on life, music etc beyond mainstream
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2022 25 Apr.
Ursula Mayr | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 4 Comments
2022 24 Apr.
Uli Koch | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Peter Conradin Zumthor, René Waldhauser | 2 Comments
2022 24 Apr.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 12 Comments
Oh nein, alle scheinen diese zwei Filme zu lieben, ich erinnere mich an glückliche Gesichter, an intelligente Frauen, die die Geschichten erzählen, an die kostbaren Momente des Staunens, ich erinnere mich an Filmkritiker, die verzweifelt nach Worten suchten, um all die Feinheiten zu beschreiben. Ich kann nur sagen, dass diese beiden „Filme zu den langweiligsten Erfahrungen gehören, die ich je im Kino gemacht habe. 1995: Before Sunrise. 2004: Before Sunset. Teenagerfilme, getarnt als dialogbesessene Liebesgeschichten für Jung und Alt. Den ersten Film habe ich gesehen, weil ich einem Schwarmgeist folgte. Den zweiten Film sah ich, weil ich von der Frau an meiner Seite geknallt werden wollte. A propos Paris: Ich bin wirklich dankbar für viele Filme der „Nouvelle Vague“; für Teenager, die in den 60er und 70er Jahren aufgewachsen sind, waren sie großartige Lektionen, um auf die Achterbahn namens Liebe und Desaster vorbereitet zu sein. Ich wollte mit Stéphane Audran schlafen, ich hatte Lust, durch die Pariser Traumlandschaften von Jacques Rivette schlendern, ein Boot mit Celine und Julie teilen, aber schon in diesen frühen Jahren sah ich einen Film, der die zwei Linklater-Langweile-Lektionen noch übertraf: „Claires Knie“ von Eric Rohmer. Eine blasse Erinnerung: Jean Louis Trintignant ist besessen von, nun ja, Claires Knie. Die Dialoge hölzern, der Charme abwesend, der Ton todernst, und die Moral sauer. Ich könnte mir nur zwei Möglichkeiten vorstellen, mir diese Zumutungen noch einmal anzusehen: ein Zeitreiseticket in die Carnaby Street 1972, oder ein psychoanalytisches Filmseminar über diese „Trilogie“ mit unserer Dunkelzifferexpertin! Übrigens bin ich im Rahmen eines Interviews über eine französische Komödie, in der die Delpy eine Hauptrolle spielte, mit ihr mal durch den Dortmunder Westfalenpark spaziert, und sie war sehr erbost, dass die erste Interviewerin den Film überhaupt nicht gesehen hatte. Um die Situation nicht völlig in den Sand zu setzen, teilte ich ihr nicht mit, dass auch ich den Film im Vorfeld nicht habe sehen können, und stellte ihr (aufgrund einer immerhin gelesenen Inhaltsangabe) kunstvoll vage Fragen. Nun, zum Ende dieser Kurzgeschichte einer wiederholten Ernüchterung, noch dies: ich bin ein grosser Fan der Serie „Call My Agent“, über die Irrungen und Wirrungen einer Pariser Filmagentur. Merveilleux! Wenn das eine „soap opera“ ist, dann so ziemlich die beste, die ich je sah!
2022 24 Apr.
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Verschwörungsglaube | 11 Comments
„In Betracht der Freiheit ist das Geschäft der Historiker noch immer dasselbe wie das der Inquisition: die Ausrottung. Es ist gerade nicht das Mißverständnis, das tödliche Konsequenzen hat, sondern das faktische Besserwissen.“
(Dietmar Kamper, Der Augenblick des Ketzers)
Diskurse umschwirren mich wie Motten das Licht. Es gibt den Topos von der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Dem zufolge buhlen in digital-medialen Zeiten Inhalte um die Gunst des Rezipienten und Sender rufen in der Wüste: „Empfänger verzweifelt gesucht!“ Dies gilt auch und besonders für Verschwörungstheorien. Ausgerechnet in einer Satiresendung meines Vertrauens fand sich ein Gedanke expliziert, den meine Wenigkeit zuvor schon vage ausbaldowert hatte und deshalb in meinem mentalen Kosmos auf Resonanz stiess: dass nämlich diesem ganzen Problem der Querdenkerei eines der Aufmerksamkeits-Ökonomie zugrunde liegt. Die gesamte Szene nimmt im Verhältnis zu ihrer Relevanz viel zu grossen Raum ein. Was interessiert es mich, von wem einst John F. Kennedy „tatsächlich“ ermordet wurde? Was interessiert es mich, wie die Türme des World Trade Centers „in Wirklichkeit“ zu Fall kamen? Pigalle, Pigalle, das ist die grosse Mausefalle von Paris: sich nämlich überhaupt mit derlei Dingen zu beschäftigen. Viele Sachverhalte im Kontext inquisitorisch-historischer Faktenlaberei sind nämlich marginal, sie lenken unnötig ab. Zudem zeigt sich bei jenen, die vorgeben, sie würden hinter den Vorhang schauen, selbst ein Verhalten, das eigentlich nach aussen hin bekämpft werden sollte: notorische Besserwisserei. Ganz im Sinne des Tao gefiel es mir ja immer, wenn der Geist spielerisch und frei umherschweift, auch in der Kunst. Traue niemandem, der sie nicht mag: er kann nämlich zwischen den Zeilen weder wandern noch lesen. Und die wunderbare Luisa Neubauer bringt es in einem dreistündigen Interview auf den Punkt: „Choose your fights!“ Man muss nicht angesichts jeglichen Schwachsinns gleich zur rechtfertigenden Gegenargumentation aufrüsten. Oft hilft schon der stille Entzug.
