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2021 16 Dez

From Bergeinöden to London – eine wahre Weihnachtsgeschichte (1982)

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 3 Comments

 

Ich hatte mal einen Caféhauskumpel namens Dirk Zander. Er erzählte besonders gerne von einer Ausgabe meiner „Klanghorizonte“, die auf den ersten Weihnachtstag gefallen war, und die ich mit einem abgründig melancholischen Lied gestartet hätte, „It’s Raining Today“, von Scott Walker. In allerlei Variationen gab ich dann zum Besten, dass diese kollektive  Gefühlsseligkeit einfach zuviel des Guten sein könne, dass man es sich auch sehr behaglich im Unheimlichen einrichten könne. Ja, tottraurige Musik zu Weihnachten könne  etwas durchaus Beglückendes haben. Dirk hört gerne Blues und Neil Young, besonders faszinierte ihn der herrlich abgedrehte Schlussong seines ersten Soloalbums („The Last Trip to Tulsa“). Ihm widme ich diese kleine Story. Und hoffe, dass „Barn“ von Neil Young und Crazy Horse auf seinem Gabentisch liegt. Das alte Feuer glüht auf dem Meistersong „Welcome Back“.


Der
 Kollege drehte sich eine Zigarette, er sass mir gegenüber in unserem Zwei-Mann-Büro. Zwei Psychologen, einer hatte Liebeskummer. Michael, um aus dieser Nummer raus zu kommen, flieg nach London, über Weihnachten, das ist doch deine Stadt. Du musst einfach ständig wach sein, saug Piccadilly auf, das tut richtig weh, aber gut, alleine, ganz alleine, saug die Einsamkeit auf. In vollen Zügen. Das hilft. Down to the bottom! Ja, sie ist bestimmt die schönste Frauen Regensburgs. Du warst ihr Ausbruch, sie hat die Reissleine gezogen.

Die Würfel sind gefallen. Er hatte ja so recht. Ich wohnte noch immer am Ende der Welt, die Wölfe der Tschechei kamen manchmal über die Grenze, und ein Buch mit Kurzgeschichten von Richard Brautigan lag neben dem Bett. Ich fuhr von Bergeinöden nach Frankfurt und besorgte mir ein Flugticket nach London. So allein wollte ich auch nicht sein, und so kündigte ich meinem alten Würzburger Freund David Webster meinen Besuch an. Er freute sich darauf, mich wiederzusehen.

In Frankfurt verweigerten sie mir die Einreise nach London. Ich landete in Büros, und musste sogar zu einem amerikanischen Konsulat, wieso musste ich auf das fucking amerikanische Konsulat? Ein Riesentheater, und ich war sauer, und zeigte das auch. Da klärte es sich, dass ich als Amerikareisender gebucht war, ohne Visum, alles war ein Missverständnis im Frankfurter Nieselregen. Lauter Sorrys und Entschuldigungen, und Lufthansa schenkte mir ein Ticket für die Business Class, mit Sekt und allem Drum und Dran für eine Dreiviertelstunde Flug in den Londoner Nebelregen.

Heiligabend war ich bei den Websters eingeladen, bis dahin hatte ich zwei Tage: billige Absteigen, alte Cafes, und ich besorgte mir sofort ein Musikmagazin. Musik sollte Teil meiner Selbsttherapie sein. Ich liess mich in einem Pub nieder, erleichtert nach dem Tagesstress, der Kaktus auf der Ablage über mir geriet in Bewegung und plumpste dem Mann hinter mir in den Nacken. Ein Aufsschrei. Ich kümmerte mich sofort um ihn, zog ihm einzelne Stachel raus, ein paar Stellen waren blutig, aber er blieb freundlich. Der Pubbesitzer hatte sogar ein Desinfektionsmittel. Am Abend ging ich in den Marquee Club, um Jah Wobble & The Invaders of the Heart zu erleben.

Jah Wobble hatte einen Trenchcoat an, der aussah, als wäre er den ganzen Tag durch den Londoner Dunkelregen gewandert. Man konnte hören, dass Jah Wobble nach der Zeit mit Public Image Ltd. noch viel mehr in die Welt des „elektrischen Miles“ eingetaucht war. Dunkel pulste sein Bass durch den Raum. Eine Trompete mit Wah-Wah-Pedal verschickte knappe telegraphische Notizen, der Drummer hämmerte wohltuende Monotonie. Da erkannte ich sie und taufte sie Healy. Du bist die Fremde, mit der ich diese Nacht erobern werde. Sie stand alleine an der Seite, und trug auch einen fucking beautiful Trenchcoat. Hoffentlich war sie kein Jah Wobble-Groupie. War sie nicht.

