Neuerscheinungen des zu Ende gehenden Jahres spielen in meinen Rückblicken keine Rolle, ausgeschlossen sind sie natürlich nicht. In diesem Jahr fehlten mir weitgehend die Live-Eindrücke. Es gab nur zwei Gelegenheiten für mich, die gleichen Aerosole zu atmen, wie die Musiker auf der Bühne. Was ich schon längst weiß, wurde bestätigt. Es gibt nur extrem wenige Tonkonserven, die mir so unter die Haut gehen, wie das bei einem Live-Konzert passieren kann. Deshalb nehme ich The Lost Septet nicht in die Liste auf. Es ruft immerhin die Erinnerung wach an den Auftritt des Septets in München am 17. Oktober 1971.
Meine Liste wird kurz. Aufnahme finden Alben, die ich im vergangenen Jahr entdeckte, Alben, die beinahe die Wirkung eines Livekonzerts auslösen. Interessanterweise überwiegen dabei Editionen mit Klassischer Musik. Mich wundert das nicht. Ich vertrete seit Jahrzehnten die an diesem Ort eher singuläre Ansicht, dass man etwas versäumt, wenn man Klassische Musik links oder rechts, oben oder unten liegen lässt.
Lucas Debargue – Klavier
Scarlatti · Chopin · Liszt · Ravel
Unter den Live eingespielten Werken befindet sich Maurice Ravels wunderbar poetisches, düsteres und groteskes Meisterwerk Gaspard de la nuit und vier köstliche Pralinen aus Domenico Scarlattis riesiger Sammlung. 555 Sonaten sind überliefert. Lucas Debargue hat 52 davon auf einer 4-CD-Box im Jahr 2019 eingespielt. Davon nasche ich hin und wieder.
Miles Davis – Trompete & Bandleader
Das 50th Anniversary Album existiert nur in meiner Phantasie. Zu gegebener Zeit wird an diesem Ort mehr davon erscheinen. Es ist jene Band von Miles Davis, die dem sog. LOST SEPTET vorausging. Das Album ist also verwachsen mit meinem Erlebnis vom 17. Oktober 1971. Vor Jahren kaufte ich in Form eines Downloads die veröffentlichten Sets jener vier denkwürdigen Abende kurz vor Weihnachten 1970 aus dem Club in Washington – eine amputierte Edition. Ich habe nachgeholt, was ich vor langer Zeit versäumt habe. Jetzt besitze ich die 6-CD-Box mit der großartigen Dokumentation, die nicht nur reich bebildert ist, sondern in der alle Musiker – der wortkarge Miles Davis selbstverständlich ausgenommen – sich an diese verrückten Tage erinnern. 35 Jahre später.
Daniil Trifonov – Klavier
SILVER AGE – Scriabin · Stravinsky · Prokofiev
Aufgrund glücklicher Umstände konnte ich Trifonov live in Bayreuth hören. So liegt auch hier eine Verknüpfung mit einer unmittelbaren Wahrnehmung vor, bei der sich zeigte, dass nicht nur Töne die Musik machen, sondern auch die Körpersprache, die Mimik, die Schweißtropfen. Ich werde nie vergessen, wie letztes Jahr im November Shai Maestro den Abend mit seinem Trio begann. Ein paar schlichte Quintklänge würden mich von CD abgehört recht unbewegt lassen. Aber zu sehen, wie Shai diesen einfachen Schwingungen nachlauscht, sie etwas ganz Besonderes für ihn sind in ihrem Reichtum an Obertönen, die aus einem Instrument strömen, das zu erobern er sich gerade anschickt, machte mir Gänsehaut und mehr.
Ich wollte ja von Daniil sprechen. Auf der Doppel-CD sind zwei Werke, die ich seit Teenager-Zeiten ganz besonders liebe. Sergei Prokofievs 8. Klaviersonate konnte ich schon im Jahr 2019 in einer atemberaubenden Live-Performance Trifonovs sehen und hören, allerdings nicht so, dass ich die gleiche Luft atmete wie der Pianist. Ich habe die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker gebucht. Das Album enthält auch Stravinskys Trois mouvements de Petrouchka in einer unübertrefflichen Interpretation. Hmm, BUDAPEST kann da nicht mithalten.