Eine Giraffe ist eine Giraffe ist eine Giraffe – nö, eben nicht, vor allem nicht wenn sie aus der eigenen Feder stammt. Da gibt es Diddl-Giraffen oder König-der-Löwen-Giraffen oder Madagaskar-Giraffen und die Giraffe Zarafa und Mein-Freund-die-Giraffe-Giraffen oder welche die aussehen wie ein Bambi-Hybrid. Mit Kindern zu malen oder zu modellieren hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend verändert – die Zufriedenheit mit dem eigenen Produkt ist bei Kindern, die aus der Ich-bin-Superman/woman-Phase herausgewachsen sind – also etwa Schulalter – nur noch schwer zu erlangen. Nein, die Giraffe ist nicht so wie sie sein soll! Die ist falsch! Die ist schlecht! Die muss aussehen wie in MADAGASKAR oder im KÖNIG DER LÖWEN oder sonstige prominente Giraffen. Interventionen in Richtung „Das ist ja aber jetzt DEINE Giraffe, die ist einmalig, etwas ganz Besonderes …“ fruchten wenig, es muss einem zweidimensionalen Vorbild gleichen. Und ein junger Löwe hat auszusehen wie Simba und ein Löwenpapa wie Mufasa und und … Neue Archetypen.
Im Zoo gibt es dann Überraschungen: „Ach das ist eine Giraffe? Ooch, die lacht ja gar nicht!“ In der Realität wird bei Tieren selten gegrinst .
Auf die Muttertagskarte muss dann eine Diddlmaus und nicht eine gewöhnliche Hausmaus aus dem Keller oder ein selbstgemalter Blumenstrauss. Das ist uncool! Oder die geplagte Therapeutin muss ran: „Zeichne mich mal als Sailormoon-Kriegerin mit den langen Haaren! Und dann als Sailor Saturn!“ (Googelt es nicht, Ihr wollt nicht wissen, wie die aussehen! Bestimmt nicht! Oder haltet einen Cognac bereit).
„Und jetzt malen wir mal alle Pokémon die es gibt!“ (Klar, sind ja auch nur etwa 150! Die Digimons noch gar nicht dazugerechnet!). „Du hast doch so ein Heft, da können wir abpausen!“ (Ja, habe ich, zu Fortbildungszwecken angeschafft und nicht gut genug versteckt, aaarrrgghhh!).
„Und dann malen wir die mit Fensterfarbe aus und ich tu die an mein Fenster!“ (Die Fensterfarben-Pest der Jahrtausendwende!).
Seit 1995 hängen die also an MEINEM Fenster, weil’s die Mutter nicht erlaubte, und gehen nicht wieder ab. Eine kleine Fernsehkamera, mit der ich Patientengespräche aufnehmen wollte, wurde auch entdeckt:
„Du filmst mich jetzt mal als Celine Dion, wie sie „My heart will go on“ singt.“
Es ist eine Binse, dass mit einem Überangebot an vorgefertigten an Bildern im Aussen die Aktivierung innerer Bilder zu lahmen beginnt, dass die zeichnerische Perfektion der Film- und Comic- und Merchandise-Produkte den Anspruch an Selbstgefertigtes in unerreichbare Höhen schraubt, die an das eigene Aussehen natürlich auch – auch eine Binse. Das gab’s früher auch – da wollten die Mädels aussehen wie Conny Froboess oder Manuela, die Jungs wie Peter Kraus oder Ted Herold, aber immerhin änderten wir nur die Frisuren und die Klamotten, aber wollten nicht umoperiert werden und bastelten noch Giraffen aus Kastanien, Eicheln und Streichhölzern und gingen mit gesenktem Kopf mit einer Halskette aus Kastanien herum wie ein Ackergaul unter dem Joch und fanden die toll. Zur Zeit der Hochzeit von Harry und Meghan wünschten sich viele Mädels eine Meghan-Markle-Nase und viele bekamen sie wohl auch. Dabei ist die keineswegs formvollendet, aber eben trendy.
Die Realität verschwindet hinter den Bildern – wenn’s denn noch Bilder wären, aber es werden zunehmend Stereotypien und Perseverationen – genial auf den Nenner gebracht von Andy Warhol bei der Vervielfältigung von Marylin Monroe. Bilder verselbständigen sich, werden zu Avataren und Logos, verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung und bekommen eine neue – eine 18-Jährige zeigte mir stolz ihr Che-Guevara-T-shirt, es handelte sich allerdings um Fidel Castro – wurscht! Wer das war? Auch wurscht! Ist aber geil!
