The fourth volume in the endlessly innovative group’s long-running series reminds us that they often dropped their best work away from their full-lengths.“ – Robert Ham
„Was man hier hört, ist eine Band, die ihren Sound nie gefunden hat, weil sie nie danach suchte. Stereolab bewegen sich nicht durch die Musik. Die Musik bewegt sich durch Stereolab.“ – Lars-Thorge Oje
Durch ungeklärte Umstände bin ich in letzter Zeit, nach langer Pause, mal wieder in das Schaffen von Stereolab eingetaucht. Ende der Neunziger hatte bzw. kannte ich ein paar Alben wie die Doppel-CD-Kollektion Aluminium Tunes oder das poppige Sci-Fi-Lounge-Elektropop-Album Dots and Loops mit seinen heiteren Sixties-Melodien. Irgendwie fand ich aber eben diese etwas zu lockerflockige Singerei mit Hang zum nostalgischen „Easy Listening“-Gedudel aber auch schnell etwas nervig, und so habe ich der Band damals stets die angemessene Aufmerksamkeit verwehrt.
Ausgelöst durch Retrospektivberichte und die Reihe von Wiederveröffentlichungen der Stereolab-Alben in exzellenten 2-CD- bzw. 3-LP-Ausgaben („Expanded Editions“ mit jeweils unterschiedlichem Zusatzmaterial) habe ich über die letzten Jahre so nach und nach die Band erst langsam so richtig schätzen gelernt. Ende der Achtziger in London zusammengekommen, u.a. mit der Pariserin Laetitia Sadier, die mit ihrer Stimme für den französischen Touch (manche/r fühlte sich an Françoise Hardy erinnert) bei Stereolab verantwortlich zeichnet, erschienen ab 1992 eine Reihe durchweg spannender, empfehlenswerter Alben, von denen jedes einzelne eigenen Charakter, andere stilistische Schwerpunkte hat – und doch klingen Stereolab ganz oft etwas aus der Zeit gefallen und letztlich in ihrer musikalischen Präsenz wunderbar idiosynkratisch, unter anderem durch den Einsatz analoger Synthesizer. Dieses Aus-der-Zeit-Gefallensein macht sie auch im Jahr 2021 noch immer genau so hörenswert wie damals in den Neunzigern – bzw. möchte ich wohl eher sagen: Jetzt erst recht treten die singulären und zeitlosen Qualitäten von Stereolab umso stärker hervor, unverstellt von den postmodernen Moden jener Jahre.
Eine echte Entdeckung war der Kauf ihres zweiten Albums Transient Random-Noise Bursts with Announcements aus dem Jahr 1993 (der Titel könnte auch zum Album der Flaming Lips aus jenem Jahr passen), wobei die 2-CD-Edition das 60-minütige Originalalbum um eine Reihe überzeugenden Bonusmaterials aus jener Zeit bereichert. Höhepunkt ist wohl die 18 Minuten lange, hypnotische Krautrock-Nummer „Jenny Ondioline“, aber das ganze Album fasziniert mit schönen Kreuzungen aus Velvet-Underground-Energie, Neu!-Spleen und Popsongs (man denkt auch an die Warp-Records-Kolleg/innen von Broadcast). Heraushören kann man, dass Stereolab damals – wie ungezählte andere Bands auch – von My Bloody Valentine und dem „Shoegaze“-Stil beeinflusst waren, doch mit dem französischen Pop-Einfluss und den gesellschaftspolitisch aufgeladenen oder kapitalismuskritischen Texten durch Sängerin Laetitia Sadier fanden Stereolab schon da ihre ganz eigene Nische – neben ihr sang hier erstmals auch die australische Gitarristin Mary Hansen, die allerdings 2002 nach sechs gemeinsamen Alben im Alter von 36 Jahren bei einem Fahrradunfall ums Leben kam, was die Banddynamik einer wichtigen Gegenspannung beraubte.
Es folgten 1994 und 1996 die Meisterstücke Mars Audiac Quintet und Emperor Tomato Ketchup, sowie 1997 das elektronischere Dots and Loops, auf dem der Popsong-Einfluss langsam deutlicher zutage trat, um Bossa Nova und „Swinging ’60s“ bereichert, aber wiederum vom Chicago-Postrock jener Jahre infiziert (John McEntire war gelegentlich mit dabei). An und an tauchen auch jazzige und psychedelische Passagen auf. Dass diese Veröffentlichungen der Neunzigerjahre durchweg famos sind (auch aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit allesamt hörenswert), führt(e) ein wenig dazu, dass oftmals die Alben ab 1999 als weniger interessant oder als Stagnation auf hohem Niveau abgetan werden, Cobra and Phases Group Play Voltage in the Milky Night etwa, wieder ein Titel, den auch die Flaming Lips gewählt haben könnten, dann Sound-Dust (eröffnet von dem minimalistischen „Black Ants in Sound-Dust“), Jim O’Rourke produzierte mit (in jeden Jahren war er ja auch mit Wilco und Sonic Youth unterwegs) und Margarine Eclipse, und noch drei weitere Alben folgten bis 2010. Danach wurde es ruhig um die Gruppe. Man hatte sich nichts mehr zu sagen und die Freude am gemeinsamen Musikmachen verloren.
