Im Sommer 2013 hievten Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier, ein junges Paar um die Dreißig aus Freiburg, ihre sorgsam gepackten Rucksäcke auf die Schultern und ließen sich von einem Freund mit dem Auto an die bulgarische Grenze fahren. Sie wollten so weit Richtung Osten, nach Kasachstan, Iran, Indien, Pakistan, Tokio und über den Pazifik usw., bis sie wieder in Deutschland ankommen würden, eine Reise ohne Flugzeug, also mit Bodenhaftung, einem natürlichen Zeitgefühl, Nachhaltigkeit und das meistgenutzte Verkehrsmittel sollte das Trampen sein. Die beiden machten Aufnahmen mit ihren Handykameras, um ihre Erinnerungen mit ihren Freunden und Familien zu teilen, sie tauschten ihre Erfahrungen als Filmemacher gegen Kost und Logis, beteiligten sich immer wieder an sozialen Projekten und ihre Route hatten sie nur vage geplant. Meist schliefen sie in ihrem kleinen Zelt, in Städten buchten sie Schlafplätze über Couchsurfing, nur gelegentlich mieteten sie eine feste Unterkunft. Das Alleinsein in der Wildnis. Die Stille in der Wüste. Geburtstag feiern in einem Zelt im Pamirgebirge in Tadschikistan, während der Schnee unablässig fällt, so dass die beiden den Schnee ununterbrochen von der Zeltplane abklopfen müssen, um nicht einzuschneien. Die Landschaften, die Weite, Fernstraßen. Erfahrungen, die nur möglich sind, wenn Vertrauen aufgebaut ist: Ein Schamane erlaubt dem jungen Paar, an einer Anrufung von Geistern teilzunehmen. Aus Respekt schalten sie die Kamera aus, als sich die Ahnen zeigen. Die Gastfreundschaft. Die Gelassenheit der Menschen. Handbemalte Busse. Weißgekleidete Sufis, die sich zu ihren Ritualen versammeln. Die Haut eines Elefanten berühren. Der Anblick des Fuji vor der Einreise nach Tokio. Weit – so nannten die beiden den Film – wurde zu einem Dokumentarfilm, der auf zahlreichen Festivals lief. Bis Ende Februar kann man den beeindruckenden Film unter diesem Link in der 3sat Mediathek ansehen (Dauer: ca. zwei Stunden). Man kann ihn auch über die Website der Filmemacher, wo es auch kleine Portraits über Reisebekanntschaften zu sehen gibt, erwerben. Von Tokio aus ging es in das Land, das sich die Reisenden für die Geburt ihres Kindes ausgewählt hatten: nach Mexiko. Per Containerschiff ging es später nach Barcelona; die letzten 900 Kilometer nach Freiburg wanderten sie zu Fuß. Sie waren bis Sommer 2016 unterwegs, länger als drei Jahre. Ein Lebensabschnitt. Eine lebensverändernde Zeit. Unvergessliche Eindrücke und Bilder.
2021 6 Feb
„Weit“ – keine Reise. Ein Lebensabschnitt
von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags: Dokumentarfilm | 9 Comments
9 Comments
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Uwe Meilchen:
Danke für den Hinweis auf diesen Film. Bewundernswert sich so in das völlig Unbekannte zu stürzen – jedenfalls für mich.
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Jochen:
Ebenfalls danke, Martina.
Wahnsinnsfilm, präzise Review.
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Martina Weber:
Oh, danke. Freue mich über euer Interesse. Ich selbst würde so eine Reise nicht unternehmen wollen (zu viel Realität). Ich war auch oft genug, vor langer Zeit, nur mit Rucksack unterwegs (oder – noch nachhaltiger – mit zwei Fahrradtaschen auf dem Gepäckträger) und finde es enorm anstrengend, nicht zu wissen, wo ich die nächste Nacht verbringe und die Ernährung zu organisieren. Ich habe – mit Freundinnen – auch spontan bei unbekannten Leuten übernachtet, kenne Schlafräume für mehrere Dutzend Personen, aus Kopenhagen und aus den Alpen.
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Jan Reetze:
Ach, ärgerlich, dass der Stream wieder mal auf D-A-CH begrenzt ist. Andererseits deutet das darauf hin, dass der Film irgendwann auch hierher kommen wird.Ist auf jeden Fall notiert.
Auf so eine Reise habe ich mich noch nie wirklich eingelassen, ein bisschen ärgert mich das heute. Mitte der 70er habe ich mal eine Rundreise Moskau-Baku-Sotschi-Moskau gemacht. Die war halbwegs organisiert, aber spannend. Mitte der 80er habe ich dann allerdings mit meiner damaligen Flamme einen zweiwöchigen Trip gemacht, der wirklich abenteuerlich war: Wir sind nach Constanta geflogen, von dort mit dem Schiff nach Odessa, und von dort aus mit Bahn oder Bus bis nach Tschernowitz gereist. Man glaubt heute gar nicht mehr, dass das überhaupt ging, aber es war möglich. Wir mussten uns nur überall, wo wir übernachteten, polizeilich melden. Haben wir sicherheitshalber auch gemacht, soweit die Dorfpolizisten überhaupt begriffen, was wir wollten. Kontrolliert hat das später nie jemand. Mir unvergesslich geblieben ist der jüdische Friedhof in Tschernowitz, wo uns ein alter, orthodoxer Jude sah und uns natürlich sofort als Westler erkannte. Der hat uns dann (auf Deutsch!) erklärt, dass Tschernowitz die Stadt ist, in der Menschen und Bücher leben. Er muss damals schon mindestens 70 gewesen sein, und ich hoffe, er hat seine Ruhe auf eben diesem Friedhof gefunden.
