Manafonistas

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2021 13 Jun

Akustische Hängebrücken

von: Olaf Westfeld Filed under: Blog | TB | Tags: , , | 3 Comments

Ein Jahr wohnte ich in der Clara-Zetkin-Straße in einem WG-Durchgangszimmer, was meine Vorliebe für die Küche sicher verstärkte. Sie war ausserdem neben dem Badezimmer der einzige Raum, in dem es eine normale Heizung gab, der Rest der Wohnung wurde mit Kohle beheizt. Und die Küche war gemütlich: Eine Mitbewohnerin hatte die Wand mit knalligen abstrakten Formen bemalt, es gab ein langes Brett, an dessen Unterseite die Tassen an ihren Henkeln hingen und auf dem Geschirr, Töpfe und ein CD-Spieler standen. Neben Smokers Delight, Rockers to Rockers oder Emperor Tomato Ketchup lief darauf nicht selten Millions Now Living Will Never Die von Tortoise aus Chicago. Ich besuchte ein erstaunlich leeres Konzert, im Vorprogramm spielten Trans Am und The Sea and Cake (die ich belanglos fand, völlig unverständlich im Nachhinein). Die Musiker von Tortoise tauschten ständig die Instrumente, die sehnsüchtigen Basslinien prallten von den unverputzten Backsteinwänden durch den Saal, die knarzigen Geräusche und die Klangketten des Vibraphons sirrten durch die Luft.

Zwei Jahre später wohnte ich in ähnlicher Besetzung in einer neuen Wohnung mit weniger Charme und mehr Komfort: es gab eine Einbauküche, dafür kein Durchgangszimmer. Mezzanine, Moon Safari, Khmer und jede Menge Dub wurden gehört, im Sommer 1998 erschienen dann Two Pages und Moment of Truth, letzteres ein Inselalbum für mich. Tortoise veröffentlichten TNT, ich sah sie ganz gediegen im SFB-Sendesaal konzertieren. Sehr bildungsbürgerlich, nicht ganz so aufregend wie zwei Jahre zuvor, trotzdem toll. TNT kaufte ich mir nicht, es war das erste Album, das mir auf CD gebrannt wurde, von einem blauhaarigen Physikstudenten – damals ein unerhörter Vorgang, pure Science Fiction. 

Danach verloren Tortoise und ich ein bisschen den Kontakt. Ich habe die Veröffentlichungen nur aus der Ferne registriert, einzelne Stücke gehört, nie komplette Alben. Nun habe ich mir spontan (und etwas übertrieben) die Reissues von Millions Now Living Will Never Die (die CD war nicht mehr auffindbar), TNT und dem mir zuvor unbekannten Standards gekauft. Auf Millions Now Living  (und auch auf dem Debut Album) sind die verschiedenen Elemente dieser verkifften und sehr eigenständigen Fusion gleichmäßig austariert: Krautrock, Dub Reggae, Electronica, ein bisschen Minimal Muisc und Jazz Ästhetik. Auf TNT geht es dann etwas mehr Richtung Jazz, bei Standards verschiebt es sich ein wenig Richtung Elektronik und Post-Production, einmal scheint das Mkwaju Ensemble kurz durchzuschimmern. 

Aus irgendwelchen Gründen musste ich beim Wiederhören an den Noir Film Touch of Evil denken, den ich im vorherigen Jahrhundert das letzte Mal gesehen hatte. Was für ein Film! Ein lange Sequenz zu Beginn ohne Schnitt. Unglaublich intensive Studien von Gesichtern, Schatten, Gebäuden. Ständig hintergehen sich die Charaktere, unklar bleibt, wer gut, wer böse ist. Das Ende ist immer noch unheimlich. Was der Film mit Tortoise zu tun hat? Keine Ahnung, wie mein Gedächtnis die Assoziation hergestellt hat. Lohnend aber, den Film zu schauen und Tortoise kann ich sowieso immer wieder hören.

