Halbwegs. In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, wäre der Blick in den Guardian und Spiegel anders ausgegangen. Zwar sah es es so, als wären Joe und Kamala auf einem guten Weg, aber erste Zweifel wurden gestreut. Ein Beispiel für negative Trauminkubation: in dunklen Zimmer diskutierten wir erneute Verluste von Joe, kippten Whisky, um den Schmerz zu betäuben, und fassten es nicht, wie erschreckend wenig selbst das miserable Pandemie-Management das Verhalten veränderte: einmal Trump-Wähler, immer Trump-Wähler, von wenigen Abweichlern abgesehen. Nach zwischenzeitlichem Wachwerden wurden finstere Traumereignisse bestätigt. Nun, Stand 12.38 Uhr, sieht es ganz nach der nächsten Amtszeit des Elenden aus. Die derzeitigen Zwischenstände in den noch offenen Staaten bescheren ihm einen beträchtlichen Vorsprung. Und leider genug Wahlmänner, um den Abbau demokratischer Strukturen voranzutreiben. Selbst, wenn er sich ruhig zurücklehnen würde, schaut es nun nach einem Wahlsieg aus. Aber natürlich wittert er Betrug, eine klassische Projektion, und möchte gar den Obersten Gerichtshof anrufen, um beispielsweise das weitere Zählen der Briefe in Pennsylvania zu untersagen. Egal, ob es sehr schmutzig wird oder nur normal schmutzig: es wird traurig. Kein Erdrutschsieg der Demokraten, kein Abstrafen der endlosen Desinformationen und Spaltungen. Bei aller zutreffenden Multikausalität: manches gründet sich auch in der grassierenden Identifikation mit einer alles Dagewesene in den Wind schlagenden Niedertracht. Dieser Mensch ist so abgrundtief dreckig, dass man, ohne Übertreibung, und bei allem Wissen um Graustufen und die Schattenseiten der anderen Seite, nahezu von einer Wahl zwischen Gut und Böse sprechen kann. Keine gute Nacht, Amerika. Würde ich doch nur falschliegen in törichter Schwarzmalerei.
Archives: November 2020
2020 4 Nov.
Nachts um zwei Uhr war die Welt noch in Ordnung.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 12 Comments
2020 3 Nov.
Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde
Jan Reetze | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Andreas Heidtmann | 4 Comments
Man nimmt dieses Buch zur Hand, schaut sich die Bilder auf der Vorder- und Rückseite an, und man weiß: Dies wird wohl ein Coming-of-Age-Roman sein.
Stimmt. Und er spielt im Jahr 1974, in einem Provinznest namens Lippfeld, irgendwo „zwischen Ruhrgebiet und Münsterland“, wo der Autor Andreas Heidtmann großgeworden worden ist. Er hat Klavier studiert — wie es sein Romanheld Ben Schneider tun wird, der allerdings nicht viel Heldenhaftes an sich hat. Die Parallele mag Zufall sein, vielleicht auch nicht. Ich will da nicht spekulieren.
Auf der Kirmes im Autoscooter beginnt die Geschichte von Ben und Susanna. In insgesamt 36 durchweg kurzen Kapiteln nehmen wir an der Teenagerliebe der beiden teil, mit den Höhen und Tiefen, die dieses Alter so mit sich bringt. Wir lernen die Klassenkameraden kennen, die Konfirmandengruppe, Eltern, Lehrer, den engeren Freundeskreis, die Clique, wir lernen die Treffpunkte kennen, erste tastende Kussversuche und etwas mehr, aber nie die volle Dosis. Dazwischen gibt es soziale Realität, gelegentlich sogar ziemlich harte — den Tod eines Mitschülers, den Suizid eines Vaters, einen ziemlich ärmlichen Einbruch in einen Kiosk, viel billiges Bier, Jägermeister und Kellergeister, zarte Drogenversuche und dörfliche Langeweile. Heidtmann ist ein guter Beobachter und ein ebenso guter Erzähler, der es aber auch versteht, Distanz zu halten, wo es nötig ist. Der Leser erhält die Informationen, die er braucht, aber nicht mehr.
