Abendkühle senkt sich übers Dorf, auf einer Insel gelegen, mitten in der Angara. Wie lange noch? Eine Übelkeit lastet auf den Gedanken der noch Hiergebliebenen. Ohne klopfen trete ich ein, setze mich zu den Altfrauen und Altmännern in Darias niedriger Stube, auf die Truhe, auf die Banke, strecke die Beine, bekomme ein Schälchen Tee gereicht, gefüllt aus dem raumheizenden Samowar, der einzigen Dekoration des Tisches, dem wichtigsten Hausgerät in den Hütten der Alten, genieße das unhinterfragte Zugehörigsein. Beredet wird, was kommt, was geht, Stimmen im Gleichmaß zur Natur, Fragen formulieren, Meinungen parlieren, scheitklobige, grundwahre Worte, schmucklos, geradeheraus, ehrlich bis auf die Knochen, erbarmungslos, weise. Aber hoffnungslos? Jeder darf sprechen, jeder nimmt hin, seines Wandelns Abwege vorgeführt zu werden, jeder ist Teil dessen, was Gott seine Geschöpfen dulden lässt. Beschönigungen sind Zeitverschwendung. So ist es, anders kann es nicht sein, am Rande der Welt, am Ende des zupackenden Gestaltens eines Erdfleckens, am Ende der Existenz von Hütten, Ställen und Äcker, des Dorfes, der Insel in der Angara. Ich tauche ein, schwinge mit, treibe mit, auf den Wogen der Worte entlang der Tage, der Erinnerungen, der Probleme, Ängste, des Daseins. Mit blendender Gewalt wird die Gedankenwelt jener Menschen ausgeleuchtet. Bald wird der Damm geöffnet, werden Insel, Dorf, alle Samoware, alles was nicht rechtzeitig ans entfernte Ufer, in das frischerbaute Örtchen geschafft sein würde, die eherne Lärche, die seit Äonen steht und die zu fällen man nicht erfolgreich sein wird, ja, selbst die ungezählten Toten auf dem Friedacker der vergangenen Jahrhunderte, wie kann man das je vor seinem Gewissen verantworten?, all dies wird von den Wassermassen verschlungen werden, und Matjora wird gewesen sein.
Es ist der Übersetzerin Elena Panzig zu verdanken, dass diese Geschichte zu uns ins (Ost)Deutsche gekommen ist, es ist ihr zu verdanken, dass Valentin Rasputin, der Schöpfer, der Chronist dieser Geschichte, überhaupt einer breiteren Öffentlichkeit im Ostblock zur Kenntnis gelangte. Erst ihre axtwuchtige, klangfühlende Übertragung ins Deutsche rückbewirkte die Aufmerksamkeit, die Rasputin dann auch in seiner sowjetischen Heimat erfahren hat. Er wuchs im fernen Sibirien auf, nahe des Baikalsees, nahe Irkutsk. Bis dorthin gelangte kaum ein interessierter Blick aus dem europäischen Teil des Landes. Nach Novellen und Geschichten aus seiner Heimat über das Ringen der Menschen ums Menschsein, fasst »Abschied von Matjora« alle Weltsicht und Erfahrungswelt Rasputins zu einer Allegorie auf das Leben, des Seins und Vergehens zusammen. Näher vermag kaum jemand der »russischen Seele« sich einfühlen, dem Denken und Besorgen des dörflichen Arbeitens fern der »modernen« Welt, den Kämpfen der Menschen ums Morgen. Was weiß denn der von Ferne stammende Sowchos-Vorsitzende von dieser Gegend?, was verbiegen sich denn die jungen Leute vor dem vermeintlichen Fortschritt?, was wird aus uns Alten, die doch das Gedeihen der Nachkommen vorbereitet haben?
Kaum je, zumindest äußerst selten, finde ich mich in einen Maelstrom der Worte so unentrinnbar gesogen. Nicht hilflos. Nein. Nicht versinkend. Nein. Erkennend, berührt, erhaschend einen Hauch vom Weltengeist. Ja. Aufgenommen in den Schoß unerschütterlichen Vertrauens. Ja.
Ich erinnere mich ähnlicher Momente beim Verstecken im Holzschiff Jahnns und beim Hören der Fried’schen Übertragung des Milchwaldes von Dylan Thomas während eines Maskenschauspiels.
Zum ersten Mal denke ich den Gedanken, ein Buch sollte man frühestens dann lesen, wiederlesen, wenn man selber das Alter erreicht, das der Autor zum Zeitpunkt des Verfassen hatte. Kann man denn vorher überhaupt in der Lage sein, die Vielschichtigkeit mancher Wortwahl annähernd zu erfassen?
Das Ende der Geschichte Matjoras verschwimmt im Nebel des Ungewissen. Doch das Sinnieren über universelle Fragen des Seins bleibt im Gebräu des täglichen Erwägens und Vergewisserns gegenwärtig.
Valentin Rasputin »Abschied von Matjora«, Übersetzung: Elena Panzig
Gerade 14 Tage ist es her, dass mir auf dem Wochenmarkt jemand dies Büchlein wohlwollend in die Hand legte. Wie sehr mag ich das freitägliche Weilen in dem überschaubaren Rund der Stände, vollgestopft mit allen notwendigen Köstlichkeiten für die kommende Woche! In die eine Richtung brauche ich nur andeutungsweise nicken, schon wird nach einem guten Stück bunten Specks für mich gekramt, von mehreren Stellen kommt ein herzliches HALLO, bei dem Käsefritzen aus dem Nachbardorf beginnt meist der Reigen der Gespräche, die mal Politik, mal Probleme der bäuerlichen Existenz, mal Kochtips oder ganz andere Fragen betreffen, immer auch zu puren Albernheiten ausarten. Interessant, erfreulich, erheiternd. Man kennt im Laufe der Jahre diesen oder jenen Marktgänger, mit dem man zu plaudern weiß, erkundigt sich beim Organisten der Kirche, die hier Schatten wirft, wie es denn mit dem Organieren voranginge. Ich weiß, wer woher seine Waren bezieht, wessen Eier von glücklichen Hühnern stammen und mir ein solches höchsteigenhändig erwürgen würde, wer seinen Speck noch selber räuchert. Unschätzbares Eingeweihtenwissen in einer Stadt, deren Angebot an solcher »Bückware« ziemlich begrenzt ist. Unter zwei Stunden geht es selten.
Und wenn man mit einer jungen Dame und ihrer Mutter über Salzgebäck aus Fetakäse plaudert, weil beide dem Zucker abhold sind, und mich dann der ältere Herr, der aus der Nähe dem zuhörte, ebenfalls um das Rezept bittet, dann führt das manchmal noch weiter in ganz ferne russische Gefilde und zur Verabredung für die nächste Woche zum Büchertausch.
Ohne den Markt würde mir tatsächlich etwas fehlen.
Eine unglaubliche Koinzidenz führte mich kürzlich zu einer Internetseite, auf der eine verstaubte Fotografie eine Person des Buches abzubilden scheint (s.o.).
Olaf (Ost), 26. März 2021