2022 24 Apr.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments
JazzFacts – Deutschlandfunk – 5. Mai 2022 – 21.05 Uhr bis 22.00 Uhr – Autor: Michael Engelbrecht – Redaktion: Odilo Clausnitzer
OTON (1) – Bill Frisell – „Vor 50 Jahren war ich zum ersten Mal in dem New Yorker Jazzclub Village Vanguard. Es war das erste Mal, dass ich ein ECM-Album hörte. Soviel passierte damals in einer so kurzen Zeitspanne. Ich sah Jimi Hendrix live, dann Charles Lloyd, zum ersten Mal erlebte ich Miles Davis, alles stürmte auf mich ein. Die Musik nahm von mir Besitz. Ich wollte immer Gitarrist werden, aber ich dachte nie, dass ein solcher Traum wahr werden würde.“
Text Eins – Eine Passage aus einem Interview von Ingo J. Biermann mit Bill Frisell. Über ihn ist eine Biografie erschienen: „Bill Frisell, Beautiful Dreamer“: in dieser Ausgabe mit Neuem von der improvisierten Musik stellen wir sie vor, ausserdem einen weiteren Beitrag aus der Abteilung „Berühmte Gitarristen“, das erste reine Soloalbum von John Scofield. Am Mikrofon begrüßt Sie Michael Engelbrecht.
Den zweiten Schwerpunkt dieser Stunde bilden neue Musikproduktionen von David Virelles, Oded Tzur, Alabaster dePlume und Jon Balke, die sich in einem weiten Feld zwischen Improvisation und spiritueller Praxis bewegen, in welches das Erbe der Hippie-Ära, tiefer Humanismus, Naturreligion, uralte Folktraditionen und fernöstliche Klangwelten hineinspielen.
So taucht der in New York lebende Pianist David Virelles auf seinem Pianosoloalbum „Nuna“ tief ein in die Riten und Überlieferungen seines Herkunftslandes Kuba. Statt sich dabei auf nostalgiereiches Lokalkolorit zu beschränken, bricht Virelles vertraute Rhythmen seiner ersten Heimat auf, etwa mit Echos der Europäischen Moderne und klanglichen Finessen. Ohne elektronische Zusätze und Präparierungen der Sounds, allein mit Anschlag und Pedaltechnik, gelingt es ihm, den Flügel in bestimmten Momenten dem Klang von Kalmibas, Harfen und kubanischem Trommelwerk anzunähern.
Der Steinway-Flügel wird so zu einem Instrument der Beschwörung und Anrufung. Schon das Coverbild fungiert wie ein Tor zu einer archaischen Welt: surreal verbinden sich die Umrisse eines Klaviers mit dem Gesicht eines Mannes, dessen Hände weit über die Tasten hinaus, in Flora und Fauna hineinreichen. Auf drei Kompositionen spielt Julio Barreto Perkussion, etwa auf dem folgenden Stück „Ignacio Villa“, einer Hommage an den gleichnamigen Pianisten und Sänger.
M1 – Ignacio Villa, aus: Nuna
Text Zwei – Das Album „Nuna“ von David Virelles erscheint Ende Mai auf dem Label Pi Recordings. Und nun ein weiteres Soloalbum, dessen Ankündigung in Jazzkreisen durchaus Verwunderung auslöste. Will man die verzweigte Vita des Gitarristen John Scofield kurz auf den Punkt bringen, kann man guten Gewissens behaupten: er ist ein idealer Teamspieler, bestens geerdet in Jazz- und Bluestraditionen – selbst da, wo kühne Experimente anstehen, sorgt Scofield für die nötige Bodenständigkeit. Ein reines Soloalbum hatte er noch nie aufgenommen – bis jetzt.
Aber was sonst zu Hause machen, in Zeiten des Virus? E-Gitarre, Looper – und schier unbegrenzte Zeit. Das Coverfoto von Luciano Rossetti: ein streunender Hund, ein Holzgatter, ein riesiger Sandstrand, in der Ferne fahle Umrisse von Häusern. So sah es oft aus im ersten Lockdown – ganze Küstenstreifen ohne eine Spur des Tourismus, die Natur – tat einen tiefen Atemzug und holte sich ihre Räume zurück. Das Foto reflektiert zudem die komplette Unaufgeregtheit von Scofields Spielstil, abseits von allen Trends und Moden. Alles Weitere zu diesem Lockdown-Solo-Album von Karsten Mützelfeldt.
