euch trefft. Sylt ist ein bisserl weit für mich, dank Einführung des 9 € – Tickets muss ich im Zug jetzt immer stehen ….

    Warum Leuchtraketen?

  15. Michael Engelbrecht:

    Poetische Freiheit:

    Antipode zum Dunklen, und humoristisch angehaucht.

    Ich kann definitiv ausschliessen, das Lajla je Teil einer chinesischen Leuchtraketenmanufaktur war.

    Aber naturlich ist auch die Kunst ein Raum des Unheimlichen, das erste King Crimson Album ist ein gutes Beispiel dafür, und für den Zusammenprall von Gegensätzen…

  16. Michael Engelbrecht:

    Das mit dem Aufhören der Träume halte ich für interessant, bezweifel es aber – als Phänomen – stark. Das würde heissen, dass es bei etluchen Menschen (beispielsweise: keine morgendlichen, ausgedehnten R.E.M.-Phasen mehr gäbe mit ausgedehnter Traumaktivität.

    Es mag gut sein, dass die Fähigkeit, die eigenen Träume zu erinnern, nachlässt.

    Genau das aber, die Traumerinnerung, lässt sich lernen, da hätte ich gerne mit Einzelnen gearbeitet, die sich partout an kein Träume erinnern….

  17. Anonymous:

    Ich schätze die Entwicklung von Polarität in Chats, so auch hier. Manafonistas ist sehr intellektuell, was ich auch schätze, demzufolge kommen aber die meisten hier aus einem privilegierten Umfeld oder verstanden es zumindest sich ein solches zu schaffen, das entfernt aber auch etwas von anderen Bevölkerungsanteilen und deren ganz anderem Leben. Könnten Sie, Lajla, noch einmal erläutern was Sie an den genannten Beobachtungen jetzt gut finden?

  18. Ursula Mayr:

    Das ist richtig, Micha, der REM- Schlaf stirbt nicht aus. Träume werden weniger erinnert – aber wieso? Die Traumzensur schlägt ja zu wenn es etwas zu zensieren gibt – in freieren und tabuloseren Zeiten sollte die dann weniger aktiv sein und mehr geträumt werden.
    Ich unterhalte mich oft mit Kollegen drüber, die ähnliche Beobachtungen machen – die Träume sind auch nicht mehr primärprozesshaft, weniger surreal, wie Träume ebenso sind bzw waren – mehr Alltagsgeschehnisse, Tagesreste, oberflächlicher, entsymbolisierter. Und auch das Interesse der Menschen an Träumen nimmt ab, die denken sich gar nix dabei nicht mehr zu träumen. Früher wären wir vor Schuldgefühlen gestorben wenn wir unseren Lehranalytikern keine hätten servieren können. Natürlich auch nicht gut.
    Auch die mitgeteilten Inhalte verändern sich in Richtung mehr oberflächlicher interpersoneller Alltagskonflikte. Keine Triebkonflikte, keine archaischeren Seelenihalte, kein Nachdenken über Sexualität und ihre oft abweichenden Wünsche und Ängste.. es fängt alles mehr an zu plätschern. Somit fürchte ich dass ich eher einem sterbenden Verfahren anhänge.

  19. Michael Engelbrecht:

    Eine Tendenz, der dein Text nachspürt, ist ja ein Verlust an Tiefe. Dass zuviel zunehmend nivelliert, begradigt, stromlinienförmig wird. Es geht um Verlustmeldungen, und darum, was an Eigenem übrigbleibt, wenn so vieles künstlich gesättigt wird.

    Da lässt sich schon gegensteuern. Oder, falls das zu kontrolliert klingt, „gegenwirken“.

    Was das Träumen angeht: da wäre es ja nahezu ein Therapieziel, oder einfach auch nur Allagsziel, den Träumen ihre Tiefe zurückzugeben. Schon die Vorstellung, in die Tiefe gehen zu wollen, erzeugt Tiefe.

    Nun, da wäre dann viel Raum für die Leuchtraketenbeauftragte und die Dunkelzifferexpertin:) – das Dunkle, Abgespaltene, und das Lichte, Beglückende gleichermassen WILLKOMMEN heissen…

  20. Ursula Mayr:

    Schön gesagt. Die Frage ist ob die Leute überhaupt die Tiefe zurückhaben wollen? Ist ja auch beängstigend.

