Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: Dezember 2020

Wer in North Dakota neben der Stelle, wo die nördlichen Eisenbahnschienen am Missouri entlangführen, unter einer Gruppe alter Amerikanischer Ulmen direkt auf die ersten Berge von Montana blickt und ein Loch gräbt, kann einen Eimer mit folgenden Gegenständen entdecken:

 

eine versilberte Blumenvase

ein Vergrößerungsglas

ein paar hellblaue Lockenwickler

einen Stapel von Schwarzweißfotografien mit Urlaubsfotos von den Pyramiden und anderen exotischen Plätzen von Übersee

eine Packung Camel mit Filter

ein Feuerzeug

einen Pfefferstreuer

eine bunte, handgroße Stoffpuppe

 

Würde ein archäologisch geschulter Zeitreisender aus einer fernen Zukunft versuchen, diese Gegenstände historisch zu verorten, würde er feststellen, dass die Fotografien einige Jahrzehnte älter sind als die Lockenwickler. Verschiedene Messtechniken sowie weitere Recherchen führen zu einer vermuteten Eingrabungszeit Mitte bis Ende der 1950er Jahre. Oder 1960. Korrekt wäre 1959.

 

He buried some of our things in a bucket. He said nobody else would know where we´d put them, that we´d come back and they´d still be here, just the same, but we´d be different. And if we never got back, somebody might dig them up a thousand years from now and would wonder.”

 

Charakteristisch für die Filme von Terrence Malick ist die Stimme aus dem Off, die den Film aus eigener Perspektive erzählt oder kommentiert und dadurch eine weitere Ebene über die Bilder legt. In Badlands ist es die Schülerin Holly, die spricht. Wundert man sich irgendwann darüber, dass Hollys Stimme in Anbetracht der sich überstürzenden Ereignisse von einer gewissen Lethargie geprägt ist, spürt man die Risse, die diesen Film prägen. Die Frau, die den Film erzählt, ist einige Jahre älter als der Teenager, der sich ins Geschehen treiben lässt. Doch warum wird die Geschichte trotzdem aus einer solchen Distanz und wie ohne innere Beteiligung erzählt? Diese innere Leere hat viele, auch politische Gründe, denn die Möglichkeiten für junge Frauen in dieser Zeit waren sehr begrenzt und begrenzend. Während Holly von der Szene erzählt, in der ihr älterer Freund Kit (und nicht etwa beide gemeinsam) ein paar Dinge (auch ihre!) vergräbt, spüren wir, dass Holly und Kit höchstwahrscheinlich niemals gemeinsam die Dinge, die Kit hier vergraben hat, ausbuddeln werden.

 

Gegenstände gemeinsamer Wertschätzung zu vergraben, scheint ein beliebtes Ritual US-amerikanischer Teenager und junger Erwachsener zu sein. Es geht hier darum, ein Geheimnis zu schaffen und zu bewahren. Auch in der von einigen Manas hochgeschätzten Serie LOST gibt es eine solche Szene. In einem Rückblick vergräbt die junge Kate eines Nachts mit ihrem Freund ein paar Schätze, darunter ein kleines Flugzeug. (Falls jemand weiß, in welcher Season und welcher Episode dies vorkommt, würde ich mich über einen Hinweis freuen.) In einem weiten Land, in dem nicht jeder Quadratmeter eine fest gelegte Funktion hat wie bei uns, ist das Vergraben kleiner oder großer Schätze aufregender als hierzulande.

 

Dennoch, was würde ich jetzt, rasch und heute in eine unverwüstliche Schatztruhe als eine Art Jahresbestenliste 2020 für die archäologisch ambitionierte Nachwelt packen?