Beitrag 1 – John Scofields Sologitarrenalbum (Karsten Mützelfeldt)
Text Drei – Karsten Mützelfeldt stellte uns John Scofields Album „Solo“ vor. Mit seinem Trio ist der Gitarrist am 24. Mai in Berlin, und am 25. Mai in Dortmund live zu erleben. Auf Europareise befindet sich in diesem Monat auch der aus Israel stammende, in New York lebende, Saxofonist Oded Tzur. Wer sich für Verschmelzungen von Jazz und Klassischer Indischer Musik interessiert, sollte sich weder einen Auftritte seines Quartetts entgehen lassen, in Bremen am 19., und in München am 22. Mai, noch seine Ende der kommenden Woche erscheinende CD „Isabela“.
Ein Album, das alles andere ist als eine bloss gediegene Begegnung zweier Kulturen. So, wie einst der Trompeter Jon Hassell bei Pandith Pran Nath studierte, um die Gesangslinien von Ragas auf sein Trompetenspiel zu übertragen, so ging Oded Tzur bei dem Bansuri-Flötisten Hariprasad Chaurasia in die Lehre, um Ragas von ihrem innersten Kern her zu begreifen. Nichts an „Isabela“ ist auf Effekt gespielt, oder bloss kunstvolles Ornament.
Über Jahre hinweg hat er an den fünf Kompositionen dieses Werkes gearbeitet, was einigermassen erstaunt, zumal es inspiriert ist von einem existierenden Raga namens „Megh“. Doch Oded Tzur geht es nicht um das Imitat, um perfektes Nachspielen, sondern um die Versenkung in kleinste Tonverschiebungen. Willkommen im Reich des Mikrotonalen! Dabei stellt sich die Frage, wie sich diese Selbstdisziplinierung als meditative Praxis mit der streckenweise nahezu entfesselten Musik seines Quartetts verträgt, in dem Nitai Hershkovits Piano spielt, Petros Klampanis Bass, und Jonathan Blake Schlagzeug…
M2 – Oded Tzur: Noam, from Isabela
OTON (2) Oded Tzur – „Es ist wahr, dass ich auf meinem letzten Album, „Here Be Dragons“, eine besondere Betonung legte auf die Erforschung der dynamischen Bandbreite, die zwischen den sanftesten Noten besteht, die ich spielen kann, und absoluter Stille. Was ich gelernt habe von meinen Lehrern Klassischer Indischer Musik, und ihrem Spiel auf indischen Instrumenten, ist, dass dies ein unendlicher Raum ist. Es gibt immer eine noch sanftere Note. „Isabela“ ist inspiriert von einem indischen Raga für die verregnete Jahreszeit, und da können die sehr langen and langsamen „slides“ und Gleitbewegungen Vorstellungen wachrufen von grossen, schweren Wolken. Genauso wie es eine Nähe gibt von Stille und Sound, existiert auch eine Affinität, ein Gespür, am anderen Ende des dynamischen Spektrums, zwischen Sound und Exstase. Ich war stets inspiriert von Free-Jazz-Musikern wie Eric Dolphy, Ornette Coleman und dem späten John Coltrane, und die Art, in der sie ihre Instrumente erforschen, die Schreie, die sie ihnen entlocken konnten – das ist auch heute noch Teil meiner Musik.“
M2 – Oded Tzur: Noam, from Isabela (Fortsetzung)
Text Vier – Noam“, aus der CD „Isabela“ des Oded Tzur Quartetts. Zwischen dem von Manfred Eicher produzierten Werk „Isabela“ und dem neuen, als CD und Doppel-LP, vorliegendem Album des englischen Saxofonisten und „spoken word“-Spezialisten Alabaster DePlume, mit bürgerlichen Namen Gus Fairbairn , gibt es zwar Gemeinsamkeiten, etwa die Verbundenheit zum „spirituellem Jazz“ und zur Grossfamilie Coltrane. Was Komposition und Produktion angeht, liegen Welten zwischen ihnen. „Gold“ ist ein so seltsames wie betörendes Werk. Alabaster dePlume kombiniert seine nur auf den ersten Blick und Ton naiven, „flowerpower“-befeuerten, Songs mit melodisch schlingernden Saxofonklängen, die sich tollkühne Schieflagen erlauben, dabei andocken an Äthiopiens kurze Jazzblütezeit, an die Pionierzeit von Reggae und Dub, an die liebestrunkenen und anderweitig berauschten „Beat Poets“ vom Schlage eines Lawrence Ferlinghetti. Man hört, dass dieser Mann aus Manchester auch ein paar Studioproduktionen eines gewissen Donovan im Plattenschrank hat. Über zwei Wochen arbeitete er mit über zwanzig Musikern an den Songs – Jamsessions waren das, die speziellen Regeln unterlagen…
OTON (3) – Alabaster dePlume – „Ich habe jeden Track mehrmals aufgenommen, mit etwa fünf verschiedenen Besetzungen. Einmal mit einem Chor und zwei Kontrabässen, ein anderes Mal mit zwei Schlagzeugern und zwei Gitarristen, dann wieder mit einem Harfenspieler und einer Streichergruppe und so weiter. Da jeder Song im gleichen Tempo aufgenommen wurde, kann ich die von mir bevorzugten Elemente mischen und überlagern. All diese Musiker reagieren auf die jeweilige Melodie ganz und gar authentische. Sie spielen nicht, um etwas ‚richtig‘ zu machen, sie spielen mit Verletzlichkeit, Freude, Liebe und Mut.“
Text Fünf – Alabaster dePlume ist ein viel zu raffinierter Sprachspieler, um sich mit hippiesken Liebesbotschaften zufrieden zu geben, wie sie der Untertitel von „Gold“ suggeriert: „Go Forward In The Courage Of Your Love“. Was anfangs nach esoterischen Selbsthilfe-Exerzitien klingt, gewinnt durch das reiche, unberechenbare Innenleben der Lieder genauso, wie durch den virtuosen Umgang der Lead-Stimme mit sanften Einflüsterungen, gebrochenen Hymnen, entwaffnender Offenheit. Zynismus hat hier keine Chance, und man darf staunen über die Kunst, wie hier ein Musiker in herrlich schrägen Stücken mit verkapptem Ohrwurmpotential stets die richtigen falschen Tönen trifft.