Und Hitler und Goebbels sind die, die man in einem Kino in Paris eingesperrt und verbrannt hat.
Die Realität verschwindet hinter den Bildern und ihren neuen Bedeutungen. Es wird immer weniger kreiert und immer mehr kopiert. Heut heisst’s Influencing!
Soweit so – naja, so isses nun mal, man muss nicht alles werten. Aber es tut sich noch eine tiefere Ebene auf: es wird zunehmend weniger bis gar nicht mehr geträumt – immer mehr unserer Patienten geben an, nicht mehr zu träumen, auch Ausbildungskandidaten, intelligent und differenziert und mit der Materie des Unbewussten beschäftigt, schaffen es in 300-stündigen Lehranalysen kein einziges mal zu träumen. (Die Generation der 90er, als die digitale Bilderwelt die Kinderstuben überflutete und Filmserien für 2jährige entwickelt wurden – die Teletubbies 1997. Googelt es nicht!).
Somit wäre der Königsweg zum Unbewussten versperrt und die Behandlungen erreichen nicht die regressive Tiefe, die zur Erforschung desselben und zur Modifikation nötig wäre. Die Unfähigkeit zur eigenen Bildgebung innerer Prozesse erreicht offenbar nun die tieferen und tiefsten Schichten der Persönlichkeit. Was passiert hier?
Zum Ausbilden innerer Bilder braucht es ca. 18 Lebensmonate kohärente Erfahrung mit den Objekten, bis sich stabile Imaginationen bilden. Um diese Bilder phantasmisch im kindlichen Gehirn hervorzurufen, braucht es einen Zustand des Unbefriedigtseins, des Sehnens und Begehrens und Sich-Vorstellens der kommenden Befriedigung – der freilich nicht zu lange dauern darf, um nicht realem Unbehagen durch Hunger und Angst Platz zu machen, dann zerfallen die Imagines und machen böseren Bildern Platz.
Das ist der Grund, warum Kinder ihre Mutter nach längerer Abwesenheit nicht mehr wiedererkennen – es gibt kein Bild mehr, mit die sie mit der Realität abgleichen können. So entwickelt sich Vorstellungs- und Symbolisierungsfähigkeit.
Zu rasche Bedürfnisbefriedigung verhindert diesen Prozess, Vernachlässigung auch. Eine Überflutung mit Bildern und Vorgefertigtem auch.
Der Horror vacui, unter dem die Menschheit leidet, drücken wir unseren Kindern auf – die Malen-nach-Zahlen-Generation. Mandala- Ausmalbücher sind sehr beliebt.
Früher hat ein einsamer junger Mann ein Liebesgedicht geschrieben, heute geht er tindern. Und weiss gar nicht, wieviel dabei in der eigenen Innenwelt auf der Strecke bleibt. Welche Fähigkeiten man im Zustand der Sehnsucht entwickeln kann.
Manchmal frage ich mich, ob es nicht langsam zu einem Verschwinden des Unterbewusstseins generell kommt – als Reservoir für Abgedrängtes, Tabuisiertes, Ungelöstes, Konflikthaftes, Unvereinbares, Wünschbares … das meiste ist erlaubt, nichts mehr tabuisiert, Aggressionen werden ausgelebt, für jeden Konflikt wird etwas bereitgestellt, für alles werden schnelle Lösungen zur Verfügung gestellt (schon mal „Höhle der Löwen“ gesehen, mit dem ganzen Start-up- Schwachsinn in Zeiten verknappender Ressourcen? Da wird zur Fitness nicht mehr einfach Seil gesprungen und einfach mitgezählt, wie wir Dödel das früher gemacht haben, da braucht’s Seile von verschiedenem Schweregrad für die Oberarmmuskulatur, und unter den Füssen einen Zähler und Pulsfrequenzmessung und Stolperer- Zählung und Blutdruckregistrierung).
Wünsche erfüllen sich zeitnah … welches Agens soll da noch Traumleben produzieren? Wo sollten wir noch Unerlaubtes hinstecken, wenn alles erlaubt ist? Was sollten wir noch wollen wollen?
Hier nur mal in die Kladde geredet für die, die das Problem mit der rasch herunterladbaren Giraffe für ein marginales halten.