 

einen Stein von der Ostsee, der auf eine Art vom Salz und den Wellen bearbeitet wurde, dass er aussieht wie ein Kopf mit einer nach oben hin schmal werdenden Stirn, zwei in etwas versetzter Höhe liegenden Augen und einem Mund, der mit viel Fantasie alle 32 Zähne zeigt und in den man verschiedene Stimmungsausdrücke hineininterpretieren kann

den Gedichtband Angle of Yaw von Ben Lerner

einen Jonglierball

die Verpackung von 500 g Singbulli Darjeeling second flush (aber ohne den Tee, der würde nicht so lange halten)

die CD Trip von Lambchop

den Film Badlands von Terrence Malick

 

2020 26 Dez.

Braderup im ersten Lockdown (2020)

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„Der Name des Ortes wird gern mit dem Namen der Meeresgöttin Ran in Verbindung gebracht (was wahrscheinlich völliger Blödsinn ist; Anm. v. m.e.). Rantum als Ort der Ran. Wahrscheinlicher ist jedoch die Ableitung aus der alten Schreibweise des Ortsnamens Raanteem als Ort am Rande.“ (den  Zufall sollte man ebenfalls nicht ausschliessen – random / rantum; Anm. v. m.e.)  (Wikipedia)



„Diese Kompilation zu machen, war ganz schön schwierig. Klar wollte ich (für „Film Music (1976-2020)“; erg. v. M.E.) einige sehr bekannte Stücke dabei haben, weil es seltsam wäre, etwas von meiner Filmmusik der letzten 44 Jahre vorzustellen, und die grössten Hits wegzulassen (lacht) – einige Leute würden das ziemlich enttäuschend finden. Ich wollte aber auch etwas von den weniger bekannten Arbeiten einbeziehen. Aus mehr als 200 Stücken hatte ich schliesslich eine Wahl zu treffen. Es war nicht leicht, es gab bewusste Beschränkungen, und vor alle  wollte ich ein Werk anfertigen, das man als Album von vorne bis hinten hören kann.  Meine einfache Vermutung ist, dass es immer noch Menschen gibt, die sich ganze Alben anhören willen,  statt einzelne Tracks auf Spotify. Und so entstand eine Art Suite, mit der ich ganz glücklich bin.“ (Brian Eno im Klanghorizonte Interview, Dezember 2020)

 

 

 

 

 

 

 

2020 25 Dez.

Wer wird mir eine Gitarre leihen?

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Zum ersten Mal hatte ich ihn auf Window Swap gehört. Da war irgendwo ein Mann aus dem Fenster gefilmt worden, wie er an seinem Ghettoblaster herumbastelte. Der Song ging mir sofort unter die Haut. Ich konnte  ein paar Wörter aufschnappen, eindeutig war nur die Begleitung an der Gitarre. Ich konzentrierte mich auf den Text. Ich wollte herausfinden, wie das Lied heißt und wer es singt. Zunächst verstand ich … visto … camino … muero … cruces. Immer wieder ließ ich das Video ablaufen, bis ich die Schlüsselwörter zusammen hatte. Wikipedia erklärte den Rest. Der Song heißt „He Visto Cruces De Palo“ – von Atahualpa Yupanqui. Claro, Spanisch, Argentinien. Für meine Zoomparty fehlte mir noch die Musik. Vale, es war für meine Umgebung die perfekte Musik.

 
 

Yo he visto cruces de palo

A la crilla del camino

Ich habe Holzkreuze entlang der Straße gesehen.

Ich dachte an die vielen ertrunkenen Flüchtlinge, für die kein Holzkreuz nirgendwo aufgestellt würde. Denen ich nie in die Augen werde sehen können. Die unsichtbar wie ein Virus, un(be)greifbar sind.

Ich will Ihnen ein Denkmal setzen.

 
 

 
 

For all drowned refugees

Do not fear the Whales nor the Orkas

They will swim at your side

Dive with you into deepest regions

Where unknown life exists

The ocean will be calm and kind

You will stay in our thoughts

Like a cross made of marble.

 

VUÉLVETE

 

2020 24 Dez.

Techno-Pop for Everyday Rebellion

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What do you consider to be acts of rebellion?

