Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: November 2020

„Paranoid narratives are inherently narcissistic as well as authoritarian. Paranoia rejects the proportionality of pluralism, in which the world’s indifference to you is a sign of its multiplicity, and interprets that indifference as malice. The world is not unmoved by your existence, but upholds your central importance: even your refrigerator is spying on you. A paranoid system confirms that your powerlessness is only because the game is rigged against you– and that the world cares enough to bother disempowering you.“

(Sarah Chuchwell, The Guardian)

 

Als die Wahl in den USA noch halb auf Kippe stand, schrieben Jan und ich uns einige Mails. Er verströmte eindeutig die grössere Zuversicht. Selten habe ich mich so intensiv, tagesaktuell, mit dem politischen Geschehen in US und A beschäftigt – zwischendurch tat es gar gut, den „Borat – Nachfolgefilm“ zu gucken.  Ich denke, dass Joe Biden vor kaum zu schulternden Problemen steht. Der gesellschaftliche Konsens ist zerbrochen. Eine demnächst frisch im Senat auftauchende Republikanerin (46, strohdoof, und laut dem Oberaffen „ein neuer Star“) sprach vor den Redneck-Fans des Irren, die Demokraten seien Sozialisten und wollen ihnen die Waffen wegnehmen. Sie rief tatsächlich zu Gewalt auf. Nach Umfrageergebnissen glauben fünfzig bis siebzig Prozent seiner Wähler, die Wahl sei manipuliert worden. Dass eine Gesellschaft in Zeiten einer brutalen Krise in der Mitte enger zusammenrücken muss, ist ausser Frage, um populistischem Quatsch keine grösseren Chancen einzuräumen. In US und A scheint das kaum noch vorstellbar. Die Rassisten, die in Borats Nachfolgefilm auftauchen, die Clan-Mitglieder aus Spike Lees Meisterstück „Blackkklansman“, all diese in Teilen Schwerbewaffneten –  die sind in der Wirklichkeit tatsächlich genau so, nur allzu bereit, jede Art von sozialem Frieden zu opfern. Aus meiner Sicht ist das kein kurzes Aufwallen destruktiver Energien: dieser brutale Riss zeigt überhaupt keinen Ansatz zur Heilung. Hierzulande nennen sich die neuen Tiefenschürfer Querdenker – Menschen, die offensichtlich nicht mal geradeaus denken können. Gestern bei der Pressekonferenz, konnte man den wunderbaren Trainer Streich des Freiburger SC beobachten, wie er sich sorgenvoll Gedanken machte zur Lage des Landes und der Welt. Ohne grosse Worte. Nur leise Töne. Selbst in der winzig kleinen Welt der Manafonisten wurde schon eine Zeit erlebt, nah an Spaltung und Zerwürfnis. Selbst da, unter allemal Vernunftbegabten, erwies sich mal eine ausgestreckte Hand als komplett überfordernde Geste. Der hier leider auch schon, meines Erachtens zu Unrecht, als Dummkopf attackierte Fussballer Kramer der Borussen aus Gladbach, schreibt in der SZ über das Erleben der zweiten Welle: wie trostlos es am Anfang war, vor leeren Rängen zu spielen. Als es dann mal wieder 300 waren, habe er bei jeder kleinen Reaktion des Publikums eine Gänsehaut erlebt. Er finde es krass, wie schnell man sich an diesen neuem Zustand gewöhne, fast erschrocken habe er sich, als auf einmal wieder 10000 im grossen Rund versammelt waren. (Der grüne Rasen taugt durchaus als Spiegelbild der Gesellschaft.) Wer zur Baby-Boomer-Generation, zählt, kann sich auf eines verlassen: er und sie erleben gerade die grsellschaftspolitisch dunkelste Zeit ihres Lebens (neben den Jahren der RAF). Mögen wir alle über die List und das Geschick verfügen, lauter kleine Fluchten anzutreten, in jene Räume hinein, die voller aufregender Entdeckungen sind, all diesen Dingen zum Trotz. Mein nächster Fluchtort heisst, mit Arbeitsauftrag versehen, wieder mal Sylt. Die Strandkörbe sind so gut wie alle abgeräumt. Aber einen gibt es, der steht da auf seinem Fleck in Rantum wie angewurzelt. Einmal werde ich dort auftauchen, in Begleitung einer Flasche von meinem liebsten Weissburgunder, und das Meer belauschen. Im Reisegepäck habe ich, neben „The Plateaux of Mirror“ (von Harold Budd & Brian Eno) sowie „After The Goldrush“ (von Neil Young), zwei Bücher, eines stammt von Ed Caesar und trägt den Titel: „The Moth And The Mountain – a true story of love, war and everest“.