M3 / M4 – Alabaster DePlume: Don‘t Forget You‘re Prescious / Fucking Let Them, from Gold (International Anthem)
Text Sechs – Alabaster dePlume tritt am 6. Mai in Berlin auf, und am 7. Mai in Dresden. Von Songtexturen, die „beat poetry“ und Hippie-Utopien anzapfen, nun zu einem weiteren, beinah noch exotischeren Songzyklus, Jon Balkes „Hafla“. Es ist die dritte Unternehmung des norwegischen Komponisten und Keyboarders, mit seiner sich stetig wandelnden Formation „Siwan“, al-andalusische Gedichte mit Traditionen des Barock und moderner Improvisation zu verknüpfen. Was wäre gewesen, wenn dieser Kurzen „Hoch-Zeit“ der al-andalusischen Kultur und ihres Modells friedlicher Koexistenz der Religionen nicht so früh ein gewaltsames Ende bereitet worden wäre?!
Zu den Eigenheiten von „Hafla“ zählt, in mehrfacher Hinsicht, der Umgang mit der Zeit. Zum einen wirken viele der gut tausend Jahre alten Gedichte, ohne Schnickschnack übertragen in modernes Englisch, freigeistig, modern, und zeitlos. Die Songs von „Hafla“ haben zudem durchweg die Länge von Pop-Singles: als wäre es eine ungeschriebene Regel, verzichten Jon Balke und seine Mitstreiter auf jede Art exaltierter Ausschweifung, die mehr als verlockend wäre, wenn man etwa an Jon Balkes Bewunderung der fabulierfreudigen Bands von Oum Khalthoum denkt.
Vom Umfang her ist „Siwan“ ein 15-köpfiges Orchester: neben den versammelten Barockspezialisten sind da noch zwei Trommler, ein türkischer Kastenhalslautenspieler, und die algerische Sängerin Mona Boutchebak. Aus dem munteren Hin und Her von Texten und Klangproben zwischen Balke und Boutchebak, ihrem Eintauchen in englische, spanische Übersetzungen und die arabischen Originale, entwickeln sich all diese Lieder, die schliesslich im Studio, mit allen Restriktionen von Corona, ihre finale Form annehmen. Und was für eine immense Ruhe und Klarheit diese Lieder verströmen – nichts scheint natürlicher und naheliegender als dieser im Grunde hochexperimentelle Mix aus nordafrikanischen Tonskalen, jazznahen Improvisationen, und Barockmusik-erprobten Streichinstrumenten!
Im Zentrum immer wieder Texte, die vor Ewigkeiten entstanden sind und doch, in ihrer Anmutung, auch aus der Feder von Leonard Cohen, Nick Drake oder Robert Burns stammen könnten. „Uquállibu“, „Abwesenheit“ wurde geschrieben von Abu Bakr al-Turtushi zu Beginn des 12. Jahrhundert und beginnt so: „Jede Nacht suche ich / den Himmel mit meinen Augen ab / auf der Suche nach dem Stern / den du gerade betrachtest.“
M5 – Jon Balke & Siwan: Uquallibu, from Hafla
Text Sieben – Musik aus der Cd „Hafla“ von Jon Balke und Siwan. Sie hören die JazzFacts im Deutschlandfunk, mit Neuem von der improvisierten Musik. Wer Bill Frisell, fraglos einem der bedeutendsten Jazzgitarristen unserer Tage, in einem Interview begegnet, lernt einen ruhigen, introvertierten Menschen kennen, der sich oft Zeit nimmt, die richtigen Worte zu finden.
Ich war überrascht, als eine autorisierte Biografie angekündigt wurde, mit weit über 500 Seiten. Beim Untertitel runzelte ich erstmal die Stirn – ein klassischer „Maketing-Kniff“? „The Guitarist Who Changed The Sound Of American Music“: solche Sockelsetzerei hat Bill Frisell gar nicht nötig. Allerdings – mit seiner unverkennbaren Klangsprache hat er sich wahrlich in allen möglichen amerikanischen Klangwelten herumgetrieben und dabei einige unvergessliche Spuren hinterlassen.