I consider everything you do to be acts of rebellion in your daily life. Things that come from a place very deep inside you, from a place of freedom, that change something you don’t like or that you are against. Originally, the record’s name was little acts of rebellion, but I didn’t want it to sound shy, so I took out the “little.”
I want to inspire people to revolt. I want people to feel like they have the power to change the world, and that it doesn’t have to be huge. You don’t have to go and defeat Trump immediately; you can do little things every single day. Small gestures add up over time. It is the opposite of a capitalist economy, which is about acting and producing all the time.

 

One of the album’s instrumental tracks is called “let them have the internet,” and it quite literally sounds like the internet breaking down. Where did that title come from, and what is your relationship with the internet in general?

The title of that song came from the media theorist Douglas Rushkoff, who has written a lot of books about the internet and its impact on humanity. He was in Silicon Valley when it all started; he was a punk, doing acid with all the guys that were starting to come up with the idea of the internet.
From a philosophical standpoint, the internet was supposed to be for everyone, free and open. But then it became capitalist, and now we do everything online and everything is mediated by companies. I’ve had this love-hate relationship with the internet because of that. [Rushkoff] has this podcast called Team Human, and in the first episode he has this beautiful moment where he’s like, “At first I was mad because these companies took our internet away. But then I realized the more the capitalistic world goes online, the more free we are in real life, because we can just turn our phones off and nobody’s selling us anything. The hugging, the kissing, the five people sitting in a room and conspiring together—that all happens offline.” So with this song, I’m like, “Fuck it. Let them have the internet, and we can have life outside of it.”

 

[…] When Kraftwerk’s Florian Schneider died earlier this year, you mentioned on Twitter that nothing has influenced your approach to music more than that group.

Kraftwerk was the first time I saw the aesthetic of electronic music and the structure of pop songs put together. If I hadn’t listened to Kraftwerk, I’d never have been interested in electronic music. I would have always stayed on the other side, just listening to it and dancing to it. But when I heard Kraftwerk, it was like, “I can make people feel things in their gut and make them sing songs at home and feel seen.”
It was also that sense of perfect humanity, between being a technician and a musician. I have a very profound fascination with machines. I’m very technical. I can fix all my machines; I know how to solder. I understand the circuitry perfectly. That capacity to understand machines and play them, and have the music sound human, even though it’s electronic, is also part of the inspiration I draw from Kraftwerk. It’s everything I aspire to create through songs.

 

Ela Minus Makes Techno-Pop for Everyday Rebellion

 

2020 24 Dez.

TROTZALLEDEM

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Dreifach ist der Schritt der Zeit

Zögernd kommt die Zukunft hergezogen

Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen

Ewig still steht die Vergangenheit

 

(Friedrich Schiller, Spruch des Konfuzius)

 

Allen Manas ein besseres Jahr!

 

2020 24 Dez.

Weihnachtsbäume

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2020 24 Dez.

My favourite home cinema flow ecstasies 2020

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I hadn’t expected it was quite so devastating Celine Sciammi’s glorious romance is as much a Brief Encounter as it is a nouveau-Vertigo. It ends with a long shot of a woman deeply moved and publicly weeping; it might as well be a mirror back at the audience – albeit quite a flattering mirror, with dynamite hair and top corsets.

(Catherine Shoard, The Guardian, on Portrait of a Lady on Fire)

 

1. Portrait of a Lady on Fire
2. Who You Think I Am
3. The Half Of It
4. A Beautiful Day In The Neighborhood
5. I Like To End Things 

 

 

Die erste meiner Parallellesepartnerinnen meldete sich und sagte, sie hätte nicht warten können, sie hätte nur mal kurz reinlesen wollen und dann, „… home office, langer Abend, Freundin noch 25o Kilometer entfernt, Wochenende fern, Schichtdienst im Krankenhaus …“ – und nach drei Stunden hätte sie die letzte Seite zugeklappt. „Ein Trip“, schreibt sie, „ein guter, wilder Trip, gute Story, und kein Kuschelsex“. Der zweiten Frau (diesmal hetero) ging es ähnlich. „Wenn man einmal im Buch ist, und es ist so ein kleines, möchte man es nicht portionieren“, schrieb sie, „das ging mir früher so bei den Novellen von Maupassant.“