2020 20 Nov.

Guter Herbst

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Der Mensch muss etwas tun. Noch immer dem starken Drang verfallen, gute Songs nicht nur hören, sondern selbst auch spielen zu wollen, gehört zur momentanen Grundaustattung. Vieles macht man im stillen Kämmerlein klar, doch spirituelle Resonanzrahmen bleiben stets wichtig. Ob beim Serienschauen, bei Sport Spass Spiel und erst Recht in der Musik: es ist gut, wenn man wen kennt, der dasselbe schätzt. Mit den Manafonistas hat sich der Horizont doch gewandelt und über den eigenen Tellerrand hinaus war man auch daran interessiert, was andere mögen, zudem dem Neuland gegenüber offen. Und doch, eine seltsame Regression schlich sich ein in letzter Zeit, man war versucht, so manches aus dem inneren Archiv zutage tretende Erinnerungsfragment im Nachhinein auch struktur-technisch aufzuarbeiten. Die Frage „Was wird hier gespielt?“ ergründen wir mit einem still fingerpicking alive! Die Hände wollen begreifen. „Wieso kommt so manche Neugier spät und nicht vielmehr früher?“ fragt der Geist des alten Leibnitz neben mir. Neulich erzählte C, ihr Vater sei jetzt pflegebedürftig, sie sei jetzt das erste mal seit zwanzig Jahren wieder Auto gefahren, um für ihn die Besorgungen zu machen. Und? Kein Problem, verlernt man nicht! Sehr beruhigend! Genauso ist es mit dem analytischen Gehörsinn: hat der sich erst mal eingenistet, ist er nicht mehr auszutreiben. Zu den aufs Korn genommenen Objekten dieser obskuren Leidenschaft gehörte jüngst beispielsweise der Song „River“ von Joni Mitchell. Erst jetzt, nachdem ich Sierra Eaglesons Version hörte, möchte ich ihn gitarrentechnisch nachvollziehen, wenngleich ich dieses Lied schon immer mochte. Den Cyndi Lauper Hit „Time after Time“ kannte ich vor allem aus dem Album Traveling Miles der Cassandra Wilson. Von Iron & Wine nun findet sich eine Fassung, die einen flugs selbst zum Instrument greifen lässt. Weil alle Dinge (verschwörungstheoretisch) drei sind, sei hier auch „Clocks“ von Coldplay genannt, warmherzig vorgetragen von Good Harvest. Täte unsereins, wie damals Dieter-Thomas Heck, die Hitparade moderieren, dies wäre wohl die momentane Nummer Eins: „Nimm die Klampfe in Hand und spiele D-Dur, A-Moll, C-Dur, E-Moll!“ Wie einst Cyndi, nur im Looper.

Ich arbeite an einer Schule, auf der jede 12. Klasse ein Theaterstück einübt, fast immer gemeinsam mit den Klassenbetreuern. In diesem Jahr waren zwei Kollegen und ich an der Reihe, heute sollte die erste Aufführung sein. Rückblickend etwas naiv haben wir die Problematik des Termines nicht früh genug erkannt.

Anfang des Monats ging es dementsprechend turbulent zu. In Angesicht der Einschränkungen entschlossen wir uns, das Stück innerhalb einer Arbeitswoche auf die Bühne zu bringen. Obwohl wir seit Anfang September mit Proben beschäftigt waren, würden die Aufführungen unfertig sein: nicht alle konnten ohne Textbuch spielen, nicht alle Ideen konnten umgesetzt werden – es war ein ziemlicher Kraftakt. Doch die Jugendlichen waren sehr motiviert, wir verbrachten sehr viel Zeit in der Schule und hatten dabei tolle Begegnungen.