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3 Comments

  1. ijb:

    „TNT“ und „Millions Now Living…“ sind Alben, die auch ich damals, in den Neunzigern gekauft habe. Bzw. genauer gesagt: „TNT“ hatte im Musikexpress eine Top-Wertung (6 Sterne) und wurde vom Magazin damals sehr „gefeatured“, daher bin ich auf den Zug aufgesprungen; es war weit von meiner üblichen Musik damals entfernt und mein Einstieg in diese Art „Post-Rock“, weshalb es ein wenig gedauert hat, bis ich damit warm wurde. Näher war mir damals die Band Trans Am, vor allem die ersten 3-4 Alben (je nachdem, ob man das Debüt als Album zählt oder als EP), die ich noch immer sehr schätze und großartig finde (nach „Red Line“ verloren sie leider zunehmend an Klarheit und Großartigkeit, mäanderten oft mittelprächtig umher). „Millions Now Living…“ habe ich später von Freunden geschenkt bekommen, da die die CD eher langweilig fanden.

    Bis heute geht es mir so, dass ich die beiden Alben genial finde, wann immer ich sie (in großen Abständen, dann meist gleich mehrmals) höre. Einmal hatte ich das Vergnügen, „TNT“ auf einer USA-Autorundreise dabei zu haben und sie beim Fahren durch Chicago (bzw. aus der Stadt heraus nach Norden) zu hören, und das passte wirklich extrem gut. Die Musik hat direkt eine andere Qualität bekommen als beim Hören in Deutschland… (ähnlich wie einige, speziell die früheren Arve-Henriksen-CDs bei Autofahrten durch die mittnorwegischen Berglandschaften (oder die ersten Alben von Trygve Seim) – diesen Mehrwert kann man in der Tat kaum bis gar nicht in Worten beschreiben).

    Das erste Album habe ich auch noch – und „Standards“ hatte ich eine Zeitlang – aber beide haben mich nie so bleibend beeindruckt wie die beiden genannten dazwischen. Allerdings war es toll, vor einigen Jahren Tortoise bei einem Konzert zu erleben, wo sie nur Stücke der ersten drei Alben spielten. Die haben einen unvergleichlichen Sound von einer Qualität, die ich bei keinem anderen Projekt der Bandmitglieder wieder gefunden habe.

  2. ijb:

    Trans Am:

    1996: (Ohne Titel)
    1997: Surrender To The Night
    1998: The Surveillance
    1999: Futureworld
    2000: You Can Always Get What You Want (Rarities)
    2000: Red Line
    2002: TA
    2004: Liberation
    2009: What Day Is It Tonight? – Trans Am Live 1993–2008
    2010: Thing
    2014: Volume X
    2017: California Hotel

    Die erste von 1996 ist eine sympathische, aber nicht allzu markante erste CD, aber die drei folgenden Alben sind exzellent („Surrender“ und „Surveillance“ rein instrumental, „Futureworld“ dann eine famose Kraftwerk-NeoKrautrock-Hommage mit Vocoder und sogar witzig-absurden deutschen Texten). Die Reste-Kompilation hat nette Stücke, und „Red Line“ ist eigentlich eine Art Summe aus dem bisherigen Schaffen, mehr als 20 Stücke quer durchs Beet, damit hätten sie es gewissermaßen bewenden lassen können, denn ab 2002 gab es nichts Besonderes mehr. Irgendwann hab ich aufgehört, der Band zu folgen; das Live-Album hab ich mir dann aus alter Liebe (Vinyl-only-Release) gekauft, aber dann auch nur ein paar mal gehört.

  3. Olaf Westfeld:

    Genau so geht es mir auch: ich höre Tortoise nicht oft, dann aber gleich mehrmals hintereinander. Die erste habe ich hier auch noch rumstehen… aber ich stimme Dir zu: Alben zwei und drei sind die Meisterwerke. Sehr amerikanisch die Musik, ich habe Tortoise auch während meines Auslandsjahr dort viel gehört.
    Die Seitenprojekte kenne ich kaum, erinnere noch Isotope irgendwas. Und das letzte Jeff Parker Album hat mir sehr gut gefallen.


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