Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2020 26 Aug.

78° 39′ N, 16° 20′ O

von: ijb Filed under: Blog | TB | 3 Comments

Meine bereits gebuchte, knapp zweimonatige Nordamerikareise (in Kombination drei verschiedener Film- bzw. Buchprojekte plus angehängter (Klein-)Familienreiserei) musste aus bekannten Gründen leider ausfallen, und auch die Hoffnung auf eine verkürzte, spätere Ersatzreise im August oder September blieb aufgrund der wankelhaften Lage in den Vereinigten Staaten leider unrealisiert. Als eine Teil-Ersatzreise bin ich nun im hohen Norden unterwegs. Zum einen wollte ich, sobald Norwegen die Grenze wieder öffnet, meine aus dem März (bzw. genau genommen schon aus dem letzten Jahr) aufgeschobenen Besuche bei u.a. John Surman und Sidsel Endresen nachholen, und zum anderen Recherchen und Kontakte für ein anderes Filmprojekt, das bereits seit mehreren Jahren im Drehbuchstadium verweilt, etwas anschieben — durch Ausweitung verschiedener Kontakte. Und als Ausweichmanöver für die geplante Filmerei in Nordkanada für das Dokumentarfilmprojekt (We’re all going to die – a film about social collapse) eines Freundes bin ich nun in Nordnorwegen und Svalbard gelandet.

 
 


 
 

Longyearbyen auf Spitzbergen in Svalbard ist die weltweit nördlichste (Klein-)Stadt bzw. Siedlung (von einzelnen Forschungsstationen abgesehen) bzw. der nördlichste Ort, den man auf normalem Reiseweg erreichen kann. Die Inselgruppe Svalbard liegt auf halber Strecke zwischen dem Nordkapp und dem Nordpol, zu dem es von hier nur noch ca. 1200 km sind. Ich bin gerade noch in den letzten Tagen des Polarsommers hier angekommen, gestern verschwand die Sonne zum ersten Mal seit über vier Monaten kurz hinter dem Horizont — aber es ist dennoch rund um die Uhr taghell. Die Tageszeiten werden sich jetzt rasant verschieben, denn schon Anfang Oktober wird die Sonne bis in den Februar hinein nicht mehr über den Horizont kommen. Zum Glück herrscht in diesen Tagen freier Himmel, was zwar zu kalten Temperaturen führt (allerdings auch nicht kälter als man es aus einem beliebigen November oder Februar in Berlin kennt), aber die Gelegenheit für einige schöne Aufnahmen bietet. 

 
 


 
 

Svalbard ist allerdings ein recht seltsamer Ort, zwar offiziell Norwegen zugeordnet, aber relativ frei, was die Wohn- und Aufenthaltsgenehmigungen für Menschen aus anderen Ländern betrifft. Es gibt allerdings kein Krankenhaus, daher sind die Einreisebedingungen derzeit sehr streng (Stichwort „rote Länder“). Steuern bleiben im Land, werden nicht an Norwegen weitergeleitet. Nur gut 2000 Menschen leben hier, und die paar Siedlungen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts vorwiegend von russischen und norwegischen Kohleabbaufirmen aufgebaut. Manche Orte und die meisten Kohleminen wurden längst verlassen; eine Mine ist noch übrig bzw. in Betrieb, vor allem, um den Energiebedarf vor Ort zu bedienen — und für deutsche Industrien. Ästhetisch wirkt in der mehr oder weniger einzigen (Klein-)Stadt Longyearbyen alles etwas provisorisch; es gibt nur wenige Straßen, und die Infrastruktur verläuft aufgrund des Permafrosts überirdisch. An den Berghängen sind überall ehemalige Minen- und Transportanlagen, einige seit vielen Jahrzehnten am Verfallen — und viel Geröll. Aufgrund der hohen Lawinengefahr (Folge des Klimawandels) dürfen einige Häuser nicht mehr bewohnt werden, viele sind bereits abgerissen (oder eingerissen durch Absinken in den tauenden Boden); dafür werden stetig neue Häuser errichtet, die wiederum auch eine gewisse provisorische Ästhetik haben. Außerhalb der Ortsgrenzen darf man sich wegen der potenziellen Eisbärbegegungen nur mit Gewehr fortbewegen (zu Fuß allerdings, da es keine Straßen gibt, und die Schneemobile nur im Winter bzw. Schnee fahren können), und seit Tagen kommen tatsächlich auch immer wieder Bären aus den Bergen herunter und suchen in Hütten (auf der gegenüberliegenden Seite des Fjords) nach Nahrung — durch die klimatischen Veränderungen finden sie bekanntlich nicht mehr viel zu fressen. Ein Hubschrauber kreist immer herum, wenn jemand einen Bären gesichtet hat; teils werden die Bären dann an entlegenere Orte auf der Insel abtransportiert.

 
 


 
 

Aufgrund vieler Umstände ist Svalbard derzeit einer der am massivsten von klimatischen Veränderungen betroffenen Orte der Welt. Allerdings muss man vielleicht auch festhalten, dass es für Menschen eigentlich gar keinen richtigen Grund (mehr) gibt, hier überhaupt zu weilen. 40% der Menschen arbeiteten mittlerweile im Tourismus, aber seit März lag der fast komplett brach. (Andere, die nicht in der Kohleindustrie arbeiten, arbeiten in der Forschung oder in der Satellitenübertragungstechnik.) Jetzt werden wieder ein paar Ausflüge angeboten, aber die weniger gewordenen Flugzeugverbindungen sind doch weitgehend leer.

This entry was posted on Mittwoch, 26. August 2020 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

3 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Looks like another end of the world (as we know it)

    So trostlos manches erscheint, manchmal habe ich mich an ganz und gar entlegenen Orten seltsam beglückt gefühlt.

    Ich hatte meist auch die richtige Musik dabei – soul food, und du triffst ja auf einige sehr spannende Künstler. (Oder hast sie getroffen).

    Und, auf diesen speziellen Wegen, immer schön das Gewehr mitnehmen 😉

  2. Jochen:

    Imposante Horizonte.

  3. ijb:

    Noch ein paar Fotografien aus dem hohen Norden: https://www.facebook.com/ij.biermann/posts/10225630219681519


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz