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2020 1 Nov

BUDAPEST CONCERT

von: Hans-Dieter Klinger Filed under: Blog | TB | 11 Comments

Da beginnt jemand im Alter von 3 Jahren mit dem Klavierspiel und wird zu einem der bedeutendsten Musiker, nicht nur der Gegenwart. 70 Jahre später ist es vorbei damit. Unvorstellbar, was es für ihn bedeutet, ohne seinen vielleicht wichtigsten Lebensinhalt weiterzuleben. Auftritte vor Publikum dürften wohl nicht mehr stattfinden, und man kann nur wünschen, dass ganz privat, im engsten Kreis, vielleicht nur in Zwiesprache mit sich selbst das Musik-Erschaffen möglich ist.

 

From July 2018 until this past May, he made sporadic use of its piano room, playing some right-handed counterpoint. “I was trying to pretend that I was Bach with one hand,” he said. “But that was just toying with something.” When he tried to play some familiar bebop tunes in his home studio recently, he discovered he had forgotten them.

New York Times

 

Als Anfang 2018 bei www.keithjarrett.org zu lesen war, dass die beiden Konzerte des Jahres 2018 (New York im Frühjahr, Venedig im Herbst) „due to recent health issues“ ausfallen & NICHT nachgeholt würden, fiel mir Oscar Peterson ein, der von einem Schlaganfall betroffen war, sich aber einigermaßen erholen konnte. ECM ließ nichts verlauten. Es gab nicht das geringste Gerücht zum Gesundheitszustand Keith Jarretts. Ich stellte mir vor, dass ihm das Gleiche widerfahren sein könnte wie Peterson. Am 21. Oktober hat Keith Jarrett in der NYT die gesundheitlichen Probleme offenbart. Es ist denkbar, dass dies angesichts der Veröffentlichung von BUDAPEST CONCERT am 30. Oktober geschah.

 

Im Jahr 2016 spielte Keith Jarrett bei seiner letzten Europa-Tournee 5 Solokonzerte. Das erste fand in Budapest statt, das letzte in München (veröffentlicht am 01. November 2019 – ECM 2667). München dürfte der vorletzte Live-Auftritt von Keith Jarrett gewesen sein.

 
 


 
 

MUNICH 2016 – ich war am 16. Juli im Gasteig live dabei. Zum ersten Mal hörte und sah ich Keith Jarrett am 17. Oktober 1971 in Miles‘ sog. LOST SEPTET Fender piano & organ traktieren. Schon 2 Jahre zuvor hat er mich verzaubert als Pianist des Charles-Lloyd-Quartets. Kein Musiker der Welt, weder Monteverdi, Bach, Beethoven, Brahms, Stravinsky ist mir näher gekommen als Jarrett. Am 18. Januar 1975 haben wir im Hotel Sonne zusammen gefrühstückt.

BUDAPEST 2016 – Thom Jureks Anmerkungen bei Roon enden mit diesem Satz:

 

Jarrett regards this as his current „gold standard“ for live improvisation, and given its reach and focus, it’s difficult to argue with him — especially now.

 

Wenn ein Künstler seine „Taten“veröffentlicht, dann gibt er sie in gewisser Weise aus der Hand. Sie gehören ihm nur noch teilweise. Auch wenn er darunter leidet, vielleicht sogar korrigierend einschreitet … er hat nicht mehr die Macht über das Schicksal seines Werks. Im schlimmsten Fall wird es gar nicht wahrgenommen, im schlimmen Fall wird es abgelehnt und vergessen. Das ist Jarrett nicht passiert und dazu wird es nicht kommen – unvorstellbar, auch wenn die eine oder andere Kritik an seinem Œuvre laut geworden ist. Wir kennen die Geschichte um das Köln Concert. Ich meine nicht die Umstände, die das Kölner Konzert beinahe verhindert hätten. Ich meine dies:

 

SPIEGEL (Klaus Umbach):
Mr. Jarrett, Ihr berühmtes „Köln Concert“ ist mittlerweile ein Super-Hit der Plattenbranche. Sind Sie darauf stolz?

JARRETT:
Nein, man sollte alle die Aufnahmen einstampfen.
 

Das Publikum hat das Köln Concert in Besitz genommen, Keith hat seine eigene Meinung dazu. Jarrett hat sicher immer eine Meinung zu seinen Auftritten. Viele dürften konträr zu den Empfindungen der Hörer sein. Als ich am 17. Januar 1975 im Hotel Sonne mit Keith die Treppe in den 1. Stock hoch ging, fragte ich, wie er sein Spiel fand. „It wasn’t good for me, but I think for the audience.“ Tja, manche Sätze merk ich mir bis zum Lebensende.