Aus dieser produktiven Zeit, im Wesentlichen 1998 bis 2008, stammen nun die gesammelten „Non-Album-Tracks“ der neuen 2-CD- bzw. 3-LP-Veröffentlichung Electrically Possessed. Stereolab haben bereits in den Neunzigern begonnen, ihre zahllosen Stücke, die sie jenseits der Alben veröffentlichen, auf vier „Switched On“-CDs zusammenzustellen (1992, 1995, 1998). Electrically Possessed knüpft nun dort an mit zwei weiteren CDs. Hier finden sich vor allem Stücke von limitierten Tour-Singles, EPs und Kompilationen, unveröffentlichte Tracks und auch zwei Outtakes, die bei den bisherigen „Expanded Editions“ offenbar vergessen wurden. Ich weiß so gut wie nichts über die Entstehungshintergründe – außer den sorgfältig zusammengetragenen Fakten, die sich hinter den CDs verstecken, etwa in welcher Zahl die limitierten Vinyl- und CD-Editionen einst erschienen:
„Calimero“ was originally released July 1999 via Duophonic Super 45s „Caliméro / Cache Cache“. Catalogue number DS45-25. A collaborative 7″ release between Brigitte Fontaine and Stereolab. The B side was Cache Cache by Monade. A total of 4100 vinyl copies were pressed [1800 on white vinyl and 2300 on black vinyl], there was also a CD edition of 7076 copies.
Brigitte Fontaine ist übrigens eine 1939 geborene französische Avantgarde-Sängerin, Roman- und Theaterautorin, die auch schon mit Sonic Youth, Georges Moustaki, Grace Jones, dem Gotan Project und dem Art Ensemble of Chicago zusammengearbeitet hat.
Obwohl die 25 Stücke aus unterschiedlichsten Quellen stammen, fügt sich das ganze Projekt doch zu einer sympathischen Auslese, die sich wunderbar kurzweilig durchhören lässt. Einiges kommt, ohne unfertig zu wirken, spontaner und weniger durchgetüftelt daher als die elaborierten Alben von Stereolab. Da bricht gelegentlich ein Stück auch mal im richtigen Moment einfach ab oder wirkt – siehe „Free Witch And No Bra Queen“, „Jump Drive Shut-Out“ oder „Solar Throw-Away“ – frech zusammengestückelt aus verschiedenen Teilen. Daher stört auch nicht im geringsten, dass die Auswahl einer eigenartig achronologischen Anordnung folgt, vielmehr passt das sehr gut. Nur die sieben im Januar 2000 aufgenommenen Tracks des limitierten Minialbums First of the Microbe Hunters sind en suite geblieben, was anfangs der ersten CD einige Gelegenheitshörer auf eine falsche Fährte locken könnte. Quer durch die Kollektion gibt es heiter Krautiges wie „Heavy Denim Loop Pt 2“ mit simplem Drumloop und röhrendem Synth oder das neuneinhalb Minuten lange, fast minimalistisch-funkige Instrumental „Outer Bonglia“ mit Marimba-Trance, dann flirrend-versponnenene Popsongs wie „Variation One“ für einen Dokumentarfilm über Robert Moog (dessen Instrumente Stereolab hörbar gerne hatten) oder „Dimension M2“ für eine Disco-Compilation (Giorgio Moroder schaut kurz zur Tür herein), eine mit John „Tortoise“ McEntire in Chicago entstandene achtminütige Mini-Suite („I Feel The Air (Of Another Planet)“) mit Klangspielereien oder natürlich auch mal „klassische“ Stereolab-Nummern wie „The Super-It“ oder „Household Names“
Electrically Possessed kann man als Einstieg in der Stereolab-Kosmos sogar noch mehr empfehlen als schon die vorhergehende Kollektion der Reihe, Aluminum Tunes. Wer sich davon wegtreiben lässt, wird dann sicherlich die „odds and ends“ dieser Auswahl in Richtung der regulären Alben der Band weiterverfolgen wollen, egal ob Stereolab noch einmal etwas veröffentlichen werden oder es mit diesem lange erwarteten Album bewenden lassen.