Der dramaturgische Dreh des Buches ist die zunächst scheinbar etwas zusammenhanglose Erzählung von einzelnen, immer kurz gehaltenen Episoden. Wer da an die Skizzen zu einem potenziellen Drehbuch denkt, liegt wahrscheinlich gar nicht so falsch. Erst nach und nach merkt man als Leser, dass diese Episoden zunehmend enger um die Protagonisten kreisen und ein immer klareres Gesamtbild ergeben — mit dem Ergebnis, dass einem die Figuren des Romans immer mehr ans Herz wachsen.
Alle Kapitel haben Überschriften, die an Pop- oder Rockmusik der frühen 1970er Jahre angelehnt sind. Diese Musik spielt eine große Rolle im Ablauf der Geschichte. Sie definiert die Charaktere. Real existiert habende Radiomoderatoren kommen vor, etwa Mal Sondock, das WDR-Programm. Aber auch Klassik. Dass Ben ein guter Pianist ist, erschließt sich erst nach und nach. Gelegentlich ein bisschen übertrieben wird die Spielerei mit Produkten jener Jahre. Der Autor setzt deren Kenntnis voraus, und klar, auch ich kenne die noch alle, aber genau das gibt mir das Gefühl, dass mit ihrer Nennung eine Art „Ja, genauso isses gewesen“-Assoziation ausgelöst werden soll.
Der Schluss der Geschichte bleibt auf eine seltsame Weise offen. Aber so ist das ja wirklich, wenn man 16 oder 17 ist. Man ahnt, dass die Geschichte von Ben und Susanna nicht für die Ewigkeit ist, man spürt, dass Rebecca und Ben, als sie sich an der Folkwang-Akademie kennenlernen, nie ernsthaft zusammenkommen werden, weil sie aus zwei inkompatiblen sozialen Schichten stammen, man sieht, wie einige der Freunde wegrutschen und andere zu braven, anständigen Bürgern werden wie ihre Eltern.
Keine Helden, keine großen Abenteuer. Aber Mick, der Luftgitarrenweltmeister, gibt uns allen ein Glücksversprechen.
2020 1 Nov.
Quarantine Concert
Olaf Westfeld | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Chris Abrahams, The Necks | Comments off
Ungeachtet ihrer Verdienste, es gibt Künstler und Bands, die mich kalt lassen, Elton John ist ein Musterbeispiel, die Doobie Bothers wohl auch. Aber warten Sie ab! Ich mochte den einen und anderen Song von „Goodbye Yellow Brick Road“, als ich klein war, aber was immer später kam: nein, nichts ging mir nah. Das war so wenig meine Musik wie Queen. Ich sagte schon eingangs: with all respect. Nun habe ich einen „special friend“, und der sandte mir seinen link zu seiner Besprechung von „The Doobie Brothers Quadio“. Als Teil seiner auf youtube anschaubaren Reihe „Life in Surround“. Ich mag seine ruhige Art, und auch, wenn er sich für einen Surround-Mix besonders begeistert, gehen ihm die Zügel nicht durch. Tatsächlich fand ich seine so sachliche wie leicht euphorisierte Anpreisung der Doobie Brothers im 4:0-Raumklang, also guter alter Quadrophonie, so ansprechend, dass ich Rhino eine Mail schickte. Es entspann sich ein kleiner Gedankenaustausch, und wir einigten uns: wenn ich mich dafür begeistere (und der Rhino-Mann wirkte noch euphorisierter als mein Freund, sprach von der enormen Klangvielfalt der Band (wir telefonierten kurz vor Abschluss des Deals), und einem grandiosen Mix, der einen mitten auf die Bühne platzieren würde, er sagte, wörtlich, soweit ich mich erinnere: „…inside the middle of a psychedelic sound show and twenty different styles...“. Den Stil-Mix kaufte ich ihm ja ab, aber das psychedelische Element, also wirklich?! Kurz und gut: die Box ist auf dem Weg zu mir, und wenn sie mich begeistert, werde ich im Januar damit unsere Kolumne „From The Archives“ bestücken, und zwei Songs im Februar 2021 spielen, in den „Klanghorizonten“. Ich glaube, weder das eine noch das andere wird passieren, aber vielleicht packt mich der wohl wahrlich faszinierende Mix dermassen, dass ich auf einmal zum Doobie-Brothers-Fan mutiere. Das sprengt nun fast meine Vorstellungskraft, aber man kann ja nie wissen. Die Surround-Mixe von Elton John waren auch ziemlich gut, aber die Teile sind lang schon verkauft. Was mein Leben in Surround angeht, hole ich immer mal wieder XTC raus, die King Crimson-5:1-Mischungen, oder die drei Spätwerke der Beatles: was da abgeht, ist einfach überwältigend (auch wenn die Bearbeiter vom Abbey Roadd und Co. behutsam mit den neuen Versionen umgehen, um die Authentizität der alten Stereofassungen nicht zu unterlaufen). Beim Schlussakkord von „A Day in the Life“ bekomme ich jedes Mal eine Gänsehaut, und wenn mir da überhaupt ein Wort über die Zunge kommt, dann so ein hyperintelligentes wie „Wow!“ Bliebe noch das Rätsel, wieso es „Apollo“, „The Shutov Assembly“ oder „On Land“ nicht „in surround“ gibt. So weit, so rund, so gut.
