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2020 12 Jul

The Ultimate Music Guide: Kraftwerk

von: Jan Reetze Filed under: Blog | TB | Tags:  | 4 Comments

 
 
Ich habe die 124 Seiten dieses englischsprachigen Uncut-Sonderheftes nicht von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen. Ich kenne die Band seit ihrem ersten Album von 1970, und es gibt ganz sicher nicht mehr viel, das mich an ihrer Geschichte noch überraschen könnte. Der Hypesticker „50 Jahren!“ gleich auf der Titelseite ist natürlich zum Schmunzeln. Ärgerlicher wären aber Fehler inhaltlicher Art, und solche sind mir im Heft nicht aufgefallen. Die Beiträge sind von diversen Autorinnen und Autoren geschrieben und durchweg sauber recherchiert, die Dokumentation bei Uncut scheint besser zu funktionieren als Google-Translate. Schade ansonsten, dass das Corona-Virus die US-Tour zum 50-jährigen Jubiläum der Band verhindert hat (ich hatte mich schon auf New York gefreut).

Es wird in diesem Heft die Entstehungsgeschichte jedes einzelnen Kraftwerk-Albums geschildert, auch jene der ersten drei, die Ralf Hütter heute nicht mehr für präsentationswürdig hält, ebenso auch jene des pre-Kraftwerk-Albums Tone Float, als die Band noch Organisation hieß. Das war noch wirklicher Krautrock, schon damals allerdings exzellent produziert von Conny Plank, der es auch irgendwie schaffte, das Album an die englische RCA zu verkaufen. In Deutschland war es nur als Import zu haben, aber das fiel nicht weiter auf, weil es eh niemand haben wollte. Erst als Kraftwerk weltbekannt war, verkaufte es sich als Bootleg ganz ordentlich.

Die Gesamtperspektive ist britisch. Die Darstellungen der Alben beziehen sich zunächst immer auf die englischen Ausgaben mit den entsprechenden Covern, Kritiken geben den englischen, gelegentlich auch den amerikanischen Standpunkt wieder. Jeder Albumtrack wird mit einer Fünf-Sternchen-Wertung beurteilt, wobei weniger als drei anscheinend nicht vorkommen. Auch die Singles werden aufgelistet und vorgestellt, desgleichen wird auf die verschiedenen Bühnenpräsentationen eingegangen. Für Sammler interessant sind sicherlich auch die aufgeführten Bootlegs, deren Nennung allerdings nicht annähernd vollständig ist, und für mein Gefühl sind es auch nicht die besten. Florian Schneiders Hinschied konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Im übrigen ehrt es die Redaktion, das letzte Wort dem frühen Kraftwerker Eberhard Kranemann überlassen zu haben.

Was man nicht erwarten sollte: eine ernsthaft kritische Auseinandersetzung mit dem Werk der Band oder eine wirklich systematische Einordnung ihrer Musik in den popmusikalischen Kanon. Kraftwerk hat ein etabliertes Image, und bis in die Auswahl der Hütter-Zitate hinein wird an diesem Lack nicht gekratzt. Wunde Punkte — wie etwa das unglückliche Ende der Ära Conny Plank — werden nicht angetastet. Auch die gelegentlich konfuse Veröffentlichungspolitik der Band wird nie in Frage gestellt.

Wen diese Einschränkungen nicht stören und wer die Geschichte von Kraftwerk noch nicht oder nur bruchstückhaft kennt, kann die 8.99 Pfund für dieses Heft unbesorgt investieren. Als Übersicht ist es sein Geld wert. Wer die offizielle Kraftwerk-Geschichtsschreibung allerdings schon kennt, erfährt hier nichts Neues.

This entry was posted on Sonntag, 12. Juli 2020 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

4 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Hatten Plank und die Kraftwerker sich zerstritten? Oder was war das unrühmliche Ende dieser Geschichte?

    Der neue Ultimate Music Guide ist Wilco gewidmet, und richtig gut.

  2. Lajla:

    Jan, du bringst mich auf die Idee, an unserem nächsten Manatreffen, am 6.12.2020 in Düsseldorf, eine kleine Kraftwerk Tour zu organisieren.

  3. Jan Reetze:

    @Lajla: Gute Idee. das Klingklang-Studio ist ja heute in Meerbusch; in der Mintropstraße sitzt heute eine Filmproduktionsfirma oder sowas … Das Haus in der Berger Allee, in der mal einige der Band gewohnt haben, existiert wohl auch nicht mehr. Aber die Stamm-Eisdiele der Band, oder das titelgebende Hotel Cristallo, und ein paar andere Anlaufpunkte gäbe es schon; evtl. auch einige Gebäude aus der Architekturfirma von Paul Schneider-Esleben …

    @Micha: „Zerstritten“ ist das falsche Wort. Ralf und Florian haben Conny mit 5000 Mark sozusagen aus dem Projekt „ausgekauft“. Da er das Geld für sein Studio brauchen konnte, hat er es angenommen. Dafür haben sie ihn dann auf dem Autobahn-Cover nicht mehr als Produzenten (der er de facto war), sondern nur noch als Engineer genannt, und das hat ihn anscheinend hart getroffen, und damit war auch die Zusammenarbeit beendet. Diese Geschichte wird von verschiedenen der Band nahestehenden Leuten (Rother, Kranemann) sehr unterschiedlich beurteilt. Ich für meinen Teil denke, dass für jeden, der künstlerisch tätig ist, irgendwann der Moment kommt, da er seinen Mentor erschlagen muss, um seinen eigenen Weg zu finden. Vielleicht war es das hier. Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang auch, dass der Deal passierte, BEVOR Autobahn ein Bestseller wurde.

  4. Michael Engelbrecht:

    Ich musste zum Glück nie meinen Mentor „erschlagen“. Ich halte das eher für eine Ego-Sache. Wäre Plank weiterhin als Produzent geführt worden (für Autobahn), es hätte der Gruppe ja in keiner Weise wtwas vom nachfolgenden Ruhm genommen.

    Und zur Kraftwerk-Tour: also, mir würde die Eisdiele voll genügen:) – aber die ist am Nikolaustag wohl geschlossen.


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