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Lajla:
Ja Martina, reisen kann sehr anstrengend sein. Letzte Woche kam hier ein Schwede an, der sieben Monate mit seinem Fahrrad durch Südamerika gefahren war. Er sagte, es sei eine Qual gewesen. Er hätte es nur für die Schönheit der Natur gemacht. Reisen ist insofern einfacher, weil man die ganze Logistik per Internet machen kann. Ich sehe hier im Hafencafé die digitalen Nomaden sitzen, sie machen „Homeoffice“, in der Mittagspause gehen sie tauchen. Daneben sitzen zwei Hippies aus La Gomera, die ihre Armbändchen verkaufen. Was für verschiedene Welten.
Ich halte das Reisen für meinen Lebensinhalt. Nicht leicht ist die Akzeptanz der verschiedenen Kulturen. Neulich hatte ich eine Auseinandersetzung mit dem unfreundlichen Busfahrer. Einheimische sagten mir, jetzt hätte ich den ganzen Clan von ihm gegen mich, der Busfahrer würde nie mehr mit mir sprechen. Ich hätte keine Kritik geübt, wenn ich diese unversöhnliche Verhaltensstruktur gekannt hätte. Wenn man länger an einem fremden Ort bleibt, hat man die Chance, die „Inneren Landschaften“ kennenzulernen. Auch das ist hochspannend.
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Martina Weber:
Jan, du findest Auszüge des Films sowie Interviews mit Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier auf youtube.
Der Begriff der „Inneren Landschaften“ gefällt mir, Lajla, den verwende ich auch. Ich habe gerade ein Buch mit Gesprächen mit dem US-amerikanischen Lyriker Gary Snyder gelesen, das in der Übersetzung den wunderbaren Titel „Landschaften des Bewußtseins“ (alte Rechtschreibung) trägt. Der Originaltitel lautet „The real Work. Interviews & Talks 1964-1979). Ein großartiges Buch.
Für mich ist es am interessantesten, wenn ich zu dem Ort, an dem ich mich reisend aufhalte, eine innere Beziehung herstellen kann. Die Dauer der Reise spielt dabei keine Rolle. In St. Mihiel, ca. 35 Kilometer südlich von Verdun, habe ich mich im Vorfrühling 2017 nur zwei Wochen aufgehalten, in der Region knapp vier Wochen. Zweieinhalb Jahre später hatte ich einen Zyklus von 25 Gedichten geschrieben, in denen ich den unsichtbaren Raum hinter dem sichtbaren für mich sichtbar machte. Das Wesen, die Seele oder auch das Gedächtnis der Landschaft. Diese Art des Umgangs mit einem Raum (Raum im weitesten Sinn) gehört zu meinem Lebensinhalt.
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Uwe Meilchen:
Das Anhören der „Sun Bear Concerts“ sind Reisen durch innere Landschaften für mich, ohne dass ich näher definieren könnte welche.
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Olaf (Ost):
Der Film »Weit« ist seit seinem Erscheinen der schönste Beitrag zur Völkerverständigung. Sollte Schulpflichtprogramm werden (wie auch »Die Anstalt« zur politischen Bildung). Es gab eine Menge Mäkelfritzen, die den beiden Unehrlichkeit und Schöntun vorwarfen, wegen ihrer gesponsorten Ausrüstung. Nein. Das Ergebnis spricht für sich: Nirgends erhält man direktere, lebendigere, ehrlichere Einblicke in das Leben der Menschen anderswo. Wer genau hinhört und -sieht, erlebt sie überall als bloße Spielbälle der Machenschaften politischer Eliten. Wenn der nächste Politiker vor die Kamera tritt, hat man nun ein Bild vor Augen, von denen, die es betrifft. Keine Nachrichtensendung kann und will das vermitteln. Zudem ist der Film sehr unterhaltsam geschnitten. Man merkt den beiden ihr handwerkliches Fachwissen an. Witz und Frische. Für mich kommt noch der »Ach guck mal«-Effekt hinzu. Einige der Wege habe auch ich schon beschritten und stand an diesem oder jenem Ort. Von mir gibt es ein »Chapeau bas!«
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Olaf Westfeld:
Als jemand, der seit Jahren familiär bedingt fast immer an denselben (zugegebenermaßen sehr schönen) Fleck in der finnischen Pampa Urlaub macht, habe ich die wenigen Reisen an anderen Orte, meist mit Rucksack oder Fahrrad, sehr genossen. Auch deswegen werde ich mir diesen Film noch anschauen und weil die Weite einen guten Kontrast zum Moment – im Lockdown eingeschneit – ist.