Dann kam einen Tag vor der Aufführung die Nachricht, dass wir den ersten Corona-Fall an der Schule hatten. Die Anzahl der Schülerschaft und des Kollegiums ist eher niedrig, es gibt viele Verbindungen zwischen den Klassen, so dass einem Virus gute Vermehrungsbedingungen geboten werden. Unter anderem musste einer der beiden Lehrer, die mit mir die Klasse durch das Stück begleitet haben, in Quarantäne.

Was tun? Den intensiven kreativen Prozess kurz vor der Ziellinie abbrechen? Weiter machen? Letzteres wäre eine Option gewesen, das Gesundheitsamt hatte uns die Aufführung nicht untersagt. Zudem hatten wir einen einen sehr strengen Hygieneplan erstellt: sehr wenige Zuschauer mit sehr viel Abstand, feste Wege, strenge Lüftungszeiten, usw.

Trotzdem wählten wir einen Mittelweg: Vorstellungen ohne Zuschauer, dafür mit einer Kamera. Ziemlich hart, Eltern mitzuteilen, dass sie ihre Kinder nicht auf der Bühne sehen dürfen. Ziemlich hart bestimmt auch, die Nachricht entgegen zu nehmen. Die meisten Reaktionen waren verständnisvoll, wenn auch traurig, doch es gab auch Unverständnis und Wut. Einerseits: wie können Sie so etwas machen, 30 Jugendliche in einer Sporthalle, unverantwortlich, wir informieren das Gesundheitsamt, etc. Andererseits: wie können Sie so etwas machen, vor den Autoritäten einknicken, pädagogisch fragwürde Entscheidung, kein Mut, Selbstzensur, etc.

Die Jugendlichen nahmen das alles relativ gelassen auf, haben sich den Hintern aufgerissen, ein bestmögliches Ergebnis auf die Bühne zu bringen, sind größtenteils über sich hinausgewachsen, haben sich gegenseitig unterstützt, so dass das Gemeinschaftsgefühl nun deutlich enger ist. Die Armen durften anschließend noch nicht einmal ordentlich feiern.

Zwei Wochen später ist keiner erkrankt, eine Sorge, die mich während der Proben durchgehend begleitet hat. Ganz erholt habe ich mich noch nicht, die Frage, ob es sich gelohnt hat, verfolgt mich mehr als in den Jahren zuvor – wir bekommen immer noch Nachrichten, die unsere Entscheidung, ohne Zuschauer aufzuführen, kritisieren. Komische Zeiten.

 

 

Es muss im Februar 2012 gewesen sein, als Julia Wörle auf der Lesebühne in Darmstadt als neue Teilnehmerin von Kurt Drawerts Textwerkstatt vorgestellt wurde und einen Prosatext las. Ich saß in einer der hinteren Reihen. Julia trug eine schwarze Lederjacke, ihr Text hatte den Titel Casino und verhandelte eine schonungslose Analyse von Machtverhältnissen aus der Sicht einer jungen Frau. Es gibt verschiedene Arten von Stille während einer Lesung. Die Stille während Julias Lesung war getragen vom Respekt gegenüber diesem Text, der unter die Haut ging und etwas wagte. Julia Wörle gelingt es zudem in ihren Texten, mit wenigen Sätzen eine intensive Stimmung zu erzeugen. Nach der Lesung sagte mir Julia, es sei lange her, dass sie den Text geschrieben habe, er sei in Nummer 7 (2002) der Münchener Literaturzeitschrift ausserdem veröffentlicht.