  21. Michael Engelbrecht:

    Schon klar. Jemandem Tiefe aufdrängen wollen, driftet ja schon ins Missionarische. Nein, danke. Lieber bin ich einen Tag lang komplett trivial, als einem andern was mit Weihrauch aufzutischen. Ich sass mal mit einem unfassbaren Idioten in einem Auto, als Mitfahrgelegenheit, und er erzählte mir von seiner Bekehrung zum Christentum, und wie sehr er die Menschen bedaure, die seine Gotteserfahrung nicht gemacht hätten. Ogottogott. Das fällt mir doch gleich das Jandl Gedicht ein mit dem kotzenden Mops.

  22. Ursula Mayr:

    Diese versteckte Herablassung, die in solchen Erzählungen der Pseudoerleuchteten steckt, besagt ja auch einiges über deren wirklichen Zustand. Transpersonale Erfahrungen machen demütig, nicht narzisstisch. Und Missionieren halte ich für eine üble Form von Narzissmus. Ich hab den Grössten und den Längsten und Du noch nicht …

  23. Lajla:

    WHO are you anonymous?

  24. Olaf Westfeld:

    Ich arbeite ja an einer Schule, wo Kinder (zugegeben überwiegend aus eher privilegierten Familien) dazu angehalten werden künstlerisch und handwerklich tätig zu sein – die lernen so, das Prozesshafte und Unperfekte auszuhalten und auch eher aus dem Inneren zu schöpfen (was auch immer das genau bedeutet…), überhaupt innere Bilder zu entwickeln. Auch ich merke jetzt nach 16 Jahren einerseits eine andere Ruhe (auf Klassenfahrten ist es viel ruhiger als früher, alle sind im Sog der Eigenwelten, im Hochglanzrausch), aber auch mehr Nervosität. Zuhören und Konzentration fällt zum Teil schwer, Langeweile können einige kaum noch aushalten. Und jede Menge Engagement und Eigenständigkeit – viel mehr Aussteiger, usw. Nebenbei: das Niveau in Englisch ist in den letzten 16 Jahren erheblich gestiegen, da haben Online Gaming und amerikanische TV Serien gutes vollbracht. Pessimistisch werde ich noch nicht…

  25. Ursula Mayr:

    Hauptschule?

  26. Olaf Westfeld:

    Nö, Gesamtschule.

  27. Ursula Mayr:

    Mit Rechtschreibung siehts schlimm aus. Auch bei Erwachsenen. Und immer mehr Legasthenie.

  28. Martina Weber:

    Deine Gedanken zu dem Thema der Nicht-Erinnerung an Träume, Ursula, haben mich an eine Forschung erinnert, das Jon Hassels Album DREAM THEORY IN MALAYA zugrunde liegt. Auf dem Cover heißt es, der Titel „is titled after a paper by visionary anthropologist Kilton Stewart, who in 1935 visited a remarkable highland tribe of Malayan aborigines, the Senoi, whose happiness and well-being were linked to their morning custom of family dream-telling – where a child´s fearful dream of falling was praised as a gift to learn to fly the next night …“.

    Habe die Schallplatte heute aufgelegt. Wunderbar.

  29. Michael Engelbrecht:

    Die Senoi hatten eine wunderbare Traumkultur als Teil des Alltags geschaffen. Sie waren, neben tibetischen Yogis und diversen Schamanen, frühe Praktizierende von „luziden Träumen“.

  30. Martina Weber:

    Mich fasziniert dieses Ritual sehr. Weißt du mehr darüber als das, was auf der Rückseite des Hassel-Covers steht?

  31. Michael Engelbrecht:

    Tatsächlich weiss ich etwas mehr, weil in manchen Büchern zum luziden Träumen / Klarträumen mehr zu Kilton Stewarts ethnologischen Erkundungen steht. Was Jon Hassell dazu notiert, ist aber schon das Wesentliche. It‘s more illuminating to make the little exercises for a vivid lucid dream.

  32. Martina Weber:

    Immerhin hat mein mehrfaches Lauschen dieses Albums vielleicht auch dazu geführt, dass ich mich mal wieder an ein Fragment eines Traumes erinnert habe. Ich stand im Hausflur (wobei der Flur etwas anders war, als er tatsächlich ist, schrägere Wände) mit einer Frau, die mir einen Glasfaservertrag aufschwätzen wollte. Und war erleichtert, als ich aufwachte – ohne einen Vertrag unterschrieben zu haben.


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