Sein früh gerühmtes, sphärisches „Legato“ war nur eine Beimischung einer immens reichen Welt der Zwischen- und Untertöne, die in der zartesten Kammermusik genauso aufleuchteten wie in avantgardistischem „Noise“. Ob er ein Visionär oder Bewahrer sei, oder etwas von beidem habe, darüber streiten nicht nur die Gelehrten – ein „normaler Jazzgitarrist“ wollte er ohnehin nicht sein.
„Bill Frisell, Beautiful Dreamer“ hat weitaus mehr von einem vielstimmigen Erzählwerk als von einer akademischen Trockenübung. Wie gelingt es Philip Watson, das Leben und Schaffen eines im Grunde ganz normalen Menschen so fesselnd darzustellen? Michael Rüsenberg liefert dazu ein paar Antworten.
Beitrag 2 – Philip Watsons Biografie: „Bill Frisell – Beautiful Dreamer“ (Michael Rüsenberg)
Text Acht – Michael Rüsenberg stellte uns Philip Watsons Buch „Bill Frisell, Beautiful Dreamer“ vor, das bei Faber & Faber erschienen ist. 560 Seiten kosten knapp 20 Euro, als E-book wird es nochmal deutlich preiswerter. Fast jeder Jazzhörer hat seine Bill Frisell-Lieblingsplatten, und nach dieser Lektüre kommen sicher noch ein paar dazu. In Watsons Buch stellen auch zahlreiche Wegbegleiter und Fans ihre persönlichen Frisell-Favoriten vor. Justin Vernon schwärmt von „Good Man, Happy Dog“, Van Dyke Parks analysiert die hypnotische Qualität von „Big Sur“, Gavin Bryars benutzt ein Stück von „In Line“ zur Bekämpfung seiner leichten Flugangst, und Hal Wilner redet über die Finesse von „Lookout For Hope“.
Bill Frisells Trio gastiert morgen, am 6. Mai, in Tübingen – sein Schaffensdrang scheint ungebrochen. Im letzten Jahr feierten wir im Jahresrückblick der Jazzredaktion das Album „The News“ des Andrew Cyrille Quartet, an dessen Gelingen er wesentlich beteiligt war. Vor Wochen steuerte er allerlei Pastelltöne zu einem überraschend meditativen Album von John Zorn bei.
Und morgen erscheint die CD „Interpret It Well“ des Komponisten, Schlagzeugers und Vibraphonisten Ches Smith, die Bill Frisell einmal mehr als enorm wandlungsfähigen Freigeist präsentiert, an der Seite des Pianisten und Elektronikers Craig Taborn und des Viola-Spielers Mat Maneri. Feinsinniger, freier Jazz, formbewusst und ungebändigt!
Ches Smith’s Favorit unter den Bill Frisell-Alben ist übrigens „Where In The World“ vom Anfang der Neunziger Jahre. Mit ein paar Anmerkungen des Drummers zu „Interpret It Well“ und dem Finale des Titelstücks klingt die heutige Ausgabe von JazzFacts Neuem von der improvisierten Musik aus – am Mikrofon bedankt sich Michael Engelbrecht für Ihre Aufmerksamkeit.
OTON (4) – Ches Smith – Der Albumtitel „Interpret it Well“ hat viel damit zu tun, wie wir das Album entwickelten. Ich gab den Musikern die oft sehr skelettartigen Kompositionen, und ermutigte sie, sie so zu interpretieren wie es sich für sie im jeweiligen Moment am besten anfühlte, wie sie changieren wollten zwischen Melodie, Dichte, Verstörung, Sound, Stille, Attacke und Raum. Bill Frisell war für mich immer ein Meister des Raumgefühls, und des Gefühls zwischen den Noten. Am Ende hatten wir von jedem Stück diverse Versionen. Was nun auf dem Album zu hören ist, sind die Schnappschüsse jener Versionen, die meines Erachtens am besten zusammen passen.“
M6 – „Interpret It Well“ from Ches Smith’s INTERPRET IT WELL
2022 23 Apr.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: DGG, Musikkrik, review, Roger Eno, The Turning Year | Comments off
Aus der Erinnerung fallen mir eine gute Handvoll Alben ein, neben die ich „The Turning Year“ in einem Regal einordnen könnte – wobei sich das Werk selber schlichtem Rubrizieren entzieht. Die besten Ordnungssysteme sind bekanntlich die, welche nach allen Himmelsrichtungen offen sind. In diesem Sinne lege ich nur ein paar Fährten der Abteilung „Hinterlandmusik“ (nicht „Hintergrundmusik“!) aus: Herbert Hencks „Musica Callada“, seine Interpretation von Stücken von Federico Mompou. Glauco Veniers „Miniature Music“ (subtitled „Music for Piano and Percussion – is there a more unknown ECM-album?). Dann Nils Frahms „All Melody“ (diese Produktion entstand, reiner Zufall, auch in Berlin). Steve Tibbetts’ „Northern Song“. Erik Honoré’s „Heliographs“. Misha Alperins „At Home“. „Mixing Colours“ sowieso (the interview with „The Elderly Brothers“, in regards to their DGG-release in „Electronic Sound“, is good-humoured and insightful). Cluster‘s „Sowiesoso“ (aufgenommen 1976 in Forst und gemischt in Connys Studio). Group Listening: Clarinet & Piano – Selected Works, Vol. 2 („imagine a missing link between „Obscure Records and ECM‘s New Series“). Will Burns & Hannah Peel: Chalk Hill Blue. Roberto Musci‘s „Tower of Silence“. Sigurd Holes „Roraima“. Hans Ottes „Buch der Klänge“ (wiederum dargeboten von Herbert Henck). Und „The Equatorial Stars“ von Fripp & Eno.