 

Nach einem weiteren großen Zeitsprung ist nun endlich vor ein paar Wochen Julia Wörles erster Prosaband erschienen: Die kleinen Manöver. In der Mitte des Covers findet sich ein Rettungsring, und zwar genau in dem Moment, in dem er jemandem mit einem Seil zugeworfen wird und es darauf ankommt, ihn aufzufangen. Im Hintergrund Muster wie auf einer ziemlich alten Tapete, Muster, die nach unten hin verblassen, und darunter öffnet sich eine blaue Fläche,  das Meer vielleicht oder der Himmel oder auch gar nichts. Rechts oben auf dem Cover, als sei es auf jedes Buchexemplar einzeln mit einem pinkfarbenen Leuchtstift hingekritzelt: „Fuck off / I love you.“

 

Die kleinen Manöver: Episodenroman

 

Die Stärke der zwölf Erzählungen liegt – wie in Casino – darin, Nuancen von Machtverhältnissen in Beziehungen sehr verschiedener Art zu erkennen und dafür eine wunderbare Sprache zu finden. „Das Wesentliche spielt sich in den Zwischenräumen ab“, heißt es einmal (S. 114). Das ist Programm, nicht nur für die sehr poetische Sprache, die immer wieder mehrere Wahrnehmungs- und Assoziationsebenen antippt, sondern auch für das Personal und die Handlungsorte. Ein einfaches Hotel an einer Ausfahrtsstraße zum Beispiel. Oder ein Designer-Großraumbüro. Ein Yogakurscenter in Indien. Der Strand auf Coney Island bei New York. Ein verstorbenes Haus. Oder hier, einer dieser Clubs:

 

„Sie sieht sich kurz in einem der vielen Spiegel: eine kompakte, dunkel gekleidete Gestalt. Das Zerbrechliche, Instabile ist in ihren Augen. Blicke wie splitterndes Glas. Sie stellt sich an die Bar, Alkohol sammelt sich schwer in ihrem Körper. Die Musik fährt ihr unter das Zwerchfell, sie weiß nicht wohin mit den Händen.“

 

Das Buch Die kleinen Manöver wird auf dem Cover als Episodenroman bezeichnet. Personen tauchen in verschiedenen Texten wieder auf, vereinzelt liegen Jahrzehnte dazwischen. Manchmal kehren Personen nur in der Erinnerung zurück, wie kleine Geister, die weggelaufen sind, ins Nirgendwo. Im Anhang finden sich drei Übersichten, die das gesamte Personal der Erzählungen und ihre Verbindungen aufzeigen. Das funktioniert. Allerdings hatte ich Verbindungen teilweise auch anders gesehen und ich hätte mir auch vorstellen können, dass eine Figur unter einem anderen Namen in einer anderen Geschichte wieder auftaucht. Das erweitert die Lesarten.

 

In allen Erzählungen geht es um existenzielle, lebensprägende Erfahrungen, Entscheidungen, Wendepunkte, zumeist angesiedelt im privaten oder familiären Bereich. Es ist immer wieder die Sprache, es sind die anschaulichen Vergleiche, die Bilder, die aufblitzen, als wollten sie sagen, hey, lass ma´, sieh es doch so:

 

„Gerda hat die Silhouette eines Panzerkäfers, eine Frisur, die wie der Plastikhelm eines Playmobilmännchens auf ihrem Kopf sitzt, schnurgerade geschnittene Fingernägel.“ (S. 7)

 

„Das Hotel ist ein alternder Rockstar, unter dem Samt drücken sich die Knochen durch, Farbe blättert ab, im sanitären Gedärm rumpeln und schwappen Erinnerungen.“ (S. 153)

 

„Alles nur ein Spiel.“ (S. 103)

 

Farben spielen in dieser Prosa eine große Rolle. Als ob eine ganze Farbpalette in den Geschichten verarbeitet sei. Grün lackierte Fingernägel eines Mädchens. Ihre pinkfarbene kleine Tasche. Ein helles Gelb, wie ein T-Shirt oder eine Blüte, gepflückt vom Blumenstrauß eines Vorzimmers eines Beratungsunternehmens mit Karriereambitionen.

 

„(…) und dass ich Leuten nicht vertrauen kann, deren Geschichte ohne Dellen ist.“ (S. 44)

 

Es gibt Texte wie die Titelgeschichte Die kleinen Manöver, bei denen ich mir nur vorstellen kann, dass die Zuhörenden während Julia Wörles Lesung einfach vergessen, weiter zu atmen.

