Manafonistas

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Es schien alles ganz normal, als ich gestern das alte Ritual beging, meine Runde über und unter dem roten Kliff zu drehen. Normal gerate ich in einen leicht meditativen flow, der Kopf wie leer gefegt: eine kleine Atemkonzentration, die  Gedanken hierhin und dorthin lenkt, schwebend, flüsternd, leisetretend. Aber dann dachte ich doch etwas länger an Peter Laughner, an den sich die wenigsten von euch erinnern werden. Er war ein Musiker aus Cleveland und gelegentlicher Musikrezensent, der im Juni 1977 im Alter von 24 Jahren an akuter Bauchspeicheldrüsenentzündung starb. Ungefähr ein Jahr zuvor, im März 1976, schrieb er eine vernichtende Rezension von Lou Reeds „Coney Island Baby“ für das „Creem Magazine“, im Stil von Lester Bangs (der selbst weitgehend ein  Lou-Reed-Verächter war).

Ich selber besass die Platte einmal, meine Erinnerung ist undeutlich, aber ich glaube, ich mochte einige Songs und Atmosphären des Albums (und gab es da nicht auch ein wunderschönes Liebeslied?) – ich hätte ihm wahrscheinlich drei oder dreieinhalb Sterne gegeben. Ich holte meinen museumsreifen Sony Walkman raus, und liess diesen einen Song aus dem neuen Album „Dark In Here“ der Mountain Goats. Übersetzt liest er sich ungefähr so:  

„Man stelle sich eine Zeit und einen Ort vor / Empfindungsfähige Objekte, die im Raum treiben / Versuchen, die notwendigen Berechnungen zu machen / Versuchen, den geheimen Pfad zu finden / Stumm gewordene Meere in der Spiralhülle / Als du fielst. / Fackeln brannten, um den Weg zu erleuchten / Der ganze Treibstoff verbrannt in nur einem Tag / Wird es einen anderen Weg geben? / Das wirst du nicht sagen können / Du, der du den alten Zauberspruch mitnahmst / Als du fielst / Zu hart zu lange verletzt und zu jung gestorben / Silberdollar glitzert auf deiner Zunge / Möge dein Durchgang gesichert sein / Mögen alle deine üblen Leiden dort geheilt werden / Systeme schließen sich an mehreren Fronten / Du wirst immer einmal hier gewesen sein / Die letzte Wildkatzenquelle des Westens / Als du fielst.“  

Diese Verse darf man auch erstmal auf sich wirken lassen. Das Lied wird von den Mountain Goats mit luftiger Würde  vorgetragen wird. Wie gesagt, um der Magie des Albums nahezukommen, sind die Texte unerlässlich. Ich lese hier und da Besprechungen, die sich schlicht an der Coolness einiger Melodien erfreuen, und dabei einfach ausblenden, welch verstörenden  Schrecken sie von Fall zu Fall  in Wort und Bild verbreiten. Nun weiss ich nicht, ob John Darnielle „Coney Island Baby“ liebte – auf jeden Fall ist es spannend, wie er in diesem Song an Peter Laughner erinnert, an seinen Verriss der alten Lou Reed-Platte.

Es schien also alles ganz normal, als ich gestern das alte Ritual beging, meine Runde über und unter dem roten Kliff zu drehen. Mein Gedanken wanderten hierhin und dorthin, und manchmal in dieselbe Richtung wie die Füsse. Aber dann stockte ich. Die Max-Frisch-Steintafel war verschwunden. Kein einziges Mal ging ich im letzten Jahr achtlos an ihr vorbei, stets hielt ich an, und inhalierte die Naturbeschreibung des Schweizers geradezu – eine Yogaübung verlangsamten Lesens. Jetzt aber war die Steintafel fort, die hier seit Jahrzehnten ihre Arbeit verrichtete, die darin bestand, einfach da zu sein. Ich fragte zwei Ureinwohner der Insel, aber keinem war etwas aufgefallen, keiner hatte etwas über einen Kulturraub gelesen. Ich fragte mich, ob ich träume. Ich fragte mich, ob ich zu sehr im Song der Mountain Goats aufgegangen sei, oder in meiner Erinnerung an ein fast vergessenes Album von Lou Reed, als ich Max Frischs Nachtgedanken passierte. Ein kleines Inselrätsel.

This entry was posted on Samstag, 26. Juni 2021 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

3 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Wer etwas Quellenforschung betreiben will – hier ist der Verriss von Peter Laughner nachzulesen …

    https://carellaross.com/blogs/rantings-ravings/posts/lou-reed-coney-island-baby-review-by-peter-laughner

  2. Olaf Westfeld:

    Großartige Rezension… und dabei habe ich Coney Island Baby auch positiv in Erinnerung – nicht umwerfend, aber irgendwie atmosphärisch, intim.

  3. Michael Engelbrecht:

    Eine Plattenbesprechung wie eine Sache auf Leben und Tod:) – Peter war Alkoholiker, und sein Leben endete tragisch früh. Will allerdings mal hoffen, dass sein Text nicht zu autobiografisch ist, und er mehr der Vertreter radikaler Rollenprosa ist.

    Ich habe auch einige Verrisse geschrieben, zu Gröhnemeyers MENSCH (ogottogott, was für eine schlechte Platte), zu Sakamotos SoloPianoPlatitüden, zu Stings SoulCages. etc. – da kommt immer ein Bumerang zurück😅 – – – Peters Besprechung würde mich sicher keinen Deut von meiner Wahrnehmung des Albums abbringen.


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