Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: Mai 2020

 
 

As long as I like it, my new toy, it will be around. One idea is, apart from the radio hour, to write a short graphic short story on my lonesome island days with 12 pictures. Jo „Steely“ Siemer will receive an extra fee for the design, Eugene Thacker’s „Im Staub dieses Planeten“. Holy moly. Yesterday I listened to the early „red“ Kraftwerk album, and, yeah, with the support of Jan I found out, I do have an original Phillips pressing of the vinyl that made „Ruckzuck“ even more immersive. How I love those flute sounds from Florian, and knowing Conny is working behind the controls: exciting. And then I had the urgent need to go for one of my all time favourite Reggae albums, the one you can see on the photo, up front, the 40th anniversary edition with three vinyl albums and some fantastic remixes. It‘s an album the early punk heroes in Britain were obsessed with, and John Peel loved to play it, at least that‘s the aural image in my head. Now, have a look on the other items on the photo in mono comic mode: do you recognize one or another? Not so easy. Two albums, and one series, and one movie. No filler, all killers, guys. The person, maybe from the inner circle of us manas, or a curious reader of the blog, who recognizes two of these works, apart from Culture’s opus magnum, will get a cd copy deluxe edition of the next Brian Eno album. Might be released in late 2020.

 

2020 17 Mai

25 Rückblicke

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In diesem allerfeinsten kleinen Film, in dem Bill Frisell von seinen Anfängen erzählt, dreht sich einiges um sein Debut-Album für ECM, „In Line“. Ein Solowerk, mit der Unterstützung von Arild Andersen bei einigen Stücken. Ein betörend unspektakuläres erstes Mal. Diese Produktion ist auch eine Story von Manfred Eichers Gespür und Geduld (aber hören, sehen Sie selbst). Ich fragte mich, wer dieser Gitarrist sei, als ich ihn das allererste Mal hörte, mit seinem Kurzauftritt auf Eberhard Webers Album „Fluid Rustle“, bei dem er auch Balalaika spielte. „In Line“ begegnete mir wieder, während eines Gesprächs mit Gavin Bryars. Da ging es um sein Album „After The Requiem“, mit Frisell an der E-Gitarre. Wir sprachen über die letzten Tage des Philosophen Immanuel Kant, wie er (daran erinnere ich mich, sicher lückenhaft) er aus dem Fenster seines Zimmers schaute, auf einen alten Turm gegenüber („The Old Tower of Lobericht“) – und Gavin Bryars schichtet die Klänge so wundervoll, dass Frisells Schwebungen sich elegisch und spannungsreich zugleich einfügen. Und Mr. Bryars erzählte mir, in einem kleinen Büroraum in Gräfelfing, wie sehr er „In Line“ als Album schätze. Ein Stück daraus spiele er seit Jahr und Tag immer wieder, wenn auf seinen Flügen die Maschine dabei ist abzuheben, und er damit eine leichte Flugphobie bestens in Schach halte. Es habe die perfekte Schwingung, und die perfekte Länge. Wer Frisells Musik kennt, wird, wenn er dem Amerikaner zuhört (in diesem Gespräch, das wie ein tief entspanntes Solo rüberkommt) ganz eigene Assoziationen entwickeln zur Musik, zur eigenen Hörgeschichte. Hier und da gönnt sich die Kamera einen Blick in die Umgebung, auf einen Spielplatz etwa. Für Frisell war die Musik stets ein „adventure playgound“, und hier erzählt er so ehrlich, so ruhig, dass man dieser Figur wirklich näherkommt, und hinterher grosse Lust hat, „In Line“ zu hören. (m.e.)

 

