Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Manchen Zeitgenossen, die sich gerne über etwas „allzu Amerikanisches“ aufregen, im Film oder in Büchern, täte etwas „Amerikanisches“ in ihrem Leben ganz gut. Für andere, die rasch mit den Augen rollen, wenn sie auf Lebensratgeber in Buchform stossen, wäre das eine oder andere Buch dieser Gattung bestimmt ein „Burner“. Der nun auch in die Jahre gekommene Kevin Rowland zählt ein Buch zu seinen wichtigsten Leseerfahrungen, das ein Bestsellerautor namens Eckhart Tolle geschrieben hat über das Leben im Jetzt. Ich bin übrigens ein grosser Freund zweier seiner Alben mit den Dexy‘s Midnight Runners, “Don’t Stand Me Down“ ist grandios und nur wenig bekannt, und das andere, „Too-Rye-Aye“, enthält den göttlichen Song „Come on, Eileen“, der zweifelsfrei zu meinem Soundtrack des Jahres 1982 zählt. Das dazu passende Zitat des Songschmieds: „Ich möchte nicht auf eine Jukebox degradiert werden.“ Der gute Kevin haderte oft mit eingeschlagenen Wegen, und das erwähnte Buch scheint ihn sehr bewegt zu haben.

Ich habe jetzt auch ein Buch auf Lager, das den Untertitel trägt „Ein Wegweiser“. Und den Obertitel „Die Kunst, sich zu verlieren“. Matthes & Seitz hat es just neu herausgebracht, es erschien erstmals 2005, „A Field Guide to Getting Lost“. Ein Essayband als ideale Bettlektüre; bislang habe ich  nur den ersten Text gelesen, „Offene Türen“, dafür gleich zweimal – mal adagio, mal mit den Sätzen fliegend – weil sich darin das weite Feld des Verloren-Gehens so fesselnd öffnet.

Rebecca Solnit scheint eine Meisterin des poetischen Driftens zu sein, ich mag ihre Sprache und folge ihren Gedanken(sprüngen) von einer Sinnlichkeit in die nächste. In ihrem Wegweiser wird man, entdecke ich beim Rumstöbern, verlassenen Krankenhäusern begegnen, der Mojave-Wüste, dem Punk der Achtziger Jahre, einem spanischen Konquistadoren, San Francisco, Hitchcocks „Vertigo“, dem Blau in den Bildern von Yves Klein, dem Song „Walking After Midnight“, und was sich ihr sonst noch alles zum Sich-Verlieren anbot. Es könnte ein kleines Lieblingsbuch werden. Und da es wohl sehr viel mit „surrender“ zu tun hat, weiss ich schon, wem ich es zu Weihnachten schenke. 204 Seiten kosten 22 Euro. Das scheint mir gut angelegtes Geld, und kann einen auf Ideen bringen.

Das letzte Mal ging ich gestern verloren, als ich die letzte Folge der letzten Staffel von „The Americans“ erlebte (jetzt komplett auf Netflix, ein überragendes Epos aus der Zeit des kalten Krieges der frühen Achtziger Jahre). Eine Stärke der Serie ist es, wie sie immer wieder mal Songs jener Ära ausspielt und keinerlei Sprache die bewegten Bilder begleitet. Und auf einmal hörte ich diesen Song, den ich bestens kenne, aber mir fiel eine Minute lang nicht ein, von wem er stammt, obwohl mir die Stimme total vertraut ist – einfach, weil, ich so in der Story auf- und verlorenging, dass das Lied sich aus allen gewohnten Zusammenhängen löste. Tatsächlich: „With or without you“, von U2, und zum allerersten Mal, eingesponnnen in diese grosse Geschichte und ihre erschütternden Abschiede (die manchem vielleicht „zu amerikanisch“ vorkommen werden), gefiel mir der Song unheimlich gut.

This entry was posted on Samstag, 26. September 2020 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

5 Comments

  1. ijb:

    Ich zähle ja Don’t Stand Me Down von den Dexys auch zu meinen Lieblingsalben. Ich habe die Original-LP und die „Director’s Cut“-CD-Edition mit einer hervorragenden DVD mit den sensationellen Videos. Too-Rye-Ay habe ich interessanterweise bis heute noch immer nicht (suche immer noch die „Deluxe Edition“), aber ihr erstes und übrigens nicht weniger tolles Album Searching for the Young Soul Rebels habe ich einer hervorragenden 2-CD-Ausgabe. Drei sehr unterschiedliche Alben. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich irgendwo im Internet eine hochinteressante Kurzdokumentation über die Geschichte der Band gesehen; das ist wirklich eine spannende Entwicklungsgeschichte um diesen sehr eigenwilligen Bandchef und die von beachtlichen Höhen und Tiefen gezeichnete Bandgeschichte. Bestimmt lässt sich das ohne große Umstände via Gugl oder eine andere „Suchmaschine“ ausfindig machen.

