Als ich mich wieder mal auf den Rundweg machte, vom Parkplatz aus, etwa einen Kilometer von der Uwe-Düne entfernt, sah der Himmel viel freundlicher aus als noch vor Tagen, eine leichte, hier und da löchrige Wolkenschleierdecke sorgte für ein breites Feld von Weissgraublau. Another kind of blue.
Jedesmal komme ich an einer Erinnerungstafel vorbei, die etliche Male im Laufe eines Jahres zu purer Gegenwart wird: „Die Dämmerung dauert bis Mitternacht, bis sie sich fast unmerklich in Mondhelle verwandelt. Man mag noch nicht schlafen. Die Regenpfeifer schwärmen auch noch über die Heide. Geruch von Salz, von Tang, von Heu. Die Tümpel des Wattenmeeres gleißen wie Scherben unter dem Mond.“ Und auf jedem Rundgang atme ich diese Sätze ein, Satz für Satz.
Max Frisch schrieb es auf der Insel. 1949 reiste er auf Einladung des Verlegers Peter Suhrkamp nach Sylt und verbrachte mehrere Wochen in dessen Kampener Haus. Ein halbes Jahrhundert später erinnert sich sein Sohn Peter (einer dieser Namen, die damals so geläufig waren und heute fast ausgestorben scheinen): „Es war unsere erste Reise nach Deutschland und dann noch ans Meer! Ich entsinne mich noch gut an unsere ersten Besuche am FKK-Strand – meine Eltern trugen Badeanzüge, weil sie sich nicht trauten, vor uns Kindern nackt dazusitzen.“
Max Frisch mochte seine Zeit auf Sylt. „Endlich ein Arbeitszimmer, wie man es sich wünscht“, vermerkt er in seinem Tagebuch. „Draußen flötet der Wind und Regen prasselt gegen die Scheiben, Wolken jagen über das Uferlose. Es bleibt das Gefühl, man befinde sich am Rande der Welt.“
So gibt es immer alte und neue Geschichten zu erzählen. Von Generation zu Generation. Am Rande der Welt fühlen wir uns nicht so selten, 2020, 2021. Corona Times. Aber an Orten wie diesem, noch dazu ohne jeden Anflug von Tourismus, verstärkt sich, für einen Aussenstehenden, diese Empfindung markant. Erinnerungen lassen sich nicht mehr mit Menschen abgleichen, die den Strand bevölkern. Es sind Leerräume. Eine Anderszeit. Die Kontinuität ist unterbrochen. Ich kehre heim. The house of roses. Die Infrarotkabine. Neil Young. After The Goldrush.
Meine fast einzige Erinnerung an meine erste und für lange Zeit letzte Syltreise ist ein Kiosk, an dem ich die „Bravo“ kaufe, und einigermassen erschrocken lese, wie sich zwei von den Kinks (ein Schnappschuss bestätigt es), mächtig unter Strom und „demon alcohol“ (waren es Mick Avory und Dave Davies?), heftig auf der Bühne prügeln. Böses Blut unter meinen Helden. Nicht gut.
(In den kommenden „Klanghorizonten“ geht es, wenn ich es mir nicht noch anders überlege* – soll ich die Sache mit der nächtlichen Bootsfahrt anno 71, und mit dem Hund, der Joe hiess, wirklich erzählen (nachher muss ich einen Drogentest machen😅) – an einen anderen Rand der Welt, in den Süden Englands, es geht nach Brighton, Blackpool, Torquay und Paignton. Ich weiss nicht, ob jemand von euch einmal dort war. Es gab damals und dort auch jene stillen Momente, in subtropischer Hitze, an der Hafenmauer am Rande des Golfstroms, es gab die lauten, pulsierenden Spielhallen, das knallbunte Treiben am Strand, die alten Zeiten, die einst pure Gegenwart waren und Zukunft ohne Ende im Angebot hatten: “It’s worth every penny that you spend / the golden age has just begun / Hear the laughter, sing the song. We’ll make you feel like you belong.”. Es gab die Holzverschläge mit fish & chips in Tüten, und es gab Schallplatten von Donovan.) * hab‘s mir anders überlegt.