 

Phosphor. Ein Leuchten im Dunkeln.

Mit dem Einsetzen des Rhythmus macht die Zeitmaschine eine heftigen Sprung nach hinten und weiß auf einmal nicht, wo sie genau anhalten soll: Bei meinem ersten Beitrag auf diesem Blog oder von da aus etwa 35 Jahre früher, wo mich ein Kabukiartig geschminktes Gesicht etwas verschlafen in einem Frankfurter Plattenladen anstarrte und ich das Album nach kurzem, mesmerisierenden Reinhören mitnahm, um wenige Stunden später erst einmal völlig verstörte Blicke meiner Freunde zu kassieren, die mir die schlimmsten Befürchtungen bezüglich der Entwicklung meines Musikgeschmacks entgegenbrachten. Aber bereits nach dem zweiten oder dritten Anhören dieses Kronjuwels japanischer Popmusik war ich zum Glück rehabilitiert und dann lief die Scheibe erst einmal heiß. Und das tut sie bis heute, wo ich nun endlich die gerade in Europa erstmals erscheinende, remasterte Wiederveröffentlichung der original japanischen Version samt einer zweiten CD mit der Instrumentalversion in den Händen halte: erfrischend wie vor Jahrzehnten, schillernd perfekt, exzentrisch und zeitlos genial.

Nachdem er Robin Scotts Pop Muzik gehört hatte, lud Ryuichi Sakamoto ihn nach Tokyo ein, um mit ihm ein Album aufzunehmen. Mit von der Partie waren seine Mitstreiter vom YMO Haruomi Hosono und Yukihiro Takahashi, Adrian Belew, der neben seinen Gitarrenkünsten einige angry animals beisteuerte, Robin Thompson, der bei Stockhausen studiert hatte und nicht zuletzt der damals fast omnipräsente Hideki Matsukake, der Sakamoto beim Programmieren der Synthesizer unterstützte. Von Fluxus-Konzepten beeinflusst konzipierte Sakamoto, gelangweilt von bereits bestehenden Musikformen, dieses Album bewußt als kollektive Improvisation mit intensivster Neophilie und offenem Ausgang. Die Stücke entwickelten sich jeweils um die primären Rhythmusstrukturen herum und nach und nach flochten die anderen Instrumente ein feines Gewebe daraus. Mit großer Experimentierfreude drifteten die Stücke als Mix zwischen einer höchst originellen japanischen Form des New Wave, lässiger postavantgardistischer Popmusik und minimalistischen (aus unerfindlichen Gründen schlägt mir die Autokorrektur hier „minimaoistischen“ vor, was mich an das Noir-Cover von Japans Tin Drum erinnert…) Miniaturen hin und her und entwickeln eine subtile, in sich völlig schlüssige Suite exzentrischer Klangausflüge, die den geneigten Hörer befriedigend verstört im finalen Saru No Ie für immer in einem bizarren Neo-Dschungel zurücklassen. Hidari Ude No Yumi – Left Handed Dream, again and again …

 
 

Im Januar 2016 erklärte Robert Coover im Gespräch mit Denis Scheck im Büchermarkt des Deutschlandfunks, was für ihn in der Literatur „Realismus“ bedeutet. Er sagte, Kafka habe ihn gelehrt, was Realismus sei. Der Realismusbegriff bei Kafka bestünde in einer Art Treue zu der Metapher, mit der man beginnt.

 

