Die Reihe der Golden Anniversaries, die in den jüngsten Jahren erschienen sind, verweisen auf ein Goldenes Zeitalter. Aber nicht alle Preziosen jener Vergangenheit werden vom Rampenlicht erleuchtet. Ich bin sicher, dass nur im Manafonistas-Blog der denkwürdigen CELLAR DOOR SESSIONS gedacht wird.
Das Cellar Door ist ein Club, nein, es war von 1964 bis 1981 ein Musikclub mit 163 Plätzen in der 34th und M Street NW in Washington, D.C. Er befand sich an der Stelle eines ehemaligen Musikclubs namens The Shadows. Klein, nur ein wenig größer als der Saal des Textilmuseums zu Helmbrechts, war er einer der wichtigsten Musikstandorte in Washington und durchaus ein Laboratorium, Dinge für größere Events auszuloten, wie etwa die Europa-Tournee des Miles-Davis-Septets vom Herbst 1971. Davis war scharf darauf, dass Columbia diese Live-Sets aufnahm, und drängte die Firma, dies an diesen vier Abenden, nur eine Woche vor Weihnachten 1970, zu tun. Geld gab es so gut wie keines für den Gig im Vergleich zu dem, was er von Auftritten in Konzerthallen gewohnt war. Also bezahlte er die Band aus seiner eigenen Tasche.
Wer die Klanghorizonte Oktober 2020 gehört hat, ahnt vielleicht, dass sie der Trigger für diesen Artikel sind, endeten sie doch mit Tönen aus dem Wiener Konzerthaus, erzeugt am 5. November 1971 vom LOST SEPTET – ein Finger auf … nein, nicht eine Wunde, eher auf eine erogene Zone, denn ich war dabei, als die Tournee 1971 startete, und zwar in München im Kongress-Saal des Deutschen Museums am 17. Oktober und in Frankfurt am 18. Oktober.
Diese Konzerte gehören zu den eindrucksvollsten und nachhaltigsten Erlebnissen, die ich je in einer Concert Hall hatte. Sicher ist das ein Grund dafür, dass ich die CELLAR DOOR BAND für eine der bedeutendsten Miles-Davis-Groups halte. Mit dieser Meinung bin ich nicht allein. Peter Wießmüller schreibt:
Wie kein anderes Ensemble Miles‘ besaß dieses die Fähigkeit, sich wie in einem Trancezustand über 15 oder 20 Minuten in Hochspannung zu halten.
Wießmüller war wohl ebenfalls unter den Zuhörern in München. Jedenfalls deutet er das in seiner Monografie über Miles Davis an.
Die Cellar Door Band existierte zeitlich etwa in der Mitte jener Periode, die mit In a Silent Way begann und von On The Corner nach chamäleonhaften Wandlungen vollendet wurde – für mich die elektrisierendste Phase des Electric Miles. Die Band spielte am ersten Abend in Quintett-Besetzung.
Miles Davis
Miles ist nicht der coole Miles mit dem melancholisch angehauchten Ton der Kind of Blue Zeiten. Er spielt bevorzugt in extremen Hochlagen, kaum ausgedehnte Melodiephrasen, eher Gesten, die oft nichts anderes als schrille Cries sind, die durch Mark und Bein gehen.
This music reveals a truly muscular Miles Davis at the top of his form as an improvisor and as a bandleader with the most intense and nearly mystcal sense of the right place-the right time-the right lineup.
Thom Jurek
Gary Bartz
Gary Bartz am Alt- und Sopransaxophon war neu in der Band. Er löste Steve Grossman ab, der am 13. August diesen Jahres im Alter von 69 Jahren verstorben ist. Bartz ist in Hochform. Seine mit langem Atem gespielten atemlosen Soli sind nie langatmig, sind reich an bewundernswerten melodischen Einfällen, frei von routinierten Floskeln. Sein Spiel ist der Counterpoint zu Miles‘ prägnanten Kürzeln.
Keith Jarrett
Keith ist der alleinige (!) Keyboarder nach dem Weggang von Chick Corea – eine bemerkenswerte Premiere in der Elektro-Ära des Miles Davis mit offensichtlich weitreichenden Konsequenzen für die Musikgeschichte. Bei den Cellar Door Sessions gibt es gegen Ende eines Sets immer einen als Improvisation bezeichneten Part. Hier hat Jarrett alle Hände und Ideen frei. Ich bin mir sicher, dass in diesen Momenten der Solopiano-Player Jarrett ausgebrütet wurde. Der Improvisation schließt sich immer Inamorata an, Titelnamen, die so nur bei den Cellar Door Sessions vorkommen. Michas Ausklang der letzten Klanghorizonte brachte genau diese Paarung, welche bei den Konzerten der Europa-Tournee 1971 immer den Namen Funky Tonk führte.
