Manafonistas

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2021 12 Jul

Auszeit

von: Hans-Dieter Klinger Filed under: Blog | TB | Tags:  | 7 Comments

Vor zwei Tagen holte ich aus dem Postkasten ein Packerl, gefüllt mit feinen Überraschungen. Besonders angetan hat es mir ein Album mit dem Titel TIMEOUTTAKES. Robinson Crusoe hätte das bestimmt für ein seltsames Wort gehalten, diese Collage, diese Verklebung der Wörter ‚time out‘ und ‚outtake‘. Mit time out hätte Robinson sicher etwas anfangen können, hatte er doch auf einer namenlosen Insel eine Auszeit genommen – wenn auch unfreiwillig. Und outtake, Ausschuss, Gerümpel sammelt sich doch in jedem Haushalt an.

Man findet derzeit bestimmt Personen, denen TIMEOUTTAKES nichts sagt. Ach was, es gibt genug Leute, die an diesem Wort achtlos vorbeigehen würden, falls es ihnen überhaupt begegnet. Man muss schon Dave Brubeck und sein legendäres Quartett kennen, um den Hintergrund zu verstehen. Ich kenne das Dave Brubeck Quartet nicht nur, ich liebe es. Erroll Garner und Dave Brubeck waren die door opener zum Jazz als ich Teenager war. Die Alben jazz RED HOT AND COOL, Gone with the Wind und At Carnegie Hall waren meine ersten und jahrzehntelang einzigen Brubeck-Alben. Das wohl berühmteste Album des Dave Brubeck Quartets – Time Out – habe ich mir tatsächlich erst vor wenigen Jahren zugelegt. Im englischen Wikipedia-Artikel liest man darüber:

 

The album peaked at No. 2 on the Billboard pop albums chart, and was the first jazz album to sell a million copies. The album was selected, in 2005, for preservation in the National Recording Registry by the Library of Congress as being „culturally historically or aesthetically significant“.

 

Der Grund für den außerordentlichen Erfolg der Schallplatte war Take Five – ein Stück, das im Jahr 1961 im Bayerischen Rundfunk wochenlang auf Platz 1 der Schlager der Woche stand. Es werden damals nicht alle Schlagerfuzzies gemerkt haben, dass Take Five im 5/4-Takt daher kommt. Diesen Satz habe ich DeepL anheim gestellt und folgendes Resultat erhalten:

 

Not all Schlagerfuzzies will have noticed at the time that „Take Five“ is in 5/4 time.

 

Na also! „Time“ ist das englische Wort für „Takt“ und „Time Out“ bedeutet nicht „Auszeit“, sondern mit Verlaub frei übersetzt „Ausbruch aus den konventionellen Takt-Mustern“ des Jazz, als da sind 4/4-Takt wie in Blues March und 3/4-Takt wie in Jitterbug Waltz. So ist das Thema von Blue Rondo à la Turk im 9/8-Takt geschrieben, wobei die Binnenstruktur dieses Neuners (vorwiegend) 2 2 2 3 ist. Béla Bartók bezeichnet so etwas als ‚Bolgár Ritmus‘.

Time Out ist eines der rhythmisch innovativsten Alben der Jazzgeschichte. Aber heutzutage sind derartige rhythmische Strukturen nichts Ungewöhnliches mehr. Man möge sich nur umhören bei Nik Bärtsch, Jacky Terrasson, King Crimson, Gentle Giant, Don Ellis – meine heißesten Empfehlungen am 12. Juli 2021 …

 

 

 

 

 

 

Das Packerl vom 10. Juli 2021 hat für mich Dave ‚Dornröschen‘ Brubeck wieder erweckt. Das Quartet kommt auf dem Album TIMEOUTTAKES daher in blühender Schönheit, unverbrauchter Frische, auch aufnahmetechnisch vollendet. Kein Wunder! Der verantwortliche Toningenieur war der aus München stammende Fred Plaut, welcher auch für die brillante Aufnahmequalität von Miles Davis‘ Kind of Blue sorgte.

Die Musik des Dave Brubeck Quartet ist von wunderbarer Eingängigkeit und steckt doch voller raffinierter musikalischer Rätsel, die zu knacken mir ein Vergnügen ist, welches das Lösen von Kreuzworträtseln um das 1001-fache übersteigt. TIMEOUTTAKES ist ein Meisterwerk, das dem 1959 veröffentlichten Time Out in nichts nachsteht, es meiner Meinung nach sogar übertrifft. Das Showpiece Take Five gefällt mir in der Fassung des Outtake-Albums viel besser. Es ist zupackender wegen des deutlich schnelleren Tempos, es ist konsequenter im Featuring von Drummer Joe Morello. Sein Solo ist unbegleitet von Brubecks Piano Figur. Morello leitet das Stück ein mit einem Beckenrhythmus, der seine offensichtliche Simplizität in dem Moment verliert, wenn das berühmte 5/4-Lick im Klavier erscheint.

