Neben dem kunstschatzreichen Prado haben mich vor allem die Straßen in Madrid interessiert. Ich wollte herausfinden, wie die Madrilenen den besonders harten Lockdown mit den heftigen Verlusten verkraftet haben.
Ich war noch nie in Madrid, habe die Stadt in Francozeiten gemieden, aber auch die harte Sprache hielt mich von ihr fern.
Ich wohne im Literatenviertel, mein Nachbar ist Cervantes – ist er wirklich so gut wie Goethe? Die schmalen Straßen im „Barrio der las Lettras“ sind beschaulich, ruhig. Wo sind die Autos der Bewohner der bis zu 10Stockwerk hohen Gebäuden? Hier geht man zu Fuß. Überall sind die Bars geöffnet, einige haben noch Entschuldigungsschilder hingehängt.
Nur wenige sind noch am Saubermachen, weg mit dem Lockdown-Staub. Noch nicht entfernt sind die herzlichen Grüße an die Nachbarn.
Noch tragen die meisten Masken, aber in und vor den Bars herrscht wie ehedem Gesichtssicht. Sie sprechen viel und laut, sind Dauertelefonierer und tragen die besten Schuhe: boots of spanish leather. Ich sehe nicht wenige Frauen in ausgesprochenen Festtagskleidern. Es ist ein normaler Donnerstag. Sie scheinen ihren Frischluft-Catwalk zu genießen. Toll.
Ich reihe mich in eine endlose Schlange ein, weiss nicht so genau wofür. Am Ende steht man einem schwarzen Jesus gegenüber, dem die Menge für das Überleben in der Pandemie dankt und für die Verstorbenen betet.
Der 29. 5. ist nationaler Armeetag. Ich stehe mit Vielen an der Absperrung und vergesse vollkommen die Abstandsregelung. Freizeituniformierte schreien neben mir: VIVA Espagna, als die spärliche Garde mit ihren gestreckten Lanzen an uns vorbeimaschiert. Ich denke, dass nur 10 m weiter das große Picasso Gemälde „Guernica“ hängt. Ùber uns malt die Luftabwehr die leicht verschobenen Nationalfarben in den Himmel.
Auf dem Weg nach Chueca komme ich an einer ewig brennenden Flamme vorbei. Für wen flackert sie? Für alle an Covid Verstorbenen.
Chueca ist das angesagte Schwulenviertel von Madrid. Hier flaniert Mann mit Mann in gewagten Outfits. Ich sehe über eine weite Restaurantterrasse, wo nur Männer ihren Cortado trinken. Wir sind nicht in Arabien, aber in Tausendundeinernacht. Von so geballter Lebensfreude, solch hedonistischem Hochtreiben muss doch etwas an Energie in die Gesellschaft fließen. Was hier an Mut in der Tabulosigkeit geboten wird, ist frappierend. Sicher wurde hier während des strikten Lockdowns in jeder Besenkammer gefeiert. Ich lese im Internet über Chueca, dass es vormals ein kriminelles Prostituiertenviertel war, das von den Homos und Heteros „domistiziert“ wurde, nicht nur für die Epikureer. Feinschmecker kommen hier nur schwer an den einladenden Geschäften vorbei.
Buen provecho, schmeckt wie immer.