Da beginnt jemand im Alter von 3 Jahren mit dem Klavierspiel und wird zu einem der bedeutendsten Musiker, nicht nur der Gegenwart. 70 Jahre später ist es vorbei damit. Unvorstellbar, was es für ihn bedeutet, ohne seinen vielleicht wichtigsten Lebensinhalt weiterzuleben. Auftritte vor Publikum dürften wohl nicht mehr stattfinden, und man kann nur wünschen, dass ganz privat, im engsten Kreis, vielleicht nur in Zwiesprache mit sich selbst das Musik-Erschaffen möglich ist.
From July 2018 until this past May, he made sporadic use of its piano room, playing some right-handed counterpoint. “I was trying to pretend that I was Bach with one hand,” he said. “But that was just toying with something.” When he tried to play some familiar bebop tunes in his home studio recently, he discovered he had forgotten them.
New York Times
Als Anfang 2018 bei www.keithjarrett.org zu lesen war, dass die beiden Konzerte des Jahres 2018 (New York im Frühjahr, Venedig im Herbst) „due to recent health issues“ ausfallen & NICHT nachgeholt würden, fiel mir Oscar Peterson ein, der von einem Schlaganfall betroffen war, sich aber einigermaßen erholen konnte. ECM ließ nichts verlauten. Es gab nicht das geringste Gerücht zum Gesundheitszustand Keith Jarretts. Ich stellte mir vor, dass ihm das Gleiche widerfahren sein könnte wie Peterson. Am 21. Oktober hat Keith Jarrett in der NYT die gesundheitlichen Probleme offenbart. Es ist denkbar, dass dies angesichts der Veröffentlichung von BUDAPEST CONCERT am 30. Oktober geschah.
Im Jahr 2016 spielte Keith Jarrett bei seiner letzten Europa-Tournee 5 Solokonzerte. Das erste fand in Budapest statt, das letzte in München (veröffentlicht am 01. November 2019 – ECM 2667). München dürfte der vorletzte Live-Auftritt von Keith Jarrett gewesen sein.
MUNICH 2016 – ich war am 16. Juli im Gasteig live dabei. Zum ersten Mal hörte und sah ich Keith Jarrett am 17. Oktober 1971 in Miles‘ sog. LOST SEPTET Fender piano & organ traktieren. Schon 2 Jahre zuvor hat er mich verzaubert als Pianist des Charles-Lloyd-Quartets. Kein Musiker der Welt, weder Monteverdi, Bach, Beethoven, Brahms, Stravinsky ist mir näher gekommen als Jarrett. Am 18. Januar 1975 haben wir im Hotel Sonne zusammen gefrühstückt.
BUDAPEST 2016 – Thom Jureks Anmerkungen bei Roon enden mit diesem Satz:
Jarrett regards this as his current „gold standard“ for live improvisation, and given its reach and focus, it’s difficult to argue with him — especially now.
Wenn ein Künstler seine „Taten“veröffentlicht, dann gibt er sie in gewisser Weise aus der Hand. Sie gehören ihm nur noch teilweise. Auch wenn er darunter leidet, vielleicht sogar korrigierend einschreitet … er hat nicht mehr die Macht über das Schicksal seines Werks. Im schlimmsten Fall wird es gar nicht wahrgenommen, im schlimmen Fall wird es abgelehnt und vergessen. Das ist Jarrett nicht passiert und dazu wird es nicht kommen – unvorstellbar, auch wenn die eine oder andere Kritik an seinem Œuvre laut geworden ist. Wir kennen die Geschichte um das Köln Concert. Ich meine nicht die Umstände, die das Kölner Konzert beinahe verhindert hätten. Ich meine dies:
SPIEGEL (Klaus Umbach):
Mr. Jarrett, Ihr berühmtes „Köln Concert“ ist mittlerweile ein Super-Hit der Plattenbranche. Sind Sie darauf stolz?
JARRETT:
Nein, man sollte alle die Aufnahmen einstampfen.
Das Publikum hat das Köln Concert in Besitz genommen, Keith hat seine eigene Meinung dazu. Jarrett hat sicher immer eine Meinung zu seinen Auftritten. Viele dürften konträr zu den Empfindungen der Hörer sein. Als ich am 17. Januar 1975 im Hotel Sonne mit Keith die Treppe in den 1. Stock hoch ging, fragte ich, wie er sein Spiel fand. „It wasn’t good for me, but I think for the audience.“ Tja, manche Sätze merk ich mir bis zum Lebensende.
Es ist vollkommen unproblematisch, zu äußern, ob man von einem Eindruck bewegt ist oder nicht. Problematisch ist es eher, ein Opus zu bewerten – in diesem Fall BUDAPEST. Da gibt es gewisse Hürden, aber auch Gewohnheiten, von denen ich einige nennen möchte.
Jarrett ist pianistisch, spieltechnisch auf allerhöchstem Niveau. Er hat längst überbordende Kreativität bewiesen. Mir ist kein Pianist von vergleichbarer Weitläufigkeit bekannt. Jarrett ist Improvisator, kein „Schreibtischtäter“, der tüfteln, verwerfen, überlegen und verbessern kann. Er kann nichts zurücknehmen, jedenfalls nicht im Live Konzert. Er kann natürlich die Veröffentlichung auf Tonträger untersagen. Jarrett hat einen Ruhm erspielt, der ihm eine ergebene Hörergemeinde garantiert. Ich erwarte – jedenfalls in den Amazonrezensionen – vorwiegend hohe Bewertungen. Ist der Ruhm erst etabliert, huldigt man ganz ungeniert.
BUDAPEST ist ein Album, das ich nicht oft anhören werde. Es spricht mich nicht in derart umwerfendem Maße an wie die Alben aus den 60er und 70er Jahren, jenen Jahrzehnten, in denen Jarrett immer überraschen konnte. Ich erlaube mir dieses Urteil:
Seit den 80er Jahren hat sich Jarrett eingeschränkt auf Solokonzerte und das Standards-Trio. Das Komponieren so pfiffiger Themen wie „The Windup“, „Mortgage on My Soul“ und viele mehr hat er anscheinend eingestellt. Es ist ein gewisser Schematismus eingekehrt, der natürlich keine traumhaften Momente ausschließt, den ich in seinen späten Solokonzerten ebenfalls entdecke.
BUDAPEST und MUNICH sind sich recht ähnlich. Wie einige Vorgänger beginnen beide mit einem langatmigen, sperrigen Impromptu. Budapest Part I zugute halten kann ich eine gewisse Einheitlichkeit im Formalen (Harmonik, Figuration, Andeutung motivischer Arbeit), in der zweiten Hälfte durchsetzt mit neuen musikalischen Ideen. Es bewegt mich aber nicht, es sind viele Töne ohne Wirkung. Bei allem Respekt, for me this is strumming at the highest pianistic level.
Set 1 (Part I bis Part IV) ist harte Kost für die Hörer. Mit Jazz hat es nichts zu tun. Das muss auch nicht sein. Es ist näher an klassischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Dann doch lieber Prokofievs Klaviersonaten – vor allem Nos. 6, 7 und No. 8 – oder Messiaens Vingt Regards und György Ligetis Etüden. Das haut mich immer wieder vom Hocker.
Set 2 (Part V bis XII) ist im Wesentlichen konzilianter. So gesagt, heißt die melodisch ansprechendere zweite Hälfte auch Gelegenheitshörer willkommen. Wunderbar sind wieder die Encores. Nicht dass sie sensationell Neues bieten. Sie sind wie ein guter Wein, der großen Genuss bietet, jedesmal, wenn man ihn einschenkt.