Tatsächlich zählte Bill Frisell zu meinen ersten Gesprächspartner-Ideen für diese 50-Episoden-Reihe über ECM (neben Mick Goodrick, der leider mit den Worten „I’m in the process of retiring in the next year or so, plus I broke the little finger of my left hand a couple of years ago“ freundlich, aber bestimmt absagte), und letztlich zog sich die Organisation zu einem Treffen mit Bill  über einige Monate hin, und es war bislang auch der einzige Musiker, mit dem die Planung nicht direkt persönlich stattfand, sondern ausschließlich zuerst über seine Managerin in San Francisco und dann mit seiner Tourmanagerin / Tonmeisterin. Leider ließ es sich nicht ermöglichen, ein Treffen bei ihm in New York zu machen. Ich bot dann irgendwann an, dass doch der Konzertraum hier in Berlin der Tour im letzten Herbst eine gute Option wäre, da ich quasi auf der gleichen Straße wohne, nur ein Stück weiter nördlich, was auch auf positive Resonanz zu stoßen schien. Ob eine Stunde den ausreichend sei? (Sicher. Mit Richie Beirach, Heiner Goebbels oder Boris Yoffe hatte ich deutlich weniger Zeit, und das Ergebnis kann man dennoch vorzeigen.) Doch von Seiten der Kontaktperson(en) wurde am Ende der Wunsch übermittelt, das Gespräch im Hotel durchzuführen. Ob ich denn auch mit einer halben Stunde auskäme? Naja, klar, sagte ich, schließlich hatte ich wohlahnend schon zu Beginn geschrieben, dass auch einige Minuten im Rahmen eines Soundchecks oder dergleichen möglich wären, sollte es zeitlich im Rahmen einer Tour nicht anders einzurichten sein. Meist ist ein Hotel keine wirklich gute Räumlichkeit für Interview-Filmereien, erstens weil es meistens stulle (so der Berliner) aussieht (siehe hierzu die Interviewvideos mit Heinz Holliger, wo wir immerhin ein dunkles Salonzimmer in einem Westberliner Hotel organisierten), und zweitens weil der Ton schwierig zu verwenden ist. Vor Ort zeigte sich dann auch, dass die Hotelangestellten (erwartungsgemäß) einem Interview nur unter der Bedingung zustimmten, dass wir uns ins Restaurant setzten – und keine Aufnahme gemacht würde.

Daher fand das Gespräch mit Bill am Ende in einem kleinen Park mitten in Friedrichshain statt, eine Minute vom Hotel entfernt  statt (ich hatte ja nur 30 Minuten); glücklicherweise war es akustisch gerade so noch okay, wenngleich dort auch einige Herrschaften unterwegs waren. Rechtlich gesehen darf man heute Menschen in der Öffentlichkeit nicht einmal mehr von hinten Filmen, wenn man nicht vorher ihre Erlaubnis einholt, mit Kindern ist es noch strenger… Ich wäre herzlich gerne mehr in die Tiefe gegangen und hätte gerne noch einiges mehr zu Bills Arbeit für/mit ECM erfahren, aber so ist der Fokus eben noch striker auf den Jahren bis zum ersten Album. Immerhin hatte er vorher schon mein Video mit Gavin Bryars gesehen (und das gleich positiv erwähnt), wo er ja auch thematisiert wird.

Heute habe ich sozusagen die Hälfte der Episoden der Reihe fertig; 15 weitere sind zumindest gefilmt (und manche in Teilen geschnitten, aber noch nicht ganz rund), ich hoffe, die über den Frühling und Sommer fertigzustellen. Und sobald es wieder möglich wird, Reisen anzutreten, hoffe ich, möglichst viele der zwischen März und Mai terminierten und dann abgesagten Treffen noch nachzuholen. Dies ist aktuell der Stand der gesicherten Rückblicke:

 

1961 Steve Swallow & Carla Bley on Jimmy Giuffre 3 

1969 Martin Wieland / Studio Bauer (Mal Waldron „Free at last“ / Version ohne Untertitel)

1970 Frieder Grindler (Wolfgang Dauner „Output“)

1971 Barre Phillips 

1972 Ralph Towner 

1973 Art LandeRed Lanta“

1974 Eberhard Weber

1975 Steve Swallow and Carla Bley on „Dreams So Real – Music of Carla Bley“

       ///   Enrico Rava The Pilgrim and the Stars 

1976 Lajos Keresztes (Egberto Gismonti „Dança das Cabezas“)

1977 Richie Beirach

1978 Wadada Leo Smith „Divine Love“

1979 Roberto Masotti

1981 Meredith MonkDolmen Music“

1982 Bill FrisellIn Line“

1983 John Surman „Such Winters of Memory“

1984 Friedrich Hölderlin

1985 Django Bates on First House

1986 David TornCloud About Mercury“ (+ Everyman Band)

1987 Hans KochAccélération“

1988 Heiner Goebbels / Heiner Müller „Der Mann im Fahrstuhl“

1989 Jean Guy Lathuilière (Alex Cline „The Lamp And The Star“)

1990 Gavin BryarsAfter The Requiem“

1991 Arild Andersen on Masqualero („Re-Enter“)

1993 Sidsel Endresen 

1994 Marilyn Mazur Future Song „Small Labyrinths“ 

1995 Pierre Favre „Window Steps“ 

1996 Juan Hitters (Dino Saluzzi „Cité de la Musique“)

1997 Barry Guy & Maya Homburger

1998 Jan Jedlička (Tomasz Stanko „From The Green Hill“)

1999 Mayo Bucher (Herbert Henck: Jean Barraqué Sonate / Björn Meyer „Provenance“)

2000 Marilyn Crispell

2001 Jon Balke

2002 Carla Bley „Looking for America“

2003 Caterina di Perri (Stefano Battaglia „Raccolto“)

2004 Susanne Abbuehl

2005 François Couturier & Anja Lechner / Tarkovsky Quartet „Nostalghia“ [muss überarbeitet werden; letzte Schnittfassung nicht freigegeben]

