Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2021 4 Okt.

FVTVRE SOVNDS

von: Uli Koch Filed under: Blog | TB | Tags:  | Comments off

Wie klingt die Zukunft? Wie klingt die Zukunft, wenn man in einem Land aufwächst, dessen Kultur und Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg in Trümmern liegen, wo Kultur im 3. Reich systematisch auf ein retrogrades infantil-atavistisches Kunst- und Musikverständnis runtergebrochen worden war und diese Stunde null scheinbar nie aufhören wollte. Sich musikalisch dann versuchsweise bei angloamerikanischen Produktionen zu orientieren liegt nahe, ist aber kaum mit dem deutschen Nachkriegslebensgefühl in Deckung zu bringen. Da musste etwas Neues her, etwas Ureigenes.

Hier hat sich Christoph Dallach, angeregt durch Gespräche mit Irmin Schmidt und seiner Frau Hildegard und Julian Cope’s „Krautrocksampler“, akribisch auf die Suche gemacht und Musiker und Kulturschaffende im In- und Ausland interviewt, um die Entstehungsmomente und Strukturen einer ganz neuen Musik in Deutschland zu ergründen. FVTVRE SOVNDS ist erzählte Geschichte, qualitative Feldforschung und äußerst spannende Lektüre bis zur letzten der fast 500 Seiten. Er benutzt dabei die Methode, die schon Jürgen Teipel mit seinem immer noch bissig-provokanten „Verschwende Deine Jugend“ und Rüdiger Esch mit „Elektri_City“ entwickelt haben, spart deren Themen vorsichtig aus, ohne etwas zu kurz kommen zu lassen und schlägt einen ganz weiten Bogen von der Vorgeschichte zum Höhepunkt experimenteller Musik in Deutschland bis zu den Spuren in der aktuellen Musikkultur. So umfangreich, wenn auch aus ganz anderer Perspektive hat das bisher nur Jan Reetze mit „Times & Sounds“ getan, wobei Dallach den Weg wählte, dieses höchst lesenswerte Stück Zeitgeschichte ausschließlich in den eigenen Worten der Protagonisten zu dokumentieren.

Es geht hier um Krautrock. „Der Begriff ist Quatsch“, sagt Holger Czukay, „ein idiotischer Begriff“ ergänzt Iggy Pop. „Wir machen elektronische Musik, weder Kraut noch Rock“ meint Klaus Schulze. Und Mani Neumeier rettet mit der simplen, wie wahren Feststellung, dass hier ja nicht von dem Kraut, das man isst, sondern von dem, das man raucht die Rede sei. Und Rock? „Rock steht für gar nichts … das machen auch Rechtsradikale“ stellt Jaki Liebezeit lakonisch fest. Kurzum: hier in Deutschland hätte sich niemand so bezeichnet. Wahrscheinlich stammt das Label „Krautrock“ aus der Feder des Musikverlegers Simon Draper bei Virgin Records, der einen knackigen, verkaufsfördernden Überbegriff für die damals in England sehr gefragte deutsche Musik suchte. Für die weitere Verbreitung tat dann John Peel im Radio was er konnte, denn diese Musik, die da aus Deutschland kam war innovativ, experimentell, auf das Wesentliche reduziert, streng und fokussiert, ganz anders als die angloamerikanische Musik zu dieser Zeit. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Musik außerordentlich heterogen war und aus einem weiten Spektrum von musikalisch hochgebildeten Musikern (Irmin Schmidt, Holger Czukay, Michael Rother etc.) bis zu musikalisch völlig unbefangenen Dilettanten, von Folk- und Weltmusikern bis zu psychedelischen Revolutionären ihre kreativen Zuflüsse bezog. Interessant war hierbei, dass diese Szene sehr viel mehr Einflüsse aus zeitgenössischen Kunstkonzepten bezog als aus der sonstigen Gegenwartsmusik. Doch dann gab es noch Stockhausen und den amerikanischen Minimalismus, sowie der freie Umgang mit Improvisation aus dem Free Jazz als wichtige Impulsgeber, aber auch den unbeirrbaren Willen etwas neues zu schaffen und das Kopieren bestehender Strukturen um jeden Preis zu vermeiden. Die Herangehensweise war dabei sehr unterschiedlich von kollektiven, alternativen Lebensformen in Kommunen (Faust, Amon Düül, Cluster) bis zu offenen Sessionformaten, wie sie im Berliner Zodiak oder bei Can gelebt wurden. Gemeinsam war aber allen, dass auf auch nur annähernd konventionelle Songstrukturen verzichtet wurde und lange, bisweilen ausufernde Sessions zentral zur Klangneufindung beitrugen. Die Ergebnisse waren einzigartig, überraschend und viele hören sich auch Jahrzehnte später noch überraschend frisch an.

Lange schon war dieses Buch angekündigt gewesen und Christoph Dallach hat sich keinen Augenblick zu spät an die Arbeit gemacht, denn viele seiner Interviewpartner leben inzwischen nicht mehr, wie Dieter Moebius, Holger Czukay, Jaki Liebezeit, Christian Burchard, Bernd Witthüser und Gabi Delgado-López. Allein schon an der Auflistung der inzwischen Verstorbenen kann man die enorme Spannweite der damaligen Kreativkraft nur erahnen. Was das Buch ebenfalls sehr spannend macht, ist dass Dallach auch nicht oder nur zum Teil beteiligte Musiker und Produzenten aus dem Ausland interviewt hat, u.a. Brian Eno, Steven Wilson, Jean Michel Jarre. Hier wird sehr deutlich, wie sehr die Rezeption im europäischen Ausland und in den USA dazu beigetragen hat, dass die deutschen Musiker überhaupt Anerkennung fanden, denn der Blick des großen Publikums war immer noch an den angloamerikanischen Charts orientiert. Klaus Schulze bringt das auf den Punkt: „Es klingt absurd, aber gerade wenn man als Deutscher etwas Eigenes machte, wurde man in Deutschland quasi selbst zum Ausländer und gerade dadurch fürs Ausland interessant“. Gerade diejenigen, denen gegenüber ein Kontrapunkt gesetzt werden sollte, haben also nicht unwesentlich zum Erfolg vieler deutscher Gruppen und Musiker in dieser Zeit beigetragen. Vermisst habe ich wirklich nur wenig, vielleicht wären Beiträge von Manuel Göttsching oder Eberhard Schoener noch interessant gewesen und eine Diskografie am Ende des Buches.

Eine lesenswerte und zutiefst faszinierende Reise durch diese 10-15 Jahre bis Ende der 70er, in denen ein kriegsbedingtes Kulturvakuum füllend eine kreativste Musikexplosion stattfand, die die Popmusik bis heute noch nachhaltig beeinflusst. Und zum Schluß bleibt nur eine, fast etwas traurige Erkenntnis: Krautrock hat es nie gegeben.

 

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