Dies gilt natürlich auch für den Film. Betrachten wir Synecdoche New York von Charly Kaufman unter dem Aspekt, welche Grundmetapher in den ersten Minuten etabliert wird. Das erste Bild zeigt den Blick auf einen Digitalwecker. Es ist 7:44 Uhr. Das Radio läuft, es ist der 22. September, eine Professorin spricht im Interview über den Herbst in der Poesie. Caden Cotard (wir wissen noch nicht, dass er so heißt) schlägt beim Frühstück die Zeitung auf, in der Datumszeile steht Freitag, der 14. Oktober 2005. Harold Pinter wird für den Nobelpreis nominiert. „Harold Pinter at 76, a sense of Validation“ lautet die Schlagzeile. Aber Moment, Harold Pinter wurde am 10. Oktober 1930 geboren, er hatte also erst vor vier Tagen seinen 75. Geburtstag gefeiert. Die Kurzmeldungen der gleichen Zeitung sind mit „October 17“ datiert. Auf dem Tetrapack mit der Milch steht „Oct 20“, aber die Milch ist schon abgelaufen. „Happy Halloween“ läuft im Radio. Caden ist aber immer noch mit seiner Tochter und seiner Frau am Frühstückstisch. Auf der Zeitung steht nun „Wednesday November 2, 2005“. Am Abend ist Caden mit seiner Familie im Auto unterwegs und wir erfahren, dass es Freitag ist. In der nächsten Einstellung ist Caden im Behandlungszimmer eines Augenarztes, der Wandkalender ist aufgeschlagen im Monat März 2006, während Caden sich dafür bedankt, dass er so kurzfristig einen Termin erhalten hat. Der Film läuft erst seit ein paar Minuten, aber selbst wenn man ein paar der Daten überlesen oder überhört hat, müsste eines deutlich geworden sein: Hier stimmt etwas nicht mit der Zeit. Der unzuverlässige Umgang mit der Zeit scheint die Grundmetapher zu sein, vermutlich haben wir es mit einem unreliable narrator, einem unzuverlässigen Erzähler, zu tun. Synecdoche New York zieht sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hin.

 

Im Interview beim London Filmfestival 2008 antwortet Charlie Kaufman auf die Frage “How do you know which rules to stick to and which rules to break?”: “I don´t think there are any rules.” Das ist natürlich ein Satz, mit dem ein erfolgreicher Filmemacher ein Publikum, das gern ein paar Geheimnisse erfahren hätte, zum Lachen bringen kann. Denn, selbstverständlich, handelt es sich bei Synecdoche New York um eine hochintelligente, komplett durchdachte Gesamtkomposition inklusive einiger hübsch eingestreuter selbstreflexiver Elemente. So erzählt die Kartenverkäuferin dem Theaterregisseur Caden stolz, dass sie gerade den Prozess läse und gar nicht gewusst hatte, wie berühmt das Buch sei. Und später wird Krapp’s Last Tape, ein Theaterstück von Beckett, erwähnt. In diesem Stück, das auf Deutsch Das letzte Band heißt, befindet sich ein alter Mann auf der Bühne, der sein Leben reflektiert und kommentiert, indem er eigene Tonbandaufnahmen mit tagebuchartigen Notizen aus verschiedenen Lebensphasen auswählt, anhört und mittels neuer Aufnahmen kommentiert. Was ist also Synecdoche New York? Traumlogik, Selbstreflexion (und Reflexion der Selbstreflexion), unberechenbare Zeitsprünge, Endzeitstimmung, grundlose und unfaire Verfolgung durch anonyme Mächte? Jedenfalls geht es vor allem darum, ein ganz großes Kunstwerk zu erschaffen, ein Lebenswerk, und dafür gibt es Bühnen innerhalb von Bühnen innerhalb einer großen Bühne. Nach einer Stunde und 41 Minuten Filmzeit erklärt eine Putzfrau in ein paar Sätzen das gesamte Stück bzw. den Film. Oder ist es die Schauspielerin, die die Putzfrau spielt? All those thoughts we don’t know, it’s the truth of it.

 

P.S. Catherine Keener spielt in Synecdoche New York eine Mutter und Künstlerin, die sich auf Mikro-Gemälde spezialisiert hat. Sie malt die Bilder unter einer Vergrößerungsglas-Brille und Besucher*innen ihrer Ausstellung schlendern ebenfalls mit solchen Brillen durch die Halle. Grund genug, um Catherine Keener in die Liste meine favourite actresses aufzunehmen.

