Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2021 21 Feb.

Distractions

von: ijb Filed under: Blog | TB | 7 Comments


 
 
 

Anlässlich der neuen LP habe ich am Wochenende das Gesamtwerk der Tindersticks – in umgekehrter Chronologie – durchgehört (abzüglich dreier experimenteller Installations- bzw. Filmmusik-Alben, die ich nicht besitze, Ypres (2014), Minute Bodies – The Intimate World of Percy F. Smith (2017) und Music for Claire Denis’ High Life (2018), das ich mir eben via Ebay bestellt habe.

 

Ich hatte vorab Bewertungen aller Alben aus dem Bauch notiert und wollte dann herausfinden, ob ich wirklich richtig lag. Ergebnis: Tatsächlich hatte ich mehrere Alben „nach oben“ zu korrigieren, speziell Across Six Leap Years, das ich zumeist links liegen gelassen hatte (und auch nur als CD-Kopie besitze), da ich die Neueinspielungen einer Auswahl von zehn, nach Bandmeinung zu wenig beachteter Songs, doch zu wenig „neu“ fand und finde. Diese Songs sind aber zumeist dennoch toll, einige großartig wie Say Goodbye to the City, Dying Slowly oder A Night In   nur braucht die neuen Einspielungen eigentlich niemand; sie sind weitgehend sehr eng an den älteren Versionen.

 

Das beste Album ist das unbetitelte zweite, landläufig „Tindersticks II“ oder „The Second Tindersticks Album“ genannt; das dritte, Curtains, und das erste, ebenfalls unbetitelte, sind aber fast ebenso herausragend. Das beste Album der zweiten Bandphase (mit 50% neuer Besetzung nach der fünfjährigen Pause 2003 bis 2008) ist wohl The Something Rain. Leider konnte ich mich bei keinem der späteren Album zu einer Wertung von mehr als vier Sternen hinreißen lassen; dazu, finde ich, haben sie einfach immer wieder doch diese recht „typischen“ melancholischen Tindersticks-Songs, die sich z.T. nicht signifikant von Album zu Album unterscheiden. In der ersten Phase ist/war das ein wenig „besser“, d.h. markanter.

 

Großartige Songs gibt es aber auf jedem Album, und auf ihrem besten Filmmusik-Album Les Salauds verbirgt sich mit ihrer sensationellen Neuinterpretation eines Hot Chocolate-Songs von 1977, Put Your Love In Me, ein unbekannter, sonst nirgendwo zu findender Geniestreich. Es sind vereinzelt ein paar weniger große Songs auf den Alben, vor allem auf denen der zweiten Bandphase, aber überall sind auch genügend brillante, so dass ich von keinem Album wirklich abraten könnte.

 

Mit dem neuen Album Distractions gibt es nun endlich wieder spürbare neue (Sound-)Ideen, und die Band verlässt, u.a. mit elektronischen Elementen, den ausgetretenen Pfad der vorigen Alben. Trotz einiger Höhepunkte sind The Waiting Room und No Treasure But Hope leider die beiden schwächsten (Studio-)Alben der Band. Selbst einige der Filmmusik-Alben sind spannender (Les Salauds, 35 Rhums, Trouble Every Day), und ich fand’s schade, dass sie nie die elektronischere Ästhetik von Les Salauds und Put Your Love In Me mehr auch für die Songalben eingesetzt hatten.

 
 

1993 – [First Untitled Album]  *****

1995 – [Second Untitled Album]  *****

1996 – Nénette et Boni (Soundtrack-Album)  ***½

1997 – Curtains  *****

1999 – Simple Pleasure  ****½

2001 – Trouble Every Day  ****

2001 – Can Our Love…  ****

2003 – Waiting for the Moon  ****

 

2002 – Vendredi Soir (Filmmusik, Dickon Hinchliffe solo)  ***

2004 – L’Intrus (Filmmusik, Stuart Staples solo)  ***½ 

2005 – Lucky Dog Recordings 03-04 (Staples solo)  ***½

2006 – Leaving Songs (Staples solo)  ***½

2018 – Arrhythmia (Staples solo),  Seite 1 ****, Seite 2 **  –  Gesamt: ***

 

2008 – 35 Rhums (Filmmusik)  ****

2008 – The Hungry Saw  **** 

2009 – White Material (Filmmusik)  ***½

2010 – Falling Down a Mountain  ****

2011 – Claire Denis Film Scores 1996-2009  ****

2012 – The Something Rain  ****

2013 – Les Salauds (Filmmusik)  ****

2013 – Across Six Leap Years  ***½

2016 – The Waiting Room  ***½

2019 – No Treasure But Hope  ***½

2021 – Distractions  ****

 

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7 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Wie werden hier keine Sterne diakutieren, auch wenn es so wirken könnte.

    Across Six Leap Years ***1/2 , das heisst ja immer noch gut bis sehr gut. Ich fand das erste und dritte Album Curtains damals nicht soooo faszinierend wie The Second Tindersticks Album, und fand es beachtlich, wie sie ihrem Stil lange treu bleiben konnten, und trotzdem tolle Musik ablieferten.

    Eigentlich eine Liebeserklärung an eine Band, was du da anbietest. Und der schliesse ich mich an, falls es so gemeint war.

    Unter dem Strich käme ich auf eine wohl nahezu gleiche Anzahl an Sternen, aber das diskutieren wir ja hier nicht.

    Distractions: **** , keine Frage , der Eröffnungssong einer meiner Top Five Songs der Gruppe. Hammersong.

    Aber ich weiss auch nicht genau, wie ich heute auf das erste und dritte Album reagieren würde. Da rede ich im Erinnerungsmodus.

    Grear labour of love, this text, and the music anyways.