 

 

 

 

 

hier gibt es dies zu hören (falls man auf das weiße Dreieck links außen klickt):

 

– singing blackbird in front of my open window
– Beckenrhythmus (mittels copy/paste vervielfältigt)
– Beckenrhythmus (mit metronomischem beat unterlegt, 4 Zählzeiten !!!)
– Anfang Take Five (mit unterlegtem Zählen, leider teilweise unpräzise)
– Anfang Take Five (ohne Zutaten meinerseits)

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7 Comments

  1. Hans-Dieter Klinger:

    das Zählen in Abschnitt 4 ist mir deswegen nicht gelungen, weil 4 gegen 5 zu zählen ist

    ich hätte das nach mehrfachem Üben schon hinbekommen, war aber zu faul

    wer etwas für seine linke oder rechte oder beide Gehirnhälften tun möchte, kann versuchen, den Beckenrhythmus im gesamten Abschnitt 5 durchzuhalten. Joey Morello kriegt’s hin …

  2. Uwe Meilchen:

    Bei mir im Regal steht eine Box die zwanzig seiner Alben versammelt. Und er war soviel mehr als „Take Five“ ! Danke für den Tip auf diese CD

  3. Michael Engelbrecht:

    Ich habe eine interessante Erinerung an ein Konzert des DBQ. Die Herren waren mir als Hippie etwas zu seriös gekleidet, um sie als Teil der Gegenkultur wahrzunehmen. Sie schienen eher die Altvorderen zu präsentieren. Aber eines Sonntags war ein Konzert von ihnen angekündigt, im WDR, ein Mitschnitt. Ich setzte mich in das geräumige Auto vor der Garage, das einen guten Sound hatte, und hörte das komplette Konzert. Alle meine vorauseilenenden Urteile wurden aus den Angeln gehoben, mich begeisterte, wie perfekt verzahnt alle Rädchen dieses Ensembles ineinander griffen. Zwischendurch gab es, glaube ich, auch Interviewausschnitte, das kam alles sehr sympathisch rüber.

    Später habe ich zwei Platten mit Paul Desmond sehr gemocht. Das eine war ein Livekonzert mit eigener Combo, er war schon von seiner Krankheit etwas gezeichnet, aber die Musik ungemein laid back, sicher in the tradition. Auf HORIZON Records, glaube ich das andere war älteren Datums, Anthony Braxton schwärmte davon, und ein, zwei Musiker des Modern Jazz Quartet waren dabei. Schwebende Töne.

    Übrigens: so perfekt, organisch wie metrisch, ineinandergreifend wie das DBQ erlebte und erlebe ich seit 1971 The Allman Brothers Band Live At Fillmore East. Ein gewisser Brian Whistler hat das Konzert damals live erlebt.

  4. Lajla Nizinski:

    Egal, wo ich auf der Welt bin, ich kaufe mir immer eine „Time out“ .

  5. Michael Engelbrecht:

    Wahrscheinlich meint Lajla das wöchentliche Veranstaltungsmagazin von London gleichen Namens. Wann immer ich in London war, oder hoffentlich auch mal wieder sein werde, gehört es zur Grundausrüstung.

  6. Michael Engelbrecht:

    One two thre four one two three four

    Five

    Schönes Demo🥁

  7. Rosato:

    NACHTRAG

    Brubeck Editions wurde von Mitgliedern der Brubeck-Familie im Jahr 2020, dem hundertsten Geburtstag von Dave Brubeck, geschaffen, mit dem Ziel, Aufnahmen von Dave Brubeck und seinen vielen musikalischen Mitstreitern herauszugeben. Die Familie hat Zugang zu wunderbaren Auftritten, die über viele Jahrzehnte auf Band festgehalten wurden, auf Tournee und im Studio. Diese erste Veröffentlichung besteht aus neu entdeckten alternativen Takes aus den originalen Time Out Sessions von 1959. Time OutTakes wurde unter direkter Beteiligung und Aufsicht von Mitgliedern der Brubeck-Familie sorgfältig zusammengestellt, neu gemastert und zusammengestellt, um die musikalische Integrität und klangliche Qualität zu gewährleisten.

    (aus dem Album Booklet, DeepL übersetzt)

    – – – – – – –

    Nicht alle Stücke auf TIMEOUTTAKES weisen außergewöhnliche Taktarten auf. I’m in a Dancing Mood, das auf dem legendären Album aus dem Jahr 1959 gar nicht erscheint, ist eine Swing-Nummer aus den 30er Jahren, gerne von Big Bands gespielt. Hier folgen nach der Kostprobe einer Swing-Bigband Beispiele für die variable rhythmische Gestaltung dieser 4/4-Takt-Nummer durch das Dave-Brubeck-Quartet.


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