Jarrett mochte die elektrischen Tasteninstrumente nicht. Ich kann das gut verstehen. Wer nur einmal eine einzige Taste an einem Konzertflügel der Extraklasse angeschlagen hat und dem Ton nachlauschte, weiß, dass dieser Reichtum an Obertönen, die vielfältigen Nuancen beim Verklingen keinem elektrischen Instrument zu Gebote stehen. Nur passte ein Steinway-Flügel seit In A Silent Way einfach nicht mehr in eine Miles Davis Band. Jarrett hatte die Wahl zu treffen zwischen ’Akustischem Klavier‘ & ’Member of the Miles Davis Group’.
Keith hat das E-Piano verändert und das E-Piano hat Keith verändert, wenigstens für die kurze Zeit als einziger Keyboarder bei Miles Davis. Bei Jarrett klingt das Fender-Piano nur selten keimfrei rein, sondern richtig dirty, er entlockt dem Instrument mit zügelloser Lust ungewöhnliche Klangfarben, wie der Orgel zu Ottobeuren. Ach ja, eine Fender-Orgel bediente er zugleich mit dem Piano. Ich war wunderbar schockiert, als ich ihm in München zwar nicht zum ersten Mal zuhörte, aber zum ersten Mal zuschaute, wie er seine Ideen, seine Musik in die Tasten tanzte – nicht Jedermanns Geschmack, aber ganz nach meinem Gusto. Jarretts abartige, abstruse Phantastik – ausschließlich positiv zu konnotieren – macht diese von Miles‘ elektrischen Bands zur aufregendsten.
Michael Henderson
Der 19-jährige Bassist Michael Henderson – frisch aus der Band von Stevie Wonder geklaut – kam als Ersatz für Dave Holland. Noch vor den Cellar Door Sessions wirkte er mit bei A Tribute to Jack Johnson. Während Jarrett seinen Veitstanz aufführte, stand Michael Henderson wie eine Statue hinter dem E-Bass – und so spielte er auch. Er war der unerschütterliche Anker in der von Jarrett & DeJohnette entfachten Polyrhythmik.
Michael Henderson’s electric bass appears and disappears. When present, he dominates proceedings. He arrives like a strict father who has come to control the children. As he stands firm, the others run circles around him, playing dangerously while knowing he will protect them at all times. Laced with fuzz and wah-wah, Henderson plays grooves which in the absence of any obvious melodies, become the focal point of the compositions.
John Marley
Jack DeJohnette
Es gibt nicht viel zu sagen über ihn, er war ein Anheizer sondergleichen und schon zu Zeiten des Charles-Lloyd-Quartets ein musikalischer Partner von Keith Jarrett.
Airto Moreira
Er stieß erst am zweiten Abend zur Band und brachte mit Cuica, Woodblocks und mit seiner Stimme eine dezente brasilianische Duftnote ein. Man muss oft gut aufpassen, um ihn neben DeJohnettes fulminantem Spiel nicht zu überhören.
John McLaughlin
Er gesellt sich am letzten, dem vierten Abend zur Band. Obwohl er schon bei In A Silent Way und Bitches Brew mit Miles Davis spielte, ist er doch eher Gastmusiker bei diesen Sessions. Ich persönlich werde bei einigen seiner Beiträge nicht recht warm. Aber ausgerechnet jene Stücke der Cellar Door Sessions, die Eingang in das Album LIVE-EVIL fanden, stammen vom letzten Abend, sie sind vorzüglich.
Nach den Cellar Door Sessions verließen Jack DeJohnette und Airto Moreira die Band, McLaughlin sowieso, denn er gehörte eigentlich nicht dazu. Für die Europa-Tournee 1971 holte Miles Davis den Drummer Ndugu Leon Chancler sowie die beiden Percussionisten Charles Don Alias und James Mtume Forman in die Band. Mir gefällt diese Rhythmusmaschine besser, spielt doch Chancler etwas luftiger als DeJohnette, und die Percussionisten bringen afro-kubanisches Flair ein. Mtume ist hinreißend, z.B. in dieser Version von Funky Tonk alias Improvisation / Inamorata aus dem Copenhagen Concert vom 8. November 1971.
So verloren, wie der Albumtitel LOST SEPTET es suggeriert, ist das Septett nicht. Es existieren lediglich keine von Columbia CBS verantworteten Live Mitschnitte, Studioaufnahmen schon gar nicht. Es gibt aber zahlreiche Rundfunkmitschnitte, die bei Youtube leicht zu finden sind. Die kürzlich erschienene CD – Micha hat sie vorgestellt – enthält den Mitschnitt des Österreichischen Rundfunks aus dem Wiener Konzerthaus vom 5. November 1971. Aber schon das 4-CD-Album Miles Davis – At Newport 1955-1975 (The Bootleg Series Vol. 4) – erschienen 2015 – enthält das Konzert von Zürich/Dietikon (22. Oktober 1971). Der Albumtitel ist irreführend. Allzuleicht vermutet man, ausschließlich Aufnahmen vom Newport Festival auf Rhode Island vorzufinden. Nicht entgehen lassen sollte man sich den TV-Mitschnitt vom 9. November 1971 aus Oslo. Einen Tag später spielte Keith Jarrett seine Improvisationen ohne die Miles Davis Clique – aufgenommen von Jan Erik Kongshaug im Arne Bendiksen Studio, Oslo. Das Ergebnis: FACING YOU