Manafonistas

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2021 19 Okt.

Philosophischer Zwischenfunk

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 5 Comments

 

Die längere Wartezeit im Wartezimmer einer Praxis liess sich wieder einmal gut überbrücken mit der Lektüre eines mir sonst nicht zugänglichen Zeitschriften-Artikels. Aus dem Inhalt wählte ich etwas über Nawalny, doch das daneben sprang mich direkt an: ein Interview mit Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa anlässlich ihres gemeinsamen Buches. Mein Instinkt funktioniert eben doch so, dass ich der Philosophie den Vorzug gebe vor so manchem Politikum (und sei es das von Dissidenten). Hochspannend also nimmt das Gespräch viele Gedanken auf, die mich auch in diesen Tagen beschäftigten: so die Frage, warum Grün und Gelb sich so sondierungsselig und harmonisch aneinander schmiegten. Andererseits logisch, trifft sich doch dort das hippe akademische Bürgertum, die Homeoffice-Elite. Oder eine andere Frage: wird die Zukunft utopisch oder dystopisch sein? Reckwitz sieht’s wohl eher düster, glaubt nicht an einen Wandel des Systems. Rosa ist mehr positiv gestimmt, kein Wunder, seine Begriffe von „Resonanz“ und „Unverfügbarkeit“ sind ja in aller Munde. Fehlte nur noch ein Dritter im Bunde, nämlich Byung-Chul Han: dem wiederum begegnete Gerd Scobel und das Gespräch kann ich nur empfehlen. Han wirkt dabei wie eine Spinne im Netz ihrer eigenen Gedankenkonstrukte, die sich, ähnlich den Modulen des Pianisten Nik Bärtsch, grenzenlos ineinander verschachteln liessen. Insofern wundert’s nicht, wenn dieser auch zum Abschluss meint: „Wir könnten ewig weiterreden“. Han ist Pessimist, aber das Zuhören und das Lesen lohnt sich.

 

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5 Comments

  1. Olaf Westfeld:

    Sehr passendes Bild, die Gedankenräume von Byung-Chul Han erscheinen tatsächlich unendlich verschachtelt und kombinierbar. Wirklich sehenswert, danke dafür. Schade, dass er auf die letzte konkrete Frage (sinngemäß „was tun?“) eher theoretisch antwortet.

  2. Lajla:

    Danke Jochen für die tollen Hinweise. Ich habe mir das Buch von Rosa und Reckwitz bestellt. Byung-Chul gibt schon Antworten, z. B. wenn er sich auf Hannah Arendts Viva contemplativa bezieht. Er ist im Grunde auf dem gleichen Entschleunigungstrip wie Rosa, der gegen die permanente Steigerung als Lösung ist. Ich verstehe auch nicht das neue Regierungsprogramm der Ampel di Bampel: was soll denn wachsen?

    „Weniger ist mehr“ kann aus der Kunst entlehnt werden. Zum Beispiel dieses wunderbare Konzert der Eno Brüder in Athen. Brian war schon immer avantgardistisch. Diese minimalen Klavierklänge, sein ruhiger Gesang, das ist Ausdruck davon, wie beschaulich die Moderne sein kann. Ein ganz großes Konzert übrigens.

  3. Michael Engelbrecht:

    Toll, dass das Athener Konzert in Spanien zu sehen ist. In England und Usa nicht.

    Gravitas und Grandezza.

    Der Ausdruck Grandezza fiel mir intuitiv ein, ich hoffe, er macht Sinn, für diese sehr neo-romantische, zeitlose, Spielart von

    Avant-

    und Retrogarde😉🪂

  4. Olaf Westfeld:

    Ja, stimmt, Entschleunigung und einen Garten anlegen, das hat er gesagt und sich ja auch als Pessimisten geoutet. Wenn man das weiterdenkt, sollte man mehr Waldkindergärten gründen, mehr Gartenbauunterricht geben, so dass die Kinder mehr von unmittelbaren Naturerlebnissen geprägt werden?

    Passt da dieses Zitat von John Burnside rein, über das ich gestern gestolpert bin: „Glamourie bedeutet eine andere Weise des In-der-Welt-Seins, eine plötzliche, oft beängstigende Offenheit, die Seele offen wie die einen Spaltbreit geöffnete Tür, …, die physische Welt unmittelbar, vertraut und erotisch, mit neuer Energie belebt, mit neuem Licht, und zugleich wunderbar gefährlich.“?

  5. Jochen:

    Schönes Zitat, passt gut. Waldkindergärten sind toll.


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