Es ist vollkommen unproblematisch, zu äußern, ob man von einem Eindruck bewegt ist oder nicht. Problematisch ist es eher, ein Opus zu bewerten – in diesem Fall BUDAPEST. Da gibt es gewisse Hürden, aber auch Gewohnheiten, von denen ich einige nennen möchte.

Jarrett ist pianistisch, spieltechnisch auf allerhöchstem Niveau. Er hat längst überbordende Kreativität bewiesen. Mir ist kein Pianist von vergleichbarer Weitläufigkeit bekannt. Jarrett ist Improvisator, kein „Schreibtischtäter“, der tüfteln, verwerfen, überlegen und verbessern kann. Er kann nichts zurücknehmen, jedenfalls nicht im Live Konzert. Er kann natürlich die Veröffentlichung auf Tonträger untersagen. Jarrett hat einen Ruhm erspielt, der ihm eine ergebene Hörergemeinde garantiert. Ich erwarte – jedenfalls in den Amazonrezensionen – vorwiegend hohe Bewertungen. Ist der Ruhm erst etabliert, huldigt man ganz ungeniert.

 

BUDAPEST ist ein Album, das ich nicht oft anhören werde. Es spricht mich nicht in derart umwerfendem Maße an wie die Alben aus den 60er und 70er Jahren, jenen Jahrzehnten, in denen Jarrett immer überraschen konnte. Ich erlaube mir dieses Urteil:

Seit den 80er Jahren hat sich Jarrett eingeschränkt auf Solokonzerte und das Standards-Trio. Das Komponieren so pfiffiger Themen wie „The Windup“, „Mortgage on My Soul“ und viele mehr hat er anscheinend eingestellt. Es ist ein gewisser Schematismus eingekehrt, der natürlich keine traumhaften Momente ausschließt, den ich in seinen späten Solokonzerten ebenfalls entdecke.

BUDAPEST und MUNICH sind sich recht ähnlich. Wie einige Vorgänger beginnen beide mit einem langatmigen, sperrigen Impromptu. Budapest Part I zugute halten kann ich eine gewisse Einheitlichkeit im Formalen (Harmonik, Figuration, Andeutung motivischer Arbeit), in der zweiten Hälfte durchsetzt mit neuen musikalischen Ideen. Es bewegt mich aber nicht, es sind viele Töne ohne Wirkung. Bei allem Respekt, for me this is strumming at the highest pianistic level.

Set 1 (Part I bis Part IV) ist harte Kost für die Hörer. Mit Jazz hat es nichts zu tun. Das muss auch nicht sein. Es ist näher an klassischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Dann doch lieber Prokofievs Klaviersonaten – vor allem Nos. 6, 7 und No. 8 – oder Messiaens Vingt Regards und György Ligetis Etüden. Das haut mich immer wieder vom Hocker.

Set 2 (Part V bis XII) ist im Wesentlichen konzilianter. So gesagt, heißt die melodisch ansprechendere zweite Hälfte auch Gelegenheitshörer willkommen. Wunderbar sind wieder die Encores. Nicht dass sie sensationell Neues bieten. Sie sind wie ein guter Wein, der großen Genuss bietet, jedesmal, wenn man ihn einschenkt.

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11 Comments

  1. Orthografiekommentator Biermann:

    Ich erlaube mir angesichts dieses sehr persönlichen Texts einen Orthografiehinweis: Die Kommasetzung bei „als“ und „wie“ hat sich in den letzten Jahren, erst im „kolloquialen“ Bereich – und in der Folge, weiter gefördert durch Sparmaßnahmen, langsam auch bei Online-Medien – ziemlich aufgeweicht.

    Fürs Verständnis auf Leserseite allerdings, so finde ich, hilft es doch manchmal auch, auf solche Winzigkeiten zu achten (auch um Bedeutungsverschiebungen zu vermeiden).

    Wenn die Konjunktion als einen untergeordneten Temporalsatz (also einen Satz mit Subjekt und Verb) einleitet, muss immer ein Komma gesetzt werden:

    Es wurde bereits dunkel, als ich mit der Arbeit fertig war.
    Ich hab von Ärzten mehr Blödsinn erlebt, als ich vom Heilpraktiker nach Hause ging.

