(reloaded: siehe catch, ahem, comment 22 …)
Das Schreiben eines Blogbeitrags beginnt mit dem Erfinden einer Titelzeile. Ich hätte den Artikel sicher schon vor 4 oder 5 Wochen geschrieben, wäre mir eine bessere eingefallen. Ob Steven Wilson freundlich oder vornehm ist, weiß ich nicht. Für einen Giganten halte ich ihn schon.
Ich kenne zwar kaum seine Musik, aber ich habe vor Jahren bei einem Manafonistischen Preisausschreiben per Losglück ein Album gewonnen, nämlich King Crimson Three of a Perfect Pair. Das Titelstück gehört zu den 10 Number-One-Pieces des Prog-Rock. Ich bekam nicht das Original-Album, sondern den Remix von Steven Wilson mit exzellenten Stereo & Multichannel Abmischungen.
Eigentlich hätte mir Steven Wilson schon viel früher bekannt sein können, denn ich hatte einige Gentle-Giant-Vinyls nachgekauft, und zwar digitalisierte Versionen mit 4.0 bzw. 5.1 Abmischungen. Weil auf diesen Datenträgern das Kleingedruckte noch kleiner ist, fiel mir der Name Steven Wilson in den Druckbeilagen nicht auf. Im Frühjahr diesen Jahres wurde die Steven-Wilson-Edition des Albums Free Hand von Gentle Giant annonciert. Ich habe sofort bestellt und das Kunstwerk pünktlich am Tag des Erscheinens erhalten.
Nach Gentle Giant hat mich keine Band aus dem Bereich Pop-Rock-oder-wer-weiß-wie-das-heißt mehr interessiert. 1971 habe ich sie kennengelernt und das gleich live. Ich wusste damals gar nicht, dass eine Band diesen Namens überhaupt existiert. Am 6. April 1971 war Colosseum in der Meistersingerhalle zu Nürnberg zu Gast. Die Bühne betraten aber zunächst 4 Musiker mit Streichinstrumenten. In meiner Erinnerung wurde daraus ein Streichquartett. Das kann jedoch nicht stimmen, denn nur Ray Shulman und Kerry Minnear spielen Violine bzw. Violoncello. Die Überraschung war groß bei diesem Anblick, noch vor den ersten Tönen. Was machen die Nichtstreicher? Sie traktieren das Violoncello wie ein Perkussionsinstrument, während Kerry Minnear fiedelt. Artrockig wurde es auch noch. Als sie Platz machten für Colosseum war ich überwältigt. Mein Urteil beim Verlassen des Saals: die Vorband war das absolute Highlight dieses Abends. Ob eine Mehrheit dieser Ansicht war, ist ungewiss. Schließlich kam das Publikum Colosseums wegen. Gentle Giant versuchte gewiss als Warmup renommierter Bands in der Rockszene Fuß zu fassen. Ray Shulman erzählt:
Dass ich derart hingerissen war und es immer noch bin, liegt an meiner selbstgewählten musikalischen Sozialisation. Ich komme von der Klassik her, Kerry Minnear ebenfalls. Er ist aber keiner jener unsäglichen Klassikrocker, die es um die 70er Jahre zu Hauf gab und denen es prächtig gelang, Bach und Beethoven und Tschaikowsky und … zu versauen. Minnear beherrschte polyphone Satztechniken, mochte offensichtlich Musik der Renaissance und bediente sich nie bei den alten Meistern.
Wenn einer Band das Attribut Art Rock verliehen werden darf, dann Gentle Giant. Eines der brillantesten Stücke dieses Genres ist On Reflection. Es weist eine übersichtliche A1-B-A2 Form auf. Der A-Teil ist ein virtuoses, vertracktes Fugato. B erinnert an englische Vokalmusik der Zeit um John Dowland.
A1 vokal und vokal/instrumental colla parte
B
A2 instrumental, einen Halbton höher als A1
On Reflection Steven-Wilson-Remix 2021 – YouTube Video
In einem wunderbaren, berührenden Interview spricht John Weathers – Drummer von GG seit 1972 – über dieses bedeutende Album, über die Musiker, die alle virtuose Multiinstrumentalisten sind. John ist ein Perkussionist, der tief im Rock verwurzelt ist und der intellektuellen Dimension dieser Musik herrlich erdigen Groove schenkt.
Zjkl
Steven-Wilson-Remix 2021 – YouTube Video
Free Hand ist das erste Album, welches in meiner Jahresliste 2021 erscheint. In comment#1 stehen weitere Links, u.a. zu den vollständigen Interviews mit Ray Shulman und John Weathers, zu einem Liveauftritt der Band 1974.
Riff – public domain