    Die „Reunion“-Alben nach der Jahrzehnte langen Pause fand ich zwar nett, aber letztlich auch nicht dauerhaft begeisternd. Rowlands Soloalbum fehlt mir noch. Im Rahmen der Wiederveröffentlichung habe ich da schöne Besprechungen gelesen.

  2. Olaf Westfeld:

    Gerade auf Pitchfork gelesen, dass es jetzt Lou Reeds New York in so einer Deluxe Edition gibt. Auch so etwas Amerikanisches, ein großer amerikanischer Roman oder eine Kurzgeschichtensammlung, düster und spartanisch (wobei mittendrin auch der Beginn eines großen Abenteuers für Auflockerung sorgt). Bekomme gerade große Lust, das Album zu hören, wohl das erste Mal in diesem Jahrhundert, schätze ich. Hatte ich damals aber nur auf Kassette aufgenommen. Etwas lästig finde ich, dass heutzutage so viele Platten als Doppel LPs veröffentlich werden, die auf eine Scheibe passen. Ständiges Umdrehen nervt und stört das Musikhören. Ist aber ein anderes Thema.

  3. ijb:

    Geht mir genauso, mit den Doppel-LP-Ausgaben – vor allem oft auch bei Alben, die gerade mal 35 bis 40 Minuten lang sind. Julia Holters Loud City Song ist so ein Beispiel. „Echte“ Doppelalben sind da schon was anderes, wie Aviary, das tatsächlich genau doppelt so lang ist und daher sinnigerweise ein Doppelalbum ist.

    Meist verweigere ich mich dann diesen Plattenkäufen, zumal die oft grandios überteuert sind, 30 Euro und (teils viel) mehr. Erst gestern stolperte ich über eine Filmmusik-Einzel-LP aus dem letzten Jahr (Atlantique), die es zum Normalpreis von 40 Euro(!) gibt. Es gab ein Sonderangebot von 28 Euro, aber für eine einfache LP ohne irgendwelche Besonderheiten finde ich das immer noch Wucher. Ich hab mir angewöhnt, nicht mehr als 20 Euro für eine einfache LP auszugeben und sonst die CD zu kaufen. (Kostet dann üblicherweise die Hälfte.) Oder gar nicht.

    New York ist großartig. Noch immer. Zu Lou Reed kann ich wirklich in jeder Stimmungslage zurückkommen, habe alle seine Alben – nur dieses seltsame späte Ambient- oder viel mehr New-Age-Album habe ich nicht. Vor genau 20 Jahren besuchte ich dieses Konzert in Düsseldorf …

  4. Martina Weber:

    Mit Begeisterung bin ich Michaels Hinweis auf Rebecca Solnits Buch „Die Kunst, sich zu verlieren“ gefolgt. Auf amazon ist als Leseprobe das – vermutliche komplette – erste Kapitel verfügbar. Rebecca Solnit verknüpft hier auf wunderbare Weise verschiedene Denkansätze. Faszinierend fand ich den Umgang bestimmter Ureinwohner, einen Arm nicht als rechten oder linken, sondern als östlichen, westlichen etc. zu bezeichnen, also mit Hilfe der Himmelsrichtungen, als Zeichen der Verortung im geographischen Raum.

    Auch der Gedanke, bewusst und gezielt die Grenzen des eigenen Erfahrungsraumes zu erweitern, indem man unbekanntes Gelände erforscht und es aushält, sich genau zu wissen, wo man sich befindet, fasziniert mich. Als Kind habe ich oft mit dem Rad neues Gelände erforscht. So ein Verhalten prägt und verändert. Es hat eine politische Komponente.
    Insbesondere in Zeiten, in denen viele Menschen sich mehr auf technische Geräte verlassen als auf ihren Instinkt oder andere Orientierungshilfen.

  5. ijb:

    Rebecca Solnit war mir bis vor kurzem (auch) nur vage ein Begriff, aber erst vor wenigen Tagen las ich diesen kleinen Essay von ihr, der mich beeindruckt hat: „California’s dark, orange sky is the most unnerving sight I’ve ever woken up to“.

    Daraufhin recherchierte ich kurz, wer sie ist, und notierte ihre Buchtitel Men Explain Things to Me und The Mother of All Questions.


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