Also, wirklich, dachte ich, öffnete abends meinen liebsten Shiraz, und bald wusste ich, was die Ladies meinten. Ein Buch über eine lesbische Liebe als völlige Selbstaufgabe, Liebe als Kapitulation, Liebe nicht nur als Besessenheit, sondern als Besessenheit, die es schafft, nicht überzogen zu sein. Very sophisticated. Pauline Delabroy-Allard arbeitet mit einfacher Syntax, improvisatorischer Sparchlust und  jener Art von perpelexdr Einfachheit, die beim Lesen Wirkungstreffer erzielt. Das Einfache  hat einen doppelten Boden.

Prosa in kurzen Abschnitten ist derzeit ein beliebtes Mittel – sie kann Gewicht verleihen, ohne sich in die Länge zu ziehen, indem sie den Leser dazu einlädt, die Lücken zu füllen. Sie muss jedoch mit Bedacht eingesetzt werden, um nicht schlagfertig oder überheblich zu wirken. Delabroy-Allard gelingt genau das. Ein Buch, das sich eindrucksvoll von der Ekstase der Liebe zu Stille und Einsamkeit bewegt. Als nächstes sollten wir uns die „Märchen aus 1001 Nacht“ vornehmen. Oder den Decamerone.

 

Immer wieder gibt es hier auf dem Blog Versuche, ein parallel reading anzuregen, also Kommentare zu einem bestimmten Leseabschnitt eines Buches zu posten. Es ist jedoch offensichtlich nicht einfach, sich auf ein Buch zu einigen, das mehrere Manafonistas begeistert, und die zweite Schwierigkeit ist der Zeitplan, weil man ja immer erst etwas zu Ende lesen möchte und einen eigenen to-read Stapel liegen hat. Eine andere Möglichkeit bei gemeinsamer Begeisterung ist das zeitversetzte Parallellesen und Kommentieren eines Buches. Darum geht es hier. Es betrifft diesen Roman:

 
 

 
 

Am 3. November hat Jan hier einen Beitrag zum Debütroman von Andreas Heidtmann geschrieben. Jans Text hat mich begeistert und mich dazu veranlasst, endlich diesen Roman zu bestellen, was ich schon lange vorhatte. Während ich das Buch las, vergaß ich, was Jan dazu geschrieben hatte, dann las ich Jans Posting nochmal. Und stellte fest, dass ich den Roman ziemlich anders wahrgenommen habe.

Worum es geht, in einem Satz? Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken des jugendlichen Ben Schneider, der in Lippfeld lebt, im Sommer 1974, geschrieben aus Bens Perspektive, jedoch in der Sprache des erwachsenen Autors Andreas Heidtmann.

 

Lippfeld: Lippfeld wird im Roman bezeichnet als „das entlegenste Kaff der Welt“. Aber wo liegt es? Einmal fährt Ben mit dem Bus von Essen-Werder über Bottrop und Gladbeck bis Lippfeld. Im Ortsverzeichnis des Dierke-Atlas gibt es keinen Eintrag für Lippfeld. Gut, im Dierke ist nicht jedes Kaff der Welt verzeichnet. Wer aus süddeutscher Perspektive „Lippfeld“ als Ortsnamen präsentiert bekommt, glaubt gerne, dass es sich um einen Ort in Nordrhein-Westfalen handelt. Gibt man jedoch in einer Internet-Suchmaschine Lippfeld ein, erscheint … der Titel des Romans von Andreas Heidmann! Der Ortsname ist also erfunden. Das könnte ein klassischer, kluger Schachzug sein, um sich vor zufälligen Ähnlichkeiten der im Roman vorkommenden Personen und Handlungen mit tatsächlichen Personen oder Handlungen zu schützen. In diesem Roman ist es aber mehr. Der fiktive Charakter des Ortes der Haupthandlung ist ein wichtiger Mosaikstein meiner These, dass es sich bei den meisten Schilderungen um eine Parallelwelt handelt, die einzig und allein in der Fantasie der Hauptfigur Ben Schneider entsprungen ist. Und zwar mit dem Ziel, sein Leben in Lippfeld erträglich zu gestalten.