Da beginnt jemand im Alter von 3 Jahren mit dem Klavierspiel und wird zu einem der bedeutendsten Musiker, nicht nur der Gegenwart. 70 Jahre später ist es vorbei damit. Unvorstellbar, was es für ihn bedeutet, ohne seinen vielleicht wichtigsten Lebensinhalt weiterzuleben. Auftritte vor Publikum dürften wohl nicht mehr stattfinden, und man kann nur wünschen, dass ganz privat, im engsten Kreis, vielleicht nur in Zwiesprache mit sich selbst das Musik-Erschaffen möglich ist.
From July 2018 until this past May, he made sporadic use of its piano room, playing some right-handed counterpoint. “I was trying to pretend that I was Bach with one hand,” he said. “But that was just toying with something.” When he tried to play some familiar bebop tunes in his home studio recently, he discovered he had forgotten them.
New York Times
Als Anfang 2018 bei www.keithjarrett.org zu lesen war, dass die beiden Konzerte des Jahres 2018 (New York im Frühjahr, Venedig im Herbst) „due to recent health issues“ ausfallen & NICHT nachgeholt würden, fiel mir Oscar Peterson ein, der von einem Schlaganfall betroffen war, sich aber einigermaßen erholen konnte. ECM ließ nichts verlauten. Es gab nicht das geringste Gerücht zum Gesundheitszustand Keith Jarretts. Ich stellte mir vor, dass ihm das Gleiche widerfahren sein könnte wie Peterson. Am 21. Oktober hat Keith Jarrett in der NYT die gesundheitlichen Probleme offenbart. Es ist denkbar, dass dies angesichts der Veröffentlichung von BUDAPEST CONCERT am 30. Oktober geschah.
Im Jahr 2016 spielte Keith Jarrett bei seiner letzten Europa-Tournee 5 Solokonzerte. Das erste fand in Budapest statt, das letzte in München (veröffentlicht am 01. November 2019 – ECM 2667). München dürfte der vorletzte Live-Auftritt von Keith Jarrett gewesen sein.
MUNICH 2016 – ich war am 16. Juli im Gasteig live dabei. Zum ersten Mal hörte und sah ich Keith Jarrett am 17. Oktober 1971 in Miles‘ sog. LOST SEPTET Fender piano & organ traktieren. Schon 2 Jahre zuvor hat er mich verzaubert als Pianist des Charles-Lloyd-Quartets. Kein Musiker der Welt, weder Monteverdi, Bach, Beethoven, Brahms, Stravinsky ist mir näher gekommen als Jarrett. Am 18. Januar 1975 haben wir im Hotel Sonne zusammen gefrühstückt.
BUDAPEST 2016 – Thom Jureks Anmerkungen bei Roon enden mit diesem Satz:
Jarrett regards this as his current „gold standard“ for live improvisation, and given its reach and focus, it’s difficult to argue with him — especially now.
Wenn ein Künstler seine „Taten“veröffentlicht, dann gibt er sie in gewisser Weise aus der Hand. Sie gehören ihm nur noch teilweise. Auch wenn er darunter leidet, vielleicht sogar korrigierend einschreitet … er hat nicht mehr die Macht über das Schicksal seines Werks. Im schlimmsten Fall wird es gar nicht wahrgenommen, im schlimmen Fall wird es abgelehnt und vergessen. Das ist Jarrett nicht passiert und dazu wird es nicht kommen – unvorstellbar, auch wenn die eine oder andere Kritik an seinem Œuvre laut geworden ist. Wir kennen die Geschichte um das Köln Concert. Ich meine nicht die Umstände, die das Kölner Konzert beinahe verhindert hätten. Ich meine dies:
SPIEGEL (Klaus Umbach):
Mr. Jarrett, Ihr berühmtes „Köln Concert“ ist mittlerweile ein Super-Hit der Plattenbranche. Sind Sie darauf stolz?