Es kommt vor, dass Phänomene, die sich am Rande, fast schemenhaft, bewegen, einen ebenso tiefgreifenden Einfluss auf das innere Erleben ausüben wie das, was im Brennglas konzentrierter Aufmerksamkeit funkelt. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht ist „The Turning Year“ ein kleines, frei schwebendes Meisterstück, das leicht unterschätzt werden kann. Nichts ist so langweilig wie eine Notation, die keine Fragen offenlässt. Die meisten Alben von Roger Eno kenne ich seit seinem ersten Auftauchen auf einem Meilenstein aus den „goldenen Jahren der Ambient Music“ (Apollo) ziemlich gut. Bevor das Wort „neoklassisch“ zur Schublade der Popkultur wurde für introspektive Erkundungen, zwischen klassisch geschultem Ohr und autodidaktischer Aneignung, setzte Rogers Soloalbum „Voices“ (aus Bob und Dan Lanois‘ Grant Avenue Studios in Hamilton, Ontario) die berüchtigte Messlatte hoch für eine Musik, die nicht nach Aufmerksamkeit giert, und uns Ohrensesselreisende in ein kontemplatives, a l p h a w e l l e n f r e u d i g e s Stimmungsfeld versetzt.
„Modern Mood Music“, so betitelte Richard Williams einst im Melody Maker eine Besprechung der Schallplatten „Places“ von Jan Garbarek, „Mr. Gone“ von Weather Report, und „Music For Films“ von Brian Eno.) Oft genug gelangen dem Mann aus Woodbridge (in den Jahren und Arbeiten nach „Voices“) delikate Gleichgewichte zwischen Oberflächenreiz und Tiefenwirksamkeit. Die Konstante: ein dunkles Leuchten, die Bandbreite erstaunlich, zwischen Kammerspiel und Kunstlied, Improvisation und Ambient. Highlights wie „Voices“ (das Album bescherte ihm einen kleinen Geldsegen, weil es dem „Erotik-Thrill“ des Kinofilms „9 1/2 Wochen“ ein paar Atempausen bescherte), „Between Tides“, „The Flatlands“, „Lost In Transition“, „Swimming“ und – Soundaskese pur – „The Floating World“. Alle Süßholzraspelei meilenweit entfernt. Verdammt ernste Musik mit einem beinahe kindlichen Gespür für das Staunen. Rogers Samtpfotenpiano, die Verwehungen des Streicherensembles Scoring Berlin, Tibor Remans Klarinette („On The Horizon“) – die Besetzungsliste wäre unvollständig ohne einen gewissen Mr. „In-Between“, ohne den unbestimmten Raum (Zonen namens Aura, Nachklang, Stille).
Im Gegensatz zu dem über lange Zeiten fast nomadischen Leben seines Bruders Brian liess es Roger von früh an ruhig angehen, und verliess nur sporadisch die Räume seiner Kindheit in East Anglia. Dieses neue, allerfeinste Opus beginnt mit „A Place We Once Walked“ – wäre der Begriff „Heimatmusik“ bloss nicht so gruselig konnotiert, hier könnte er vor Anker gehen! Manche dieser pastoralen Szenerien (gutes altes Cinemascope) erfordern einen double take: Spuren des Unheimlichen, die sich hinter dem Schimmer, dem „Anheimelnden“, verbergen! Übrigens, wenn man das Klappcover der Schallplatte öffnet, findet sich eine Reihe von kleinen Fotos aus Rogers Archiv, eine dezente Anreicherung all dieser wunderlichen Melancholien einer als Musik getarnten Tranceinduktion erster Güte.
2022 23 Apr.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Deutschlandfunk | 8 Comments
What else to do at home, in times of the virus? The acoustic, the electric guitar, loops – all at his hand. A cover to make you smile, at least for a moment, for such were the looks of nature, in the first lockdown – islands deserted from the tiniest idea of tourism, and the nature taking a deep, deep breath from noisy pasts. Has Mr. Scofield really been on Sylt, I do have these dejavues of course – no, he hasn‘t. Look at the buildings in the distance! The fence work. So many lonesome coasts across the ocean. Lay back, take your time. I contacted Luciano Rossetti, who did the photo for „Solo“, and this is what he wrote:
Collaboro con Ecm dal 2008, per loro finora ho sempre fornito foto per „inside use“ e „press use“, musicisti come Francois Couturier, Gianluigi Trovesi, Tomasz Stanko, Savina Yannatou, Arvo Pärt, Giya Cancheli, Sokratis Sinopoulos, Craig Taborn, Mark Turner… Quella di Scofield è la mia prima copertina.