1958 erschien ein Album, das auf ein geteiltes Echo stiess. „Lady In Satin“ präsentierte Billie Holiday in der Umgebung von Violinen und Bratschen, und schien den Puristen ewigweit von ihren Wurzeln entfernt. Aber das Album erwies sich als erstaunlich robust und alles andere als Billie light. Mir begegneten im Laufe der Jahre zwei besondere Fans dieses Spätwerks, Robert Wyatt und M. Ward. Nichts von ihrer Expressivität der frühen Jahre hätte Lady Day da verloren, meinte der Brite einmal, und ähnlich begeistert war auch der Singer/Songwriter aus Portland, Oregon, als er mir vor vielen Jahren erzählte, wie er die Platte rauf- und runtergehört habe. Was er im Detail sagte, habe ich leider vergessen. Nun erscheint am 11. Dezember eine neues Album von M. Ward, „Think of Spring“, und darauf covert er etliche Lieder von „Lady in Satin“. Das Album hat ihn offensichtlich nie losgelassen, und seine Interpretationen finde ich durchweg faszinierend. Er hat diesen speziellen Rauch in seiner Stimme, und eine Art von Zurückhaltung, die jeden Trick des Erhabenen verbannt.

Ich saß unten vor der Hafenkneipe „Mar de las Calmas“. Ich hatte mir ein Dorada bestellt, ein gutes kanarisches Bier, und einen Peto. Meine Gedanken schweiften zu den letzten Klanghorizonten, wo Michael so schön „Wahoo“ aussprach. Wahoo ist ein Peto ist ein Thunfisch.

Hier meine Übersetzung des Gedichts, das Michael vorlas:

 
 

Südwärts zur Countrymusic

(von Will Burns für Greg Burns)

 

20 Meilen entfernt von der Forellenfarm gibt es nur Musik

und den grünen Volvo

und einen Himmel, der aufreißt,

nach schwerem Regen.

Könnten wir doch tagelang durch einen ganzen Kontinent fahren.

Bis wir zum Meer kommen, wo

wir die Namen von Grosswildfischen lernen:

Sockey  und Wahoo

Wo wir in ein Land kommen,

das uns am Rand der Mesa siedeln lässt

und wir mit unserer Erinnerung an unsere Kalkhügel glücklich sind .

Jetzt fahre ich mit dir stillem Bruder

schon eine halbe Stunde und

endlich fließt der Sound der Steelguitar in die Stille,

wie all deine besten Fische.

 
 

Die Stille wurde durch Sirenen und Blaulicht von Rote Kreuz Wagen durchschnitten  Ein Holzboot wurde in den kleinen Hafen von La Restinga geleitet. Ich nahm noch einen Schluck Bier und ging dann hoch auf die Kaimauer. Ich erschütterte. Ich sah über 100 Flüchtlinge auf dem Fischerboot, später erfuhr ich, es waren 159, darunter ein Toter. Alles Männer aus dem Senegal. Sie waren mit diesem Kahn über eine Woche auf dem stürmischen Atlantik unterwegs.

 
 


 
 

In den letzten drei Wochen sind 480 Flüchtlinge auf dieser gefährlichen Route ertrunken. Sie wagen die Flucht aus Verzweiflung über die leergefischte Hochsee und die Ausbreitung der Sahara, wo wegen Trockenheit nichts mehr anzubauen ist. Die Refugees sind hier willkommen. Sie werden in wegen Corona leerstehenden Hotels untergebracht, bis sie nach Spanien gebracht werden. Natürlich beutet auch eine kleine Rechte Gruppierung das Thema für sich aus.

Eine andere, engagierte Bewegung unterstützt und hilft bei der Bewältigung der Flüchtlingsarbeit – immerhin sind es allein 16000, die es bis zu den Kanaren in diesem Jahr geschafft haben.

Diese engagierte Gruppe kämpft noch gegen was anderes: Keine Verstrahlung durch G5.

Die Herreños sind durch ihre Geschichte hindurch stark. Venceremos!

2020 13 Nov.

„The Times They Are A-Changin‘ „

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„Come senators, congressmen
Please heed the call
Don’t stand in the doorway
Don’t block up the hall
For he that gets hurt
Will be he who has stalled …“

 

Martin Simpson on Home Recordings

(recommended by JS)

 


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