 

Die Parallelweltthese: wird im Roman immer wieder aufgegriffen und bestätigt und zieht sich so raffiniert wie diskret als roter Faden durchs Buch. „Ich sah mir zu, als hätte ich einen Zwilling an meiner Seite, der soeben als zweites Ich aus meiner Person getreten war.“ (S. 50) „Ich kam mir vor wie in einem Film, der plötzlich in vielfacher Geschwindigkeit ablief. Und mit Szenen, die nicht im Drehbuch standen.“ (S. 55) „Es musste Paralleluniversen geben. Vergessene Universen.“ (S. 162) „Es war ihr [Rebeccas, M.W.] Rad, während ich nur ein Besucher aus einer anderen Galaxie war.“ ( S. 284) Hinzu kommen viele kleine surreale Passagen, oft ein kleines Wunder am Ende eines Kapitels wie einmal, als Ben einen Prittstift in Richtung Himmel schleudert „und sah, wie er als kleiner Komet in der Sonne verschwand.“ (S. 55) Ohne eine Parallelwelt wäre es auch unstimmig, dass Ben gefühlt mindestens eine Packung Camel pro Tag raucht, seine Eltern aber nichts davon mitbekommen. Ein weiterer Hinweis auf die Parallelwelt ist, dass der nächtliche Einbruch ins Kiosk und der Diebstahl keinerlei Konsequenzen hat. Der wichtigste Hinweis erfolgt im letzten Kapitel, in einer Passage über Susanne, siehe unten im Abschnitt Die Beziehung zwischen Ben und Susanna.

 

Dramaturgie: Bemerkenswert finde ich, wie gut die Dramaturgie funktioniert, obwohl sich normalerweise ein real existierender Lebensabschnitt in die Einordnung der Spannungskurve, die ein Handlungsroman gewöhnlich erfordert, entzieht. Handlungsstränge werden immer rechtzeitig abgebrochen, bevor die Spannungskurve abflauen könnte. Immer wieder geschieht Überraschendes, sei es im Innern des Protagonisten oder im äußeren Handlungsablauf. Zwei lange, wunderschöne, berührende Briefe bauen eine tiefe Freundschaft in einer weiteren Parallelwelt von kosmischer Dimension auf.

 

Verfilmung: Eine Verfilmung des Buches kann ich mir nur als Enttäuschung vorstellen. Die Stärke des Romans liegt in der Sprache und in der Art, wie der Protagonist etwas wahrnimmt und wie er das, was man Realität nennt, durch seine Wahrnehmung und Beschreibung verwandelt.

 

Bens Perspektive: Ben betrachtet seine Umgebung sehr genau, geradezu soziologisch, was damit zusammenhängen könnte, dass sein älterer Bruder Soziologie studiert. Erstaunt haben mich die vielen Bemerkungen zu Äußerlichkeiten wie Kleidung, Schmuck und immer wieder Gesten. Ich hätte nicht gedacht, dass Jungen in diesem Alter ihre Umgebung derart aufmerksam betrachten. Erstaunt hat mich, wie viele Begriffe aus der Botanik erwähnt wurden, jedenfalls deutlich mehr als Automarken. Wie in Kirstin Breitenfellners Roman „Als die Welt unterging“ über eine Jugend in den 80er Jahren, über den ich hier mit der Autorin ein Interview geführt habe, schreibt auch in diesem Jugendroman die Hauptfigur Tagebuch.