La fotografia è stata scattata nel Massachusetts, a Newburyport – Plum Island Beach il 10 aprile 2015. Ero lì con il mio carissimo amico Garrison Fewell, chitarrista americano che suonò con Herbie Hancock, Fred Hersch, George Cables, Cecil McBee, Steve LaSpina, Tal Farlow, Larry Coryell, Steve Grossman, John Tchicai, Steve Swell, Slide Hampton, Benny Golson …
Lui abitava poco distante da quel posto e ci siamo andati perchè mi aveva detto che sarebbe stato un bel posto per scattare fotografie. Lì, oltre a scattare foto all’ambiente, gli ho scattato alcuni ritratti. Quelle sono le ultime fotografie che gli ho scattato perchè Garrison sarebbe morto pochi mesi dopo. Sono particolarmente felice che ECM abbia scelto una fotografia di quella sessione per il disco di Scofield.
…ho come la sensazione che Garrison ci abbia messo lo zampino!
… I somehow have the feeling as Garrison gave a little push!
Best
Luciano
www.lucianorossetti.it
2022 22 Apr.
Uwe Meilchen | Filed under: Blog,Gute Musik | RSS 2.0 | TB | Tags: Brian Eno Livestream Bandcamp | 3 Comments
2022 21 Apr.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 1 Comment
Mit all seinen Einrissen, Schwankungen, Trauerarbeiten, Realitätsverlusten, Traumwelten und harten Wirklichkeiten hat mich die Serie „Station Eleven“, vor ein paar Wochen, nach allen Regeln der Kunst gefesselt (ziemlich abgründig). Die Umsetzung eines Romans von Emily St. John Mandel. Im Guardian las ich die Besprechung ihres jüngsten Werkes, noch „zeitreisewilder“ als Station 11. Und blieb an diesen Zeilen von Marcel Theroux hängen (ich hoffe, sie klingen nicht wie das Wort zum Sonntag:
Auf ihrer Tour hält Olive (eine Hauptfigur von „Sea of Tranquility“) auch einen Vortrag über postapokalyptische Literatur, in dem sie versucht, die Faszination der Menschheit für dieses Genre zu erklären. „Ich glaube, es ist eine Art Narzissmus“, sagt sie. „Wir wollen glauben, dass wir einzigartig wichtig sind, dass wir am Ende der Geschichte leben, dass jetzt, nach all den Jahrtausenden des falschen Alarms, endlich das Schlimmste eingetreten ist, dass wir endlich das Ende der Welt erreicht haben.“ Das klingt plausibel, aber es gibt noch eine andere Erklärung, die sowohl freundlicher als auch tiefgründiger ist. Als eine Figur das Grab eines Kindes betrachtet, stellt sie fest, dass es sich für die Eltern des Kindes wie das Ende der Welt angefühlt hätte: „Es hätte sich wie das Ende der Welt angefühlt.“
So wie es in Station Eleven letztlich um die Sterblichkeit selbst ging und darum, wie die Kunst es uns ermöglicht, aus den unmittelbaren Grenzen unserer Existenz herauszutreten, erinnert uns Sea of Tranquility daran, dass der Ruhezustand der Menschheit eine Krise ist. Die Welt von irgendjemandem geht immer zu Ende: Das ist der Grundgedanke dieses Buches. Und die Echos und Rückrufe, die ihm seine Form geben, spiegeln die Art und Weise wider, wie wir unser eigenes Leben sinnvoll gestalten.
2022 21 Apr.
Ursula Mayr | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 45 Comments
… dann hör ich auf mit dem Abgründigen – versprochen!
Das zu Granit erstarrte Gesicht des Mannes – bzw der beiden Männer (man sieht nur nicht beide) signalisiert dramatische Schwere, einen fast tödlichen Ernst. Die Balz ist ein tiefernstes Geschäft offenbar – was uns auch manche lateinamerikanischen Werbungstänze suggerieren wollen, bei denen man einen möglichst finsteren Gesichtsausdruck annehmen muss. Es geht auch hier um Sex and Crime, genauer gesagt um die SM-Szene im Schwulenmilieu in Greenwich Village. Dort treibt ein Serienkiller sein Unwesen, Steve Burns, ein New Yorker Streifenpolizist aka ein furios aufspielender Al Pacino (eine Sahneschnitte, würden die Schwulen ihn nennen) ermittelt undercover in den Lederbars. Unnötig zu erwähnen, dass er heterosexuell ist, unnötig zu erwähnen dass er sich hinterher dessen nicht mehr so ganz sicher ist. Und natürlich den Mörder schnappt, der aus „Küchenpsychologie-Motiven“ gemordet hat, wie Micha sagen würde (Milchbubi mit schlimmem Vater!). Steve Burns geht also „cruisen“ (= umherstreifen an ausgewählten Örtlichkeiten auf der Suche nach schnellem Sex).