    Wenn als einen untergeordneten Vergleichssatz (also einen Satz mit Subjekt und Verb) einleitet, muss auch unbedingt ein Komma stehen:

    Sie ist besser in Mathe, als er es jemals sein wird.
    Hans ist so schnell, wie seine Mutter niemals sein wird.
    Ich bin nicht so konservativ, wie gewisse Menschen es sind.
    Ich stellte mir vor, dass ihm das Gleiche widerfahren sein könnte, wie Peterson widerfuhr.
    Da fragte ich, wie er sein Spiel fand. 

    Wenn aber die Konjunktion als vergleichend zwischen Satzteilen steht, darf kein Komma stehen:

    Paris ist größer als Wien.
    Hans ist so schnell wie seine Mutter.
    Das ist leichter gesagt als getan.
    Ich bin nicht so konservativ wie gewisse Menschen.
    Ich stellte mir vor, dass ihm das Gleiche widerfahren sein könnte wie Peterson.

    Eine (wie ich annehme) sogar ungewollte Bedeutungsumkehrung erreicht dann letztlich das falsche Komma hier:

    Es spricht mich nicht an, wie die Alben aus den 60er und 70er Jahren.

    Wie es dasteht, schreibst du genau genommen, dass dich das Album genau so wenig anspricht wie die Alben aus den 60er und 70e Jahren. (Der Satz ist grammatikalisch gesehen eine Verkürzung von „Es spricht mich genau so wenig an, wie das die Alben aus den 60er und 70er Jahren tun.“ Obwohl du, so vermute ich, eigentlich schreiben wolltest: „Es spricht mich nicht an, anders als die Alben aus den 60er und 70er Jahren.“)

  2. ijb:

    PS: Zum Thema: München 2016 habe ich nicht gehört, aber letzte Woche habe ich eine Bestellung für einige aktuelle ECM-CDs aufgegeben, u.a. auch Budapest 2016, nachdem ich die teils auch hier von dir zitierten Artikel, Kommentare und Rezensionen gelesen hatte. Da schien mir das die interessantere Wahl zu sein als München, über das ich seit Veröffentlichung vorwiegend eher verhaltene Kritik vernommen habe, auch von dem einen oder anderen Jarrett-Fan. Nachdem sowohl Michael als auch nun du in dem Zeitraum seit meiner Bestellungsaufgabe (die CDs sind noch nicht eingetroffen) sehr enttäuscht über das Budapest-Album geschrieben haben, frage ich mich schon, ob ich das Geld nicht sinnvoller hätte anlegen können…

    Dabei wollte ich dieses eine Mal so schnell sein, ein Jarrett-Album zu hören und mir eine unvoreingenommene Meinung bilden, bevor ich wie sonst immer von den kritischen Stimmen, speziell auch hier auf dem Blog, vereinnahmt werde. Da war ich nun, trotz Bestellung schon vor der Veröffentlichung, nicht schnell genug. :-(

  3. Michael Engelbrecht:

    In alter Engelbrecht-Tradition😅

    Und noch einmal für den Tag heute überarbeitet, hier meine besten Keith Jarrett-Alben:

    1) Keith Jarrett: The Survivors‘ Suite / 2) Keith Jarrett: Belonging / 3) Keith Jarrett & Jan Garbarek: Luminessence / 4) Keith Jarrett: The Köln Concert / 5) Keith Jarrett: Bregenz & München (from the days of old, not 2016) / 6) Keith Jarrett: Book Of Ways / 7) Keith Jarrett: Sun Bear Concerts / 8) Keith Jarrett Trio: Changes / 9) Keith Jarrett: A Multitude of Angels / 10) Keith Jarrett: Staircase / 11) Keith Jarrett: Changeless 12) Keith Jarrett: Fort Yawuh / 13) Keith Jarrett: Bremen & Lausanne / 14) Keith Jarrett: Sleeper / 15) Keith Jarrett and Jack DeJohnette: Ruta and Daitya / 16) Keith Jarrett: Death and the Flower / 17) Keith Jarrett: Standards Vol. 1&2 / 18) Keith Jarrett: Sacred Hymns (all five stars, simple as that)

    Ich könnte zu nahezu jedem Album eine kleine Geschichte aus der Erinnerung erzählen. Was einfach zeigt, wie sehr diese Werke lebendiger Bestandteil des Alltags waren. Eine solche Liste ist eben keine akademische, kanonisierte.

    And it’s a fluid one. The ranking of such great works could change its appearance from day to night. I think STAIRCASE has just jumped on number one. No one knows, for how long.

