Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2021 22 Jan.

„Days of records and roses“ (part 2)

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 2 Comments

Gestern riss auf Sylt der Himmel auf, nach 10 Uhr morgens. Ich sah es aus den Augenwinkeln, als ich noch mit Rosato im Rosenhaus telefonierte. Im Sturm, eine halbe Stunde später, konnte ich mich fast gegen den Wind legen. Wellentosen und eine gleissende leere Flaniermeile wie ein Bild von Chirico. Es folgt der zweite Teil meines Privatfestivals aus der elektrischen Höhle, das mit John Coltranes „Blue World“ begann (s. Part 1). Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Bobo Stenson in den Neunziger Jahren. So wie Jan Garbarek seine kleine Offenbarung erlebte, als er in einem Schaufenster Coltranes „Giant Steps“ erblickte, hatte Stenson eine Geschichte mit einem anderen Album des Quartetts, „Ballads“. Meine Erinnerung an seine Erinnerung ist sicher lückenhaft: eines Tages, am Meer (ich nehme mal an, an einem Fjord), veranstalteten Bobo und seine Freunde eine Party. Es gab einen Anleger, Boote, Hochsommer, und ein kleines rotes Lagerhaus, in dem Bierkästen standen, es gab auch einen Plattenspieler. Jemand hatte die Platte „Ballads“ mitgebracht. Die Nadel senkte sich aufs Vinyl, die erste Ballade begann, und Bobo traute seinen Ohren nicht, und dann traute er seinen Ohren doch. Die Platte lief wieder und wieder. Und danach war das Leben etwas anders für Herrn Stenson.

 
 

 
 

Vierzehnter Januar. Und weiter ging es in meiner Sechs-Tage-Tour im home office: abseits journalistischer Gründlichkeit nur Musik hören, auf die ich grosse Lust habe. Trio Tapestry macht den Anfang des Tages perfekt. Und ich prüfte den Eindruck, den ich beim ersten Hören hatte: wie sich nach ruhiger Einstimmung das Feld der Töne auffächerte, ins Abenteuerliche hinein. Ich erweiterte den Text meiner englischen Besprechung: After the first three pieces of pure baladry (written by soul, not by the book, …)“ Phänomenales Album. Nachmittags dann Darjeeling First Flush, 0,5 l, die volle Dröhnung, und Joan Armatradings „Joan Armatrading“ aus dem Jahre 1976. In den Wochen, seit ich dieses überragend klingende Vinyl-Remaster bekam, habe ich das Album mir dem fein ausklappbaren Cover (und allen Lyrics dann gross vor Augen) etliche Male von vorne bis hinten gehört. Und nun wieder mit grosser Freude. Eine tolle Band, und eine „vocal performance“ ohnegleichen, in dieser nie angestrengt wirkenden Mischung aus Soul, Funk, Folk, Pop. Was so wie ein Gemischtwarenladen wirkt, ist aus dem berühmtem einen Guss.

 

Fünfzehnter Januar. Das darf man wohl eine „neue Lieblingsplatte“ nennen. Gab es mal in den Achtzigern (in Italien) zu kaufen. Verschwand dann. Zuletzt „reissue“ auf kleinem Label, dann wieder Sammlerstück. Kam nun morgens mit der Post aus Dänemark (hatte bei Discogs bestellt), und landete direkt auf dem Plattenteller. Gelbes Vinyl. „Scorie“, von Tiziano Popoli and Marco Dalpane. Anno 1985. Pop-Flair und Pop-Art treffen auf Experiment. Musik aus Zwischenzonen. Wahrscheinlich wurde Tiziano Popoli damals mal als „italienischer Eno“ bezeichnet. Auf jeden Fall gestaltet das Duo ein herrlich verspieltes und konzentriertes Stück avancierter und gesangsbefreiter Trancemusik ab. Absorbiert mich komplett. Tiziano Popoli widme ich eine ganze Stunde in den Klanghorizonten am 20. Februar, zwischen 5.05 und 6.00 Uhr. Das zweite Vinyl des Tages Don Cherry: Don Cherry, aka „Brown Rice“. Produced by Corrado Bachelli. Das Album erschien 1975 in Italien und wurde etwas später bei Horizon Records und mit neuem Cover nochmals aufgelegt. Charlie Haden und Frank Lowe sind mit dabei. Es ist für mich eines der besten Don Cherry-Alben, ein Meisterstück der „fusion music“, wilder als die nicht minder fantastischen, nachfolgenden drei Codona-Alben bei ECM. „Cherry’s hypnotic vocal whisper floating over squealing toy trumpet spirals and oily electric bass…“ Wo sind meine Space Cookies?

 
 

 
 

Sechzehnter Januar. Endlich traf auch Mats Eilertsens neue Arbeit aus Oslo ein. Neues Label. Und gleich mal ein Solo-Bass-Album. Der Titel: „Solitude Central“. Reduzierter noch als sein Auftritt beim letzten Punktfestival im Herbst 2020. Wann ist ein Solobassalbum als geglückt zu bezeichnen? Wenn man zwischendurch die Zeit vergisst. Habe ich. Und kurz vor Ende der solitären Performance lässt der Norweger die Stille explodieren. Kudos! Dann wusste ich genau, was folgen sollte: „The Esher Demos“. Das waren die Beatles unplugged, wie sie zuhause bei George Harrison die Songs des „Weissen Albums“ probten. Im Rahmen der aufwändigen Neuveröffentlichung des Doppelalbums erschienen diese „Demos“ erstmals, und mit hervorragendem Sound. Und es waren nicht einfach „Demos“. The most intimate home recordings ever. Und genau diese CD hatte sich in meinem Archiv versteckt. Doof. So kam es, dass mir „Power To Believe“ in die Hände fiel, ich legte die Surround-Fassung in der „Lossless“-Version auf, und bestieg mein kleines Raumschiff. 2003 kam das Teil erstmals raus, gemischte Kritiken. Die Surroundfassung zeigt, welch überragende Klasse das Werk des Doppel-Duos Fripp/Belew/Gunn/Mastoletto hat. Auch wenn Belew schon bessere Texte verfasst hat. Auch wenn die Ohrwürmer fehlen. Wer „Thrakk“ und „Discipline“ liebt, kann es hier krachen lassen – und staunen. 

 

Nachklang: „Bengt Berger paints a picture of Cherry as one who functioned on a level completely beyond most other musicians; he carried a pocket-sized transistor radio with him wherever he went, listening to music from the world over, practicing tunes from Turkish folk music to the Beatles constantly and incorporating them into his suites. Often, Cherry would show up to concerts and rehearsals playing his wood flutes and with a slew of newly-found songs committed to memory, leading the affably game ensemble through an hour-long suite, the themes of which may or may not have been known beforehand.“ (Clifford Allan) 

This entry was posted on Freitag, 22. Januar 2021 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

2 Comments

  1. Uwe Meilchen:

    Die Dualität der Dinge: gestern habe ich im Postamt eben jene Anniversary Edition vom „Weissen Album“ abgeholt – und die „Esher Demos“ aussen vorgelasssen; die „Sessions“ CDs fand ich interessanter.

  2. Susanne L:

    Eine Liebeserklärung an das Hören von Musik! Wunderbare Texte, ein tolles Solo in zwei Teilen. Danke!


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz