Der Sommer hat es endlich auch nach Berlin geschafft! Dass die gefühlt endlose graue Berliner Jahreszeit in ihre Sommerpause geht, war in früheren Jahren auch schon mal einige Wochen später der Fall; selten allerdings war der Wetteraufschwung so ersehnt und willkommen wie in diesem Jahr – die ebenfalls gefühlt endlose Corona-Tristesse hat uns hier über die letzten Monate zunehmend zugesetzt. Ein paar Sommermonate, bevor es vielleicht schon im September wieder in die nächste Corona-Isolation geht – fürs beanspruchte Gemüt also eine selten wertvolle Stimmungsspritze. [Da wir keiner Risikogruppe zugehören und keinen für eine baldige Impfung hilfreichen Berufsstatus haben, vertrösten uns mehrere Hausärzte und mittlerweile auch wieder der allseits geschätzte Herr Spahn ja auf eine Erstimpfung voraussichtlich im September … was dann zu Weihnachten auch uns den von den Impfluencern (und vielen jüngeren Freunden in den Vereinigten Staaten oder Israel) sozialmedial hochgehaltenen „Geimpft“-Status bescheren dürfte. Wir freuen uns also schon darauf, in den (leider sehr kurzen) Weihnachtsferien dann einen Urlaub planen zu können.] Die mittlerweile zahlreich und anhaltend durch Reisebeschränkungen verunmöglichten Job- und Projektangebote schmerzen dennoch – eben auch, weil das nun dummerweise wohl auch noch den Spätsommer und Herbst beeinträchtigen wird.
Nie zuvor in meinem Leben habe ich so viel Rotwein gekauft (und getrunken) wie in diesem Corona-Winter. Aber keine Sorge: Trotz Stimmungsverstimmungen habe ich keinerlei Neigung zum Alkoholiker; mehr als zwei Gläser trinke ich eh nicht, von einer Geburtstagsfeier abgesehen. Zuletzt habe ich hingegen auch mal einen Koffein-Entzug durchgemacht. Das war nicht lustig – aber hilfreich. Ein kleiner Espresso alle zwei Tage am Vormittag reicht seither locker, um bis spät abends angeregt und angenehm wach zu sein. Anlässlich dieses Sommeranfangs möchte ich dann auch mal wieder aus meiner Blogabstinenz herauskriechen, das eingerostete Schreiben wieder hochfahren und ein paar Alben empfehlen, die mich gut durch die letzte Zeit gebracht haben.
Ganz wunderbar: das intensive Ambient-Album „Sutro“ von Christina Chatfield, acht Tracks, rund 66 Minuten, gibt es leider nicht in physischer Form, daher habe ich mir die Bandcamp-Dateien auf CD gebrannt, ganz altmodisch, denke aber, dass das auch als Kopfhörer-Album super funktioniert. Mich zieht das episch schwebende Album der kalifornischen Elektronikmusikerin bereits seit März stetig in den Bann und zählt zu den von mir am häufigsten gehörten Alben in diesem Jahr. Es lässt sich hervorragend von dieser sanften Energie hinfort treiben.
Ebenfalls aus Nordamerika, aber aus einer vollkommen anderen Ecke (und Szene) und erst jüngst erschienen: Allison Russells erstes Soloalbum „Outside Child“. In Montréal geboren und aufgewachsen, lebt die Musikerin nach jahrelangen traumatischen Erfahrungen mittlerweile in Nashville. Als Schwarze in der Country-Hochburg sticht sie heraus – ebenfalls in Tennessee lebt ja die gleichaltrige Valerie June, deren neues Album mir, erwartungsgemäß, ebenfalls sehr gefällt; es ist stilistisch ähnlich lose und frei, eingängig und stimmungswechselhaft, doch Allison Russells Themen hier sind weitaus aufwühlender, und die Mischung aus dunklem Blues und Americana und Soul passt da hervorragend. Eine eindringliche Liedersammlung, deren Tiefe und Komplexität sich langsam entfaltet und lange nachwirkt.
Zwei Alben mit langen, gedichthaft und leidenschaftlich gesprochenen Texten – beide zudem aus England, beide so unterschiedlich wie nur vorstellbar, auch in der Art des Vortrags, sind, erstens, die derzeit von mir am liebsten gehörte Debüt-LP des Quartetts Dry Cleaning, produziert von John Parish, seit Jahren stets eine sichere Bank für klasse Alben: drei junge Männer aus London, die mit einem recht reduzierten Instrumenten- und Stilarsenal einen frappierend wandelbaren IndieRock vorlegen, der hier und da an die von mir stets geschätzten Sonic Youth erinnern, andere denken wohl u.a. an Wire – und dann haben sie mit einiger Überredungskunst eine befreundete Illustratorin, bildende Künstlerin und Lyrikerin dafür gewonnen, zu dieser Musik auf trockene Weise latent surreale Texte darzubieten. „Deadpan“ wird diese Art des Vortrags gerne genannt, nicht wenige sehen bzw. hören Parallelen zu Kim Gordon und Laurie Anderson, was ich gut nachvollziehen kann, beim Hören allerdings denke ich daran nie. Toll, wie diese Band über zehn Stücke mit feinen Tempo- und Stimmungswechseln die Energie und Intensität des gemeinsamen Performens steuert und variiert. Die Texte sind durchaus fesselnd und spannungsreich in ihrer Musikalität, vergleichbar gelingt es Kate Tempest eine Grenze von Lyrikvortrag und Rap auszuloten.