JARRETT:
Nein, man sollte alle die Aufnahmen einstampfen.
Das Publikum hat das Köln Concert in Besitz genommen, Keith hat seine eigene Meinung dazu. Jarrett hat sicher immer eine Meinung zu seinen Auftritten. Viele dürften konträr zu den Empfindungen der Hörer sein. Als ich am 17. Januar 1975 im Hotel Sonne mit Keith die Treppe in den 1. Stock hoch ging, fragte ich, wie er sein Spiel fand. „It wasn’t good for me, but I think for the audience.“ Tja, manche Sätze merk ich mir bis zum Lebensende.
Es ist vollkommen unproblematisch, zu äußern, ob man von einem Eindruck bewegt ist oder nicht. Problematisch ist es eher, ein Opus zu bewerten – in diesem Fall BUDAPEST. Da gibt es gewisse Hürden, aber auch Gewohnheiten, von denen ich einige nennen möchte.
Jarrett ist pianistisch, spieltechnisch auf allerhöchstem Niveau. Er hat längst überbordende Kreativität bewiesen. Mir ist kein Pianist von vergleichbarer Weitläufigkeit bekannt. Jarrett ist Improvisator, kein „Schreibtischtäter“, der tüfteln, verwerfen, überlegen und verbessern kann. Er kann nichts zurücknehmen, jedenfalls nicht im Live Konzert. Er kann natürlich die Veröffentlichung auf Tonträger untersagen. Jarrett hat einen Ruhm erspielt, der ihm eine ergebene Hörergemeinde garantiert. Ich erwarte – jedenfalls in den Amazonrezensionen – vorwiegend hohe Bewertungen. Ist der Ruhm erst etabliert, huldigt man ganz ungeniert.
BUDAPEST ist ein Album, das ich nicht oft anhören werde. Es spricht mich nicht in derart umwerfendem Maße an wie die Alben aus den 60er und 70er Jahren, jenen Jahrzehnten, in denen Jarrett immer überraschen konnte. Ich erlaube mir dieses Urteil:
Seit den 80er Jahren hat sich Jarrett eingeschränkt auf Solokonzerte und das Standards-Trio. Das Komponieren so pfiffiger Themen wie „The Windup“, „Mortgage on My Soul“ und viele mehr hat er anscheinend eingestellt. Es ist ein gewisser Schematismus eingekehrt, der natürlich keine traumhaften Momente ausschließt, den ich in seinen späten Solokonzerten ebenfalls entdecke.
BUDAPEST und MUNICH sind sich recht ähnlich. Wie einige Vorgänger beginnen beide mit einem langatmigen, sperrigen Impromptu. Budapest Part I zugute halten kann ich eine gewisse Einheitlichkeit im Formalen (Harmonik, Figuration, Andeutung motivischer Arbeit), in der zweiten Hälfte durchsetzt mit neuen musikalischen Ideen. Es bewegt mich aber nicht, es sind viele Töne ohne Wirkung. Bei allem Respekt, for me this is strumming at the highest pianistic level.
Set 1 (Part I bis Part IV) ist harte Kost für die Hörer. Mit Jazz hat es nichts zu tun. Das muss auch nicht sein. Es ist näher an klassischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Dann doch lieber Prokofievs Klaviersonaten – vor allem Nos. 6, 7 und No. 8 – oder Messiaens Vingt Regards und György Ligetis Etüden. Das haut mich immer wieder vom Hocker.
Set 2 (Part V bis XII) ist im Wesentlichen konzilianter. So gesagt, heißt die melodisch ansprechendere zweite Hälfte auch Gelegenheitshörer willkommen. Wunderbar sind wieder die Encores. Nicht dass sie sensationell Neues bieten. Sie sind wie ein guter Wein, der großen Genuss bietet, jedesmal, wenn man ihn einschenkt.