Eine Zeile aus einem Kinderlied, der Refrain. Es ist eine Zauberformel aus dem Lied „Auf einem Baum ein Kuckuck“, das, wie Wikipedia weiß, zuerst 1838 in einer Sammlung von Volksliedern erschien. Ich schlug das Buch auf, las den Liedtext, und versuchte, die Melodie, wie ich sie kenne, singend hinzubekommen, bin aber aus der Übung. Der erschossene Kuckuck, der nach einem Jahr wieder da ist. Ein Fall von Magie, auch von Symbolkraft, aber in der dritten oder vierten Klasse haben wir darüber bestimmt nicht gesprochen. Der zweite, der wieder aufgetauchte Kuckuck wirft Fragen auf, auch die nach der Identität. Martina Bilke hat ihren dritten Roman nach diesem Lied betitelt: „Auf einem Baum der Kuckuck“. Die Frage nach der Identität steht hier im Zentrum. Inwieweit wird die Persönlichkeit eines Menschen durch Gene, Erfahrungen in der Familie, durch Erziehung geprägt und inwieweit durch das eigene Umfeld und den eigenen Willen? Die traditionsreiche nature-nurture-Debatte. Können wir ausbrechen, uns lösen? Martina Bilke konzentriert sich auf die Frage, wie es sich auf ihre Hauptfigur auswirkt, wenn sie etwas über eine Verwandte erfährt, was nicht nur ihr Bild von der nahe stehenden Person radikal verändert, sondern auch ihre eigene Selbsteinschätzung.
Ánaca ist 23 Jahre alt und dabei, ihr Studium abzuschließen. Sie lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Venezuela, sie ist Deutsche, zweisprachig bei der Großmutter aufgewachsen, glücklich verliebt. Der Plot wird nicht verraten. Der Roman ist atmosphärisch dicht, aus der Perspektive von Ánaca geschildert und doch mit diskreter Distanz, fein und klug komponiert, und schafft es bei mir nach ein paar Seiten, bis ich mich in die Perspektive eingefunden habe, einen Lesesog zu erzeugen.
In dem Roman steckt Sprengstoff. Es mag wichtige Gründe dafür geben, warum das Buch erst 24 Jahre nach der Handlung, die sich im Buch über einige Monate des Jahres 1996 erstreckt und in der Reflexion einen großen Sprung rückwärts macht, erscheint. Es werden Namen eingestreut, Orte, Titel wissenschaftlicher Bücher, die existieren. Eines der Bücher, die im Roman genannt werden, erschien im Jahr 1996, und könnte es wegen seiner eminenten Bedeutung für die Aufarbeitung eines Kapitels der Medizingeschichte auch in die kleine Bücherei eines Ortes namens „Himmelsteig“ geschafft haben. „Himmelsteig“ – eine kleine Gemeinde, die ich ohne zu zögern ins Baden-Württembergische Mittelgebirge verorten würde. Einen Bahnhof Himmelsteig, an dem Ánaca ausgestiegen hätte sein können, kennt das Internet jedoch nicht. „Himmelssteig“ mit zwei „s“ dagegen gibt es. Eine winzige Schraube, an der hier gedreht wird, vielleicht um Distanz zu schaffen. Letztlich spielen meine kleinen detektivischen Recherchen keine Rolle. Es hätte geschehen sein können, so oder ähnlich, hier oder da, mit diesem oder anderem Personal. „Auf einem Baum der Kuckuck“ ist Fiktion. Simsalabim. Oder, wie ein alter Indio im Roman in Kolumbien sagt: „Es gibt keine Zeit, Zeit ist nur im Kopf.“