Wimmelbilder kennt man: Zeichnungen, die umso mehr Details offenbaren, je länger man draufschaut. Wimmelbilder sind auch das Prinzip der meisten Film- oder TV-Serien: „Star Wars“, „Batman“ oder „Succession“ führen zu immer detaillierteren Blickwinkeln auf Charaktere oder Sachverhalte. In der Literatur kennt man das Wimmelbildprinzip von Fortsetzungsromanen, sei es Enid Blytons „Abenteuer“-Serie oder sei es der immer weiter ins Detail gehende Blick auf die Figuren im Tolkienschen Kosmos. Letzthin hat Christoph Dallach weitgehend kommentarlos alle möglichen — auch inkompatiblen oder einander widersprechenden — Musikerstatements unter dem Rubrum „Krautrock“ so zusammengefügt, dass sie doch eine kompakte Einheit bilden. Keine Meldung in den Fernsehnachrichten mehr, die nicht so gebaut ist, dass für morgen eine Fortsetzung möglich ist. Das Prinzip ist das der Selbstähnlichkeit des Apfelmännchens — der Versuch, die Ordnung im Chaos zu sehen. Man wird durch ständig neue Ausschnittvergrößerungen aus Ausschnittvergrößerungen im Rahmen einer ständigen Wiederkehr des Immergleichen geführt.
Seit inzwischen nun auch bereits einiger Zeit findet man dieses Bauprinzip um bestimmte Jahreszahlen herum, die irgendeine „Schlüsselbedeutung“ haben. Heinz Schilling schrieb über das Jahr 1517, Adam Zamoyski über 1815, Uwe Wittstock über den Januar 1933; Florian Illies hat das schon vor etlichen Jahren gemacht, als er die „Generation Golf“ erfand. 2012 schrieb er ein Buch über das Jahr 1913 — Tag für Tag, und auch das war ein Versuch, die diversen Ereignisse eines Jahres unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln. Und wenn man ein so exzellenter Schreiber ist wie Illies, dann wird aus einem solchen Flickenteppich wirklich eine lesenswerte Einheit. (Das Nachklappwerk „1913 — Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ von 2018 war dagegen eher von der Sorte „Man merkt die Absicht und ist verstimmt“.)
Und jetzt gibt es „Liebe in Zeiten des Hasses“. Hier geht es darum, in kurzen Abschnitten Schicksale, Lebenswege und Beziehungschaos etlicher durchweg bekannter Persönlichkeiten zwischen 1929 und 1939 thematisch zu vereinen, wobei das Buch im Prinzip nur eine Teilung kennt: Vor 1933 und nach 1933.
Mehr als einmal habe ich mich gefragt, ob das Buch eigentlich auch dann interessant wäre, wenn es darin nicht um wohlbekannte Größen wie Klaus und Erika Mann, Walter Benjamin, Gustaf Gründgens, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Bert Brecht samt Hofstaat, Hermann Hesse und viele, viele weitere ginge, sondern um Lieschen Müller und ihren kleinen, für die Weltgeschichte unbedeutenden Beziehungsstress. Könnte es sein, dass man hier einem wunderbar geschriebenen Namedropping auf den Leim geht? Ist das nicht die gehobene Variante der bunten Klatschblätter, die man beim Friseur liest? Zumal man sich beim Lesen zunehmend fragt, woher der werte Autor das alles eigentlich so genau wissen will und sich der Eindruck einstellt, dass da wohl oft nur zwei und zwei zusammengezählt worden ist. Dass eine unglaubliche Recherchearbeit in diesem Buch steckt, ist klar, die verwendete Literatur wird im Anhang auch genannt (und lädt in vielen Fällen zum Weiterlesen ein). Aber man weiß natürlich, dass nirgendwo so viel gelogen wird wie in Autobiografien und Tagebüchern, jedenfalls, wenn letztere von vornherein im Hinblick auf ihr Publikwerden nach dem Ableben ihres Verfassers entstanden sind.
Ernster wird das Buch im zweiten Teil. Da nämlich geht es nicht mehr vorrangig um scheiternde oder glückende Liebesbeziehungen, sondern nun werden diese zunehmend in den Kontext von Verfolgung, Exil und den nicht seltenen tödlichen Konsequenzen gestellt, und das ist dann eine andere Dimension. Da steht man vor den Trümmern so mancher Existenz. Und es wird einem klar, was für ein riesiger Unterschied es ist, ob man ein Land freiwillig verlässt oder ob das Wissen um das sonst mögliche Kaltgestelltwerden, den Knastaufenthalt oder gar den Tod dahintersteht.
Ein kleines Manko: Gelegentlich wird in diesem Buch auf veraltete Quellen zurückgegriffen. Der Tod Kurt Tucholskys etwa wird hier noch immer ausführlich als Selbstmord dargestellt; tatsächlich ist sich die neuere Forschung da aber gar nicht mehr so sicher — wahrscheinlich war es doch eher der Unfallklassiker „Schlaftabletten und Alkohol“. Erich Kästners tägliche Postkarten an seine Frau Mutter werden hier als klassische „Muttersöhnchen“-Beziehung geschildert. Dass das eine enge Beziehung war, darf man wohl annehmen, aber der Kästner-Biograf Klaus Kordon hat schon vor einigen Jahren eine nicht weniger einleuchtende These aufgestellt: dass nämlich Kästners Postkarten vorrangig den Zweck hatten, sich die Mutter vom Hals zu halten, indem er sie mit Informationen überflutete. — Aber das sind Petitessen.
Und irgendwie ahnt man auch schon, welcher Zeitraum als nächstes Wimmelbild kommen könnte. Und man ahnt, dass man wieder kopfüber hineinfallen wird.