  2. ijb:

    Ja, ich kann wie gesagt kein schlechtes Album finden. Beim Wiederhören hatte mich selbst überrascht, dass einige, die ich mittelmäßiger in Erinnerung hatte (Six Leap Years wie auch Can Our Love…, Waiting for the Moon, The Hungry Saw usw.) doch vier Sterne verdienen. Bei Falling Down… bin ich etwas unschlüssig, könnte auch ein halber Stern weniger sein.

    Aber auch da: Die Höhepunkte sind immer echte Höhepunkte, durchweg aber leider „ziehen“ stets die okayen Songs etwas „runter“. Fast alle Studioalben wären wohl im jeweiligen Jahr Teil meiner Top 20, außer den letzten beiden.

    Eigentlich hatte ich Curtains auch aus der Erinnerung nicht ganz so überragend im Sinn, aber da ist nichts, was das Album schlechter machen würde als das zweite.
    Beim ersten bin ich in der Tat ein wenig hin- und hergerissen; es klingt nicht ganz so ausgereift und rund wie Curtains, aber darin liegen, immerhin ist es ein Debüt, wiederum unbestreitbare Qualitäten; es ist mehr „Patchwork“ als die runden Alben der Folgejahre, und dann sagte ich mir, selbst wenn man jetzt drei ausgewählte Songs als weniger großartig von der Platte streichen würde, ist es immer noch eine Stunde lang! (Gesamtlaufzeit 76 Minuten). Curtains ist dann ausgefeilter und homogener als „II“, hat aber auch das unfassbar gute Songwriting von Another Night In über Rented Rooms bis zu Bathtime, wieder 65 Minuten lang. Mit den folgenden Alben haben sie den Stil dann souverän variiert.

    Mein Lieblingsstück vom neuen Album ist bislang You’ll Have to Scream Louder. Aber ich habe es auch erst wenige Male gehört. Es überzeugt mich aber von Anfang an mehr als die Vorgänger. Auf No Treasure z.B sind mit See My Girls oder The Amputees ganz herausragende Stücke, aber dann auch so So-Lala-Nummer wie Pinky. Ähnlich geht’s mir mit Waiting Room.

  3. ijb:

    Übrigens: Gutes Marc-Maron-Gespräch mit Jodie Foster:

    http://www.wtfpod.com/podcast/episode-1201-jodie-foster

  4. Lorenz:

    Bei meiner Ausgabe des 2nd Album ist als Dreingabe noch die, bei Erscheinen, wohl limitierte Live CD „The Bloomsbury Theatre 12.3.95“ mit dabei. Diesen Livemitschnitt finde ich unglaublich toll.

  5. Olaf (Ost):

    1995 formulierte ich betreffs der Tindersticks (graues Cover) folgenden Text zu deren Anpreisung. Heute komme ich darüber ins Kichern, weil das wie Baukasten klingt.
    »Seit seligen ELO-Zeiten ist mir keine Pop-Band mehr aufgefallen, die so selbstverständlich und konsequent die wunderbaren und in idealer Weise Stimmungen darstellenden Möglichkeiten von Streichinstrumenten in ihr Klangkonzept einbezieht, oder besser gesagt, dieses auf ihnen aufbaut. Trompeten, Hörner, Posaunen, Orgel, Vibraphon runden dieses ungewöhnliche Klangbild ab. Im Gegensatz zur Musik von ELO, die eine positive Ausstrahlung besitzt, wie die nur weniger anderer Musikgruppen, schwelgen Tindersticks in einer Art lakonisch konstatierender Melancholie, die jedoch trotz überschwenglich-elegischer, im Weltschmerz ertrinkender Momente eine optimistische Grundhaltung in gelegentlichen energischen Ausbrüchen aus solch lichtlosen Tunneln wahrnehmen lässt. Mit monoton traurigem Sprechgesang führt uns der Sänger durch feine, schwermütig und zumeist ruhig schwebende Songs. Die Intensität der im Ganzen dennoch äußerst spannungs- und emotionsgeladenen Kompositionen erinnern mich an die dramatische Kunst von Black (ich weiß, Vergleiche hinken). Trotz oder wegen allen Sentiments unendliche Labsal.«
    Von den Tindersticks habe ich keine weitere und möchte eigentlich auch keine weitere haben. Mit dieser bin ich überaus glücklich. Mehr würde ich – ehrlich gesagt – emotional auch nicht verkraften.
    Aber, dass ich ELO klasse fand und finde, dazu stehe ich heute noch. Irgendwann erkannte ich den albernen Unsinn der Texte, deren peinliche Banalität. Aber klingen tut es gut. Bei Black denke ich an die 1988er Comedy. Der hatte das auch drauf, einen einfach so einzupacken. Gegenwehr zwecklos. Na, bei DER Stimme.
    Nun bin ich wieder etwas abgeschwiffen …

  6. Olaf Westfeld:

    Das erste Tindersticks Album hat mich durch eine Phase größtmöglichen Liebeskummers begleitet. Ich erinnere noch einige Zeilen… „a handful of marbles, thrown in the dustbin“ vor allem… oder „sweet sweet man like me, I could only bring you misery“ – irgendetwas mit Whisky und water war da auch noch. Die zweite habe ich mir dann gekauft, aber der Satz „mehr würde ich – ehrlich gesagt – nicht verkraften“ passt auch bei mir: ich konnte das Album kaum hören und habe danach die Tindersticks kaum verfolgt. Das Stück aus den Klanghorizonten hat mir allerdings sehr gut gefallen (und mich seltsamerweise an *verlegenes räuspern* „Another One Bites The Dust“ erinnert).

  7. Olaf Westfeld:

    … oder wahrscheinlich doch aus der Ferne eher an „Under Pressure“… egal.


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