Der Killer wird gefasst – so weit so schlecht – allerdings gibt es am Ende noch einen Twist der eine ganz andere Deutung nahelegt, weswegen ich den Film sehr schätze – but no spoilers. Der Film floppte 1980, damals fand ein Wechsel von einem demokratischen (Carter) zu einem republikanischen Präsidenten (Reagan) statt, mit einer entsprechenden Hinwendung zu einem rechtslastigen und klerikalen Wertekanon. Aber auch die Schwulen selbst wandten sich gegen diesen Film, in dem erstmals das SM-Milieu dargestellt wurde – allerdings in Verbindung mit blutiger Gewaltkriminalität. Das nahm man ihm übel. Die SM-Szene ist gewaltfrei – es existieren verbale und gestische Codes über die das „Opfer“ dem „Quäler“, im Jargon der Passive dem Aktiven mitteilen kann, wenn es zuviel wird oder gar lebensbedrohlich, etwa beim Spiel mit der Breath-Control-Mask, bei dem der Passive eine schwarze Ledermaske trägt mit einem Ventil an der Nase über die der Aktive die Luftzufuhr regelt. Das Ziel ist Lust zu bereiten und zu empfinden, für beide oder auch mehrere (Gang-Bang-Parties).
Der Film zeigt eine harte Männerwelt mit vielen Ingredienzien der SM – Welt von der ganze Industrien leben (Fetische, Uniformen, ein Sling, Gummiknüppel, Masken, Bareback-Hosen, Bondage-Accessoires, die bunten Tüchlein in der hinteren Jeanstasche als Code für sexuelle Vorlieben). Tunten gibt es hier nicht. Das Weibliche ist aber ständig anwesend in Form eines Five-letter-words, das mit F beginnt und eine Abwertung des weiblichen Genitales darstellt und das man unliebsamen Zeitgenossen in der Szene entgegenschleudert. Auf englisch fand man den freundlicheren Ausdruck „Pussy“, auch für Feiglinge und Weicheier verwendet, im Süddeutschen das warmwollige „Muschi“, im Rheinland gibt es offenbar in der Schwulenszene den Begriff „Quarktasche“. Der weibliche Körper als etwas zutiefst Verachtenswertes? Hassen Schwule Frauen?
Zu Anfang treten zwei Stricher auf – transsexuell verkleidet in Polizeiuniformen, mit blonder Wallemähne, stark geschminkt und mit klirrenden Sporen an den Stiefeln. Was suchen ihre Freier? Die Frau als Karikatur? Als Mischwesen? Als androgyne Domina? Als jemand der schlechthin alle denkbaren Bedürfnisse zu befriedigen vermag? Ladyboys die beide Möglichkeiten bieten?? Nach einigen Besuchen im Lederclub beginnt sich Steve Burns vor dem Ausgehen zu schminken wie ein Teenie. Lässt sich beim Kennenlernen die Brust befühlen wie eine Frau. Der Mann als gefallsüchtiges Weibchen? Welcher Teufel fährt hier in den rechtstreuen New Yorker Cop? Nur wird der Teufel diesmal nicht ausgetrieben, er bleibt in seinem Wirtskörper bis zur letzten Konsequenz – geht also einen Schritt weiter als der „Exorzist“, ebenfalls von Friedkin.
1970 fand der erste Christopher Street Liberation Day statt. 1972 schwappte der Brauch nach Deutschland. Hat Friedkin den Schwulen einen Gefallen getan indem er die Szene als Folie für das Treiben eines sadistischen Killers benützte? Schwulenverbände demonstrierten öffentlich gegen den Film. Der Film strotzt nur geradeso vor machtvoller Männlichkeit. Und doch wird auch in dieser Szene aktiv penetriert und passiv weiblich empfangen, die Mann-Frau-Polarität nicht aufgehoben, im Film angedeutet in einer Szene von fistfucking oder kurz „fisten“.
In einem Seminar, in dem ich den Film zeigte (die Wirkung eines Films erschliesst sich am präzisesten in der Beobachtung des Publikums) gerieten die weiblichen Teilnehmer in Unruhe bzw den Zustand einer Regression ins Orale, sie suchten häufig den Tisch mit den Knabbereien auf bis alles verputzt war und konsultierten den Kaffeeautomaten. Sie fühlten sich nicht wohl konnten ihre Affekte aber schwer versprachlichen. Die Herren (alle hoffnungslos hetero) bewahrten die Ruhe und knabberten nicht, die dargestellte Sexualität brachte sie nicht in affektive Schwingungen, vermutlich schafft es der Film hier nicht erotische Stimmung zu erzeugen, eher Schwere und Beängstigung. Klar, ist ja auch ein Killer anwesend. Später klärte sich diese Spaltung. Die Botschaft des Filmes war für die Frauen: Der Mann in diesem Film ist sich selbst genug. Er kann aussehen wie eine Frau, bietet mehr sexuelle Variationen wie eine Frau, hat penetrierbare Öffnungen wie eine Frau, hat eine reizvolle Brust (insofern er ein Fitnesstudio besucht, wabbeln darf da nichts!), verachtet das Genitale der Frau. Und was noch alles …
Wozu noch Frauen? Auch wenn zwischen dem „Exorzist“ und „Cruising“ einige Jahre liegen, frage ich mich doch, ob hier nicht eine Antwort des Mannes als solchem auf den gefürchteten Feminismus gefunden wurde. Wenn Ihr Euch uns entzieht, brauchen wir Euch auch nicht! Wir können das alles nämlich selbst! Vielleicht noch besser und befriedigender! Fuck off!