Apropos, zweitens, das neue Album des karibischstämmigen, in England hochgeschätzten Poeten und Romanciers Anthony Joseph, der auch kreatives Schreiben lehrt, knüpft da sehr gut an. Entdeckt habe ich sein Werk, als die von mir sehr verehrte Meshell Ndegeocello sein famoses Album „Time“ produziert (und darauf mitgespielt) hat, seine bislang vier Soloalben tauchten seither zuverlässig in meinen Jahresbestenlisten auf. Auf diesem neuen präsentiert der Mittfünfziger seine Musik weniger all over the place oder opulent als etwa auf den exzellenten Vorgängern „Caribbean Roots“ und „People of the Sun“, hat eine kompakte, jazzige Band zusammengestellt, die ordentlich Zunder gibt, auch Shabaka Hutchings ist wieder dabei, und seine Texte gehen gewohnt vom Persönlich-Poetischen übers Gesellschaftskritische ins Politische, wie sein diesmal flammender Albumtitel bereits ankündigt: „The Rich are Only Defeated when Running for their Lives“. Auch Anthony Joseph sollte jene, die etwa Kate Tempests Energie oder die Eindringlichkeit des famosen Werks von Moor Mother schätzen, ohne Probleme ebenfalls ansprechen, mich erinnert er allerdings immer wieder auch an Wadada Leo Smith, wegen der Präsenz und der engagierten Themen und gerade auch wieder aufgrund der „sprechenden“ Titel. Wadada hat im übrigen aktuell sogar zwei neue Alben bei seinem Hauslabel, dem finnischen TUM Records, parat, beides 3-CD-Alben, eines davon mit Bill Laswell und Milford Graves, das andere komplett solo. Bislang kenne ich nur letzteres, es trägt den allernaheliegendsten Titel, „Trumpet“, und es wurde im Sommer 2020 in einer alten Kirche im Süden Finnlands aufgenommen, wo wir vor haargenau zehn Jahren, im Juni 2011, auch ein improvisiertes Konzert gefilmt haben, mit Frode Haltli, Maja Ratkje und zwei Finnen. Im fertigen Film wurde es zwar nicht verwendet, aber es hat mich jüngst gefreut, die Beiheftfotos mit Wadada in und vor dieser Kirche zu sehen, auch weil ich das Angebot hatte, im Mai eine Albumsession mit ihm und Andrew Cyrille in Brooklyn filmisch zu begleiten, was aufgrund der Corona-Beschränkungen leider nicht möglich war.
Sehr speziell — um nicht gar zu sagen: ein Album, in das man sich einarbeiten muss — ist Maxwell Sterlings „Turn of Phrase“. Ich habe die LP „blind“ bestellt [bzw. müsste man korrekterweise eigentlich sagen: „taub“ gekauft…], nachdem ich eine enthusiastische Rezension mit der Überschrift „Modern Classical trifft auf IDM auf einem wahrlich atemberaubenden Album“ las. An sich zwei Genres, die mich üblicherweise nicht hinter dem Ofen hervorlocken – hinter „Modern Classical“ verbirgt sich allzu oft Pseudo-Tiefgründiges bis Banales im Minimalismus-Gewand, das mich oft langweilt, in der IDM-Schublade erwarte ich vorwiegend Musik im WarpRecords-Stil der 1990er — wovon ich zwar sehr vieles kenne, aber über 20 Jahre nach Ende der Neunziger (und seither konstant gelungenen bis großartigen Autechre-Alben) nicht wirklich Bedarf verspüre, neue Veröffentlichungen im Revival-Stil zu erwerben. Mr Sterling, dessen vorige LP ich nicht mehr erwischte, indes macht durchaus ein völlig eigenes Ding, und die oben zitierte Überschrift trifft in der Tat den Nagel auf den Kopf: eine solche Verzahnung, Verschmelzung der beiden Klangwelten kommt einem nicht alle Tage unter. Das erinnert mich wieder einmal daran, wie bedauerlich es doch ist, dass Mira Calix (Südafrika+Suffolk) nach ihren genialen Arbeiten auf diesem Terrain seit so vielen Jahren als veröffentlichende Komponistin verstummt ist. Speziell ihr drittes Album „Eyes set against the Sun“ (2007) ist ein Klassiker dieser Stil-Verbindung, die nach meiner Kenntnis nicht viele empfehlenswerte Platten hervorgebracht hat, 2018 – Teil meiner damaligen Top 3 – auch „Lageos“ von Actress (Darren Cunningham) und dem LSO.
Sterlings „Turn of Phrase“ arbeitet zwischendurch mit Detroit-Anleihen, verfremdeten Sprachsamples und manch anderen schwer zu verortenden Klangelementen; ein ziemlich großartiges Stück ist dann kurz vor Schluss die acht Minuten lange Kollaboration „Tenderness“ mit der mysteriösen Poetin Leslie Winer, die einst mit Burroughs und Basquiat zu tun hatte und seither immer mal wieder auf Avantgarde-Alben auftaucht (u.a. Carsten Nicolai, CM von Hausswolff, Jon Hassell oder auch dem 1987er, nach wie vor 5-Sterne-Debüt von Sinéad O’Connor).
Abschließend noch zwei kleine (Lese-)Empfehlungen ohne viele Worte am Rande: Ein Hinweis auf das neue, wahrlich afrofuturistische Album der schillernden Dawn Richard, das im „New Yorker“ schön gewürdigt wurde. Und sehr gefreut hat mich der wertschätzende Text zum 40. Geburtstag von „The Fox“, Elton Johns gar nicht typischem „lost gem“ aus den Jahren, als er weder noch mit seinen „Klassikern“ der Siebziger beschäftigt war, noch bereits in den MTV-Achtzigern angekommen war, die mit dem 1983er Revival „I’m still standing“ begannen.