 

Musik: Da ich im Sommer 1974 weder die Hitparade noch die outlaw- und underground Musikszene verfolgt habe, kannte ich viele Namen oder Musiktitel nicht. Ein Kommentator der Rezension des Romans auf Fixpoetry hat darauf hingewiesen, dass Fans des Romans auf spotify eine Zusammenstellung der 80 Musikstücke erstellt haben, hier dazu der Link. Wie gerne hätte ich Smoke On The Water als Luftgitarrennummer des im Roman sehr charismatischen Mick Palmer gesehen.

 

Markenprodukte, Namedropping: Fiel mir nicht negativ auf. Allenfalls kam der Kinderschokoladenscheitel ein bis zwei Mal zu oft vor.

 

Die Beziehung von Ben und Susanna: Eigentlich eine hinreißend schöne und romantische Teenagerliebe, inklusive einer kleinen Krise. Ja, und ich stimme Jan darin zu: diese Liebe ist nicht für die Ewigkeit. Aber aus einem anderen Grund, als Jan es annimmt, und zwar deshalb, weil Susanna nur in der Fantasie von Ben existiert.  Klar wird das erst im letzten Kapitel, und nur in ein paar Sätzen: „Zwischen den Jägerzäunen und akkurat geschnittenen Hecken hatte Susannas Erscheinung in der Tat etwas Unwirkliches. Schwerkraftentrücktes. Ihre Turnschuhe schienen den Asphalt kaum zu berühren (…) Was mich bestürzte, selbst wenn ich es für eine Sinnestäuschung halten musste, war, dass ihre zierliche Gestalt in der Straße keinen Schatten warf.“ Und weil Susanna nur in Bens Gedanken lebt, existiert sie eben doch für die Ewigkeit.

 

Rebecca und Ben: Jan schreibt: „man spürt, dass Rebecca und Ben, als sie sich an der Folkwang-Akademie kennenlernen, nie ernsthaft zusammenkommen werden, weil sie aus zwei inkompatiblen sozialen Schichten stammen.“ – Das ist eine interessante Sichtweise. Immerhin teilen Rebecca und Ben eine gemeinsame Leidenschaft, das Klavierspielen. Und sie spielen vierhändig und lachen zusammen. Das ist keine schlechte Voraussetzung für eine Jugendliebe. Es treffen hier also keineswegs ein ungebildeter Underdog und eine sophisticated young Lady zusammen. Ben ist auf einem altsprachlichen Gymnasium. Ich gehe davon aus, dass sich die Geschichte zwischen Rebecca und Ben weiter entwickelt, sobald Rebecca ihre Frisur ändert. (Sie trägt entweder einen oder zwei Zöpfe.)

 

Fazit und Ausblick: Dass der Roman verschieden wahrgenommen werden kann, um eigene Parallelwelten beim Lesen zu kreieren, ist eine der Stärken des Buches. Selbst wer im Jahr 1974 nicht gerade zufällig 14 ½ Jahre alt war wie Ben (wenn ich das richtig in Erinnerung habe), vergleicht eigene Erfahrungen mit denen des Protagonisten und seines sozialen Umfelds. Auf einige Fragen, die Jan aufgeworfen hat, nämlich die nach der Entwicklung der Liebes- bzw. Freundschaftsbeziehungen, werden wir voraussichtlich in den kommenden Jahren Antworten erhalten. Ich habe nämlich von Andreas Heidtmann höchstpersönlich erfahren, dass es sich bei seinem Roman um den Anfang einer Trilogie handelt. Ich schlage jetzt schon ein parallel reading vor, oder wenigstens ein time-shifted parallel reading.

 

P.S.: Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde ist zwar der Debütroman von Andreas Heidtmann, jedoch ist es nicht sein erstes Buch. Bereits im Jahr 2005 erschien sein Kurzgeschichtenband Storys aus dem Baguette.


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