Nach dem Konzert lud ich sie zu einem Drink ein, nachdem ich mich freundlich vorgestellt hatte. Why me, fragte sie mich, und ich sagte, your eyes. Sie hatte ein kleines Appartment in West Hampstead. Sie legte eine gemeinsame Lieblingsplatte auf, Chairs Missing von Wire, und dann schliefen wir miteinander. In dieser Nacht lösten sich die Bilder der schönsten Frau Regensburgs in den Umarmungen einer Wildfremden  auf. Wir kifften, lachten, und mochten einander – small talk with a beating heart.  Sie hatte kleine feste Brüste und einen extrem schlanken Körper, Londoner Regenblässe. Sexual Healing. Ein wenig.

Ich wanderte den ganzen Tag durch Hampstead Heath, ich hörte spät am Abend John Peel im billigen Hotelzimmer (er spielte Musik von Howard Devotos Band  „Magazine“, ich weiss es noch genau, einen Song aus „Second Hand Daylight“, oder „The Correct Use of Soap“, wunderbar) und am nächsten Abend, Heiligabend, traf ich bei den Websters ein. Es gab Gans, Rotkohl, und Plumpudding. Es waren noch andere Gäste da. Ich hatte mir einen Infekt eingefangen, und später nachts 38.9 Grad Fieber. Ich schnupfte. David sagte: Michael, erzähl, wie war das Jahr? Wollt ihr das wirklich hören? Ja, Mann! Und ich erzählte die ganze Geschichte. Bis zu dem Augenblick, wo mein Kollege sich eine Zigarette drehte. In einer Fachklinik für Suchtabhängige. Ich ruinierte die Party mit dieser Story, leider. Obwohl ja alles so magisch anfing, mit einem Western mit James Stewart,  und dem berühmten Song der Gruppe Grauzone. Ich hätte gerne als Entschuldigung einen Weihnachtsbaum gestiftet. Für Mrs. Webster wurde ich zum roten Tuch.

Das Allerschönste in diesen Tagen waren die Fahrten mit der Underground, besonders die Augenblicke, wenn man die letzte Treppe zum Tageslicht betrat. Immer wieder gerne: Piccadilly Circus, die bunten, flackernden Werbetafeln im Dauerregen. Ich kam mir vor wie in einer ungeschriebenen Geschichte von Richard Brautigan. Eine, in der  Duftkerzen Patchouli verströmen, die Kinks im Radio „Mr. Pleasant“ spielen, ein Hirschbraten mit Preiselbeerrahm serviert wird, und  ein paar Glückskekse am Tannenbaum hängen. 

This entry was posted on Donnerstag, 16. Dezember 2021 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

3 Comments

  1. Martina Weber:

    „Secondhand Daylight“ hast du auch in den Klanghorizonten aufgelegt. Allein schon wegen des Albumtitels habe ich die CD gekauft und eben mit dem zweiten Griff – weil ich ungefähr wusste, so ich sie hingestellt habe – aus dem Plattenschrank geholt. Ziemlich gruseliges Cover. Wie eine nicht gezeigte Einstellung der Highwayszene aus Hitchcocks „North by Northwest“.

  2. Olaf Westfeld:

    Ich habe einmal auf eine „How are you“ Frage in den USA eine ehrliche Antwort gegeben, danach hat mich die Person nicht mehr gegrüßt – dabei war es wirklich nicht böse gemeint.

  3. Michael Engelbrecht:

    Jetzt musste ich überlegen, Olaf. Du beziehst dich auf die Stelle der Weihnachtsgesellschaft, an der David mich fragt, wie das Jahr gewesen sei, und ich noch eine freundliche Warnung parat hatte…?!

    Ja, dann habe ich die ganze Story erzählt, von der HIER nur der Anfang vorkommt, mit einem Western und der Gruppe Grauzone.

    Wie ich mich am Ende der Welt verliebte, und dann einen showdown der ganz trostlosen Sorte erlebte, das kam nicht so gut rüber.

    Ich kann aber sagen, diese Londoner Tage und Nächte gehörten zu den erfüllteren Phasen der Trauerarbeit😉…

    ..l ich meine, ich stürzte ja nicht ab, und „sex, drugs and Rock‘n‘Roll“ waren gut dosiert. Haley war eine Art Engel, meinte Freund Brian Whistler, der diesen Text auf englisch las.

    Das war mein zweiter Besuch im Marquee Club, 1982, der erste war, ich war 17, 1971 ebenda, die Gruppe Steamhammer. Das war der Hammer, my friend!


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