    Am grössten, zuletzt, vor wenigen Jahren, die Überraschung, wie toll ich die italienischen Konzerte fand, mit Modena auf der Reiseroute. Es war der Tag, als mein Hund starb, als Manfred Eicher mir die Weissmuster von „A Multitude of Angels“ in Gräfelfing in die Hand drückte. Die Freude kam später, als ich Musse fand, und jeden Abend ein italienisches Konzert hörte, spät am Abend. Der Flügel stand im Raum.

  4. ijb:

    Interessante Aufstellung. Und nur ein paar davon kenne ich nicht. Naja, knapp ein Drittel vielleicht (5 oder 6). Muss aber auch gestehen, dass ich speziell Multitude of Angels noch immer nicht wirklich durchgehend und mit angemessener Aufmerksamkeit angehört habe. Dicke Brocken, diese Multi-Konzertalben…

    Bei 11 allerdings fehlt der Albumtitel.

  5. Michael Engelbrecht:

    Nicht mehr.

  6. ijb:

    Jetzt sind 8 und 11 aber identisch. Oder? Sollte Position 11 „Changeless“ sein?

  7. Michael Engelbrecht:

    You nailed it.

  8. Hans-Dieter Klinger:

    an Orthografiekommentator Biermann

    danke für die Hinweise
    ich bin – das ist mir bewusst – nicht sicher bei der Kommasetzung, dem schwierigsten orthografischen Kapitel überhaupt. Korrekte Rechtschreibung ist mir ein wichtiges Anliegen. Spezialist bin ich für die Unterscheidung von „das“ & „dass“ – das beherrsche ich.

    an ijb
    sicher kann das Lesen von Rezensionen vor dem persönlichen Kennenlernen die Meinungsbildung beeinflussen. Ich kann mich aber recht gut auf mein Empfinden verlassen, bin aber vorsichtig dem ersten Eindruck gegenüber

    an neugierige Wagemutige
    Prokofiev, Piano Sonata No. 7
    gespielt von Mauricio Pollini
    https://www.youtube.com/watch?v=h21KSLqj7HA

  9. Uli Koch:

    Ich weiß gar nicht, auch nach längerem Nachdenken, ob ich überhaupt eine Rankingliste der Jarrett-Alben hinbekommen würde. Das hat einen einfachen Grund: vor Jahren sah ich einmal irgendeine Kultursendung, in der Keith Jarrett zu Wort kam. Auf die Frage, wie es denn zu diesen wunderbaren Klavierstücken käme, antwortete er, fast etwas verlegen, dass er kein Konzept habe, wenn er solo auf die Bühne gehe. Er setze sich hin und beginne zu spielen und zu schauen, was sich dabei manifestieren will. Und ich bin immer noch mächtig beeindruckt, dass es ihm überhaupt möglich ist, solche Musik in einer Improvisation entstehen zu lassen.

    Aus meinem tiefsten Gefühl sperrt sich etwas dagegen, den freien Improvisationsfluss auch nur annähernd einzuordnen, denn ich weiß aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass der Fluss des Seins keine Referenzen kennt. So bleibt nur nachher zu sagen, wie es mir gefallen hat…

  10. Michael Engelbrecht:

    Das verstehe ich gut.

    Ich habe ja auch das Fluidum dieses „Rankings“ betont.

    Nun gibt es tatsächlich etliche Alben von Jarrett, die mir nicht sonderlich gefallen, aus welchen Gründen auch immer.

    Grundsätzlich kann ich sagen, dass mich kein Solokonzert mehr rundum überzeugt hat, das nach seiner Erkrankung am chronicle fatigue syndrome entstanden ist.

    Insofern ist dies der Stapel des Wunderbaren, den ich mit auf die einsame Insel nehmen würde.

    Jarrett war nicht nur Magier, er hatte auch bisweilen seine Rezepturen des Unvorhersehbaren. Und er bediente sich schon beim Köln Concert munter an Motiven der Klassischen Musik. Insofern hat alles Originäre auch seine Wurzeln. Ganz gleich, zu welch neuem Horizont das im einzelnen führt.

    Und so habe ich natürlich Lieblingsplatten von Jarrett, Eno, Bowie, Coltrane et al. – nichts ist da in Stein gemeisselt.

    By the way: nearly all of my favourite Jarrett albums come from the 1970‘s.

  11. Rosato:

    https://www.youtube.com/watch?v=ARzAeT2nZgo

    https://www.youtube.com/watch?v=vbh_iVBh4jg&t=9s


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