In einem Gespräch neulich mit A tauchte ein Thema auf, das mich seit Längerem beschäftigt, nämlich die Dichotomie von Realität und Fantasie. A meinte, er sei durch und durch Realist. Da er auch seit Jahrzehnten schon sich als großen Kafka-Freund bezeichnet, werde ich ihn bei Gelegenheit auf dessen Parabel „Von den Gleichnissen“ hinweisen und sogleich meine persönliche, literarisch sicherlich nicht ganz fachgerechte Interpretation frei Haus liefern: nämlich die, dass man zwar de facto in einer Fantasie-freien Welt leben kann und darf, dies aber aus Sicht kreativer „Phantasten“, also der mit Einbildungskraft begabten, ein Nachteil wäre: man hätte etwas verloren. Sachliche Faktizität ist unbestritten erforderlich in so mancherlei Berufsbereich, sei es als Handwerker, Programmierer oder Jurist. Auch der Friedenstaube, die sich urplötzlich dem Maul eines Alligators gegenübersieht, das weit geöffnet ist, nicht um Argumente vorzutragen, sondern um zuzuschnappen, bleibt nur die nüchterne und fantasiefreie Anerkennung ihrer misslichen Lage. In Zeiten des Krieges nun wird ein grundlegendes Bedürfnis wieder bewusst, das mich seit frühen Kindheitstagen prägte und eine Strategie entwickeln liess: die rettende Flucht in die Literatur, die Kunst, die Einbildungskraft und die Musik. Hier nämlich entfaltete sich ein Identität stiftender Raum, ein Haus des Seins, in dem es sich überhaupt atmen und wohnen liess: in jene Bereiche mich rettend, die ich in Anlehnung an den gleichnamigen Buchtitel des Philosophen und Ethnologen Hans-Jürgen Heinrichs als „Erzählte Welt“ bezeichnen möchte. Heutzutage höre ich mir sogar einen Vortrag über Kriegsführung gerne an, wenn er von einem klugen Historiker sanft und erhellend vorgetragen, also erzählt wird und nicht etwa, wie in diesen shitstorm-reichen Tagen, rechthaberisch an die Wand drückt. Dialogbereitschaft sei das Stichwort jeder guten Stunde! „Peace on my Mind“ heisst denn auch einer meiner Lieblingssongs des Robben Ford. Gekonnte und stilsichere Variationen des altehrwürdigen Blues werden gewürzt mit kalifornischem Westcoast-Feeling, das schon Joni Mitchell zu schätzen wusste. Für Sprachmelodien und Gitarrenriffs gilt Gleiches: sind sie Frieden stiftend, hört man gerne zu.
4 Comments
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Michael Engelbrecht:
Ich plauderte noch unlängst mit Chrissie darüber – Neil Youngs Album COMES A TIME liefert solche peace of mind-Welten von Anfang bis Ende, nicht nur in dem Track Peace of Mind.
Übrigens: zum Bedeutungshof von identitässtiftend zählt für mich „identitäts-erweiternd“ (eine Identität als fliessendes Gebilde, mit Kern und Rändern, nicht mal der Kern ist ein „fixum“).
Eine starre Identität befördert ein starres Selbstbild und ist problembehaftet.
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Chrissie:
Das wäre somit eine Quantenphysik der Psyche – ein System von sich ständig überlagernden und kollabierenden und sich neu aufbauenden Zuständen.
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Michael Engelbrecht:
Yep. Ein update zum Urfreud mit seinem Seelenmodell. Ein bisschen gefüttert vom Zen für westliche Geister :)
Ich möchte das nicht so hoch hängen … alles fliesst, letztlich kommen wir immer zurück zu den Vorsokratikern :) :)
Und, wem erzähle ich das 😅
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Lajla:
Der Philosoph soll als Arzt der Kultur tätig sein, sagte mal Nietzsche. Ich würde jetzt noch mal Zorn und Zeit von Sloterdijk lesen, wenn ich das Buch hier hätte.