2006 Paul Giger & Marie-Luise DählerTowards Silence“

2007 Jan Kricke

2008 Mark Turner

2009 Boris YoffeSong of Songs“

2010 Ketil Bjørnstad & „La notte“ 

2011 Eberhard Ross (Mauseth/Valli „Over Tones“)

2013 Thomas Wunsch (Christian Wallumrød Ensemble „Outstairs“)

2014 Fotini Potamia (Savina Yannatou „Songs of Thessaloniki“)

2015 Gary Peacock Trio with Marc Copland and Joey Baron „Now This“ + Outtake

2016 Marc Sinan & Oguz Büyükberber „White“

2017 Sun Chung / Andrew Cyrille

2018 Gérard de Haro / Studio La Buissonne  

Hinzufügen für 2019 ließe sich noch die kleine Reihe von Gesprächsteilen mit Heinz Holliger, zu seinem 80. vor einem Jahr, wenngleich das stilistisch weitaus simpler ist und letztendlich in künstlerisch-gestalterischer Hinsicht nicht von mir entschieden wurde, und für 2020 die „Kurzdoku“ zu Erkki-Sven Tüürs Kammermusikalbum:

2019 Heinz Holliger über Kurtág, über Philippe Jaccottet und die Idee hinter dem Album „Zwiegespräche“

2020 Erkki-Sven Tüür „Lost Prayers“ 

Gerade als ich diesen Blogeintrag fertigstelle, erhalte ich eine Mail von Gary Peacock, „Whatever has a beginning has an end.“ Nachdem das Gespräch mit Peacock und Marc Copland viel positive Resonanz erhalten hat und auf Facebook zahlreiche Male geteilt wurde, habe ich noch ein „Outtake“ hochgeladen, wo die beiden konkret über ECM und Manfred Eicher sprechen. Das hatte in dem ohnehin schon recht langen 2015-Gesprächsvideo keinen Platz mehr gefunden. Daher hier als letztes Wort zum Sonntag.

2020 16 Mai

Janis – Her Life And Music

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Dies ist die nunmehr sechste Janis-Joplin-Biographie in meinem Bücherregal, erschienen im Oktober letzten Jahres. Da inzwischen nun wirklich keine Neuigkeiten mehr aus dem Leben der Sängerin herauszupressen sind, schon gar keine sensationellen, hat die Autorin Holly George-Warren in erster Linie die allseits bekannten Stationen aus Janis‘ Leben nachgearbeitet und sie dabei neu gewichtet.

So unoriginell wie der Titel ist die Vorgehensweise der Autorin. Vielleicht gerade deshalb gelingen ihr gelegentlich Perspektiven, die so noch nicht beschrieben worden sind. Ein Schwerpunkt liegt auf Janis‘ Kindheit und Jugend und ihrem Verhältnis zu Geschwistern, Eltern und Mitschülern. Dass sie zeitlebens versucht hat, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass sie mit ihrer Entscheidung, nach San Francisco und zu BBHC zu gehen, den richtigen Schritt getan hatte, zieht sich durch viele Briefe, aus denen die Autorin zitiert. Dass dabei ihre objektive Situation nicht immer dem entsprach, was sie ihren Eltern erzählte, wird hier sehr deutlich. Janis‘ Talent, andere vor den Kopf zu stoßen, ihr ständiger Alkohol-, Pillen- und Heroinkonsum, ihre dauernden Versuche, damit aufzuhören und es doch nicht zu schaffen, ebenso ihr ständiger Fight mit diversen Sex- und Liebesabenteuern: das alles wird in diesem Buch nicht anekdotisch am Rande abgehandelt, sondern in zum Teil epischer Breite als die lebensbestimmenden Faktoren, die sie wohl waren. Gleichwohl bin ich nicht davon überzeugt, dass alle, die heute behaupten, mit Janis geschlafen zu haben, das wirklich getan haben. Es ist nun mal nicht mehr überprüfbar.

Es ist dies die erste Joplin-Bio, in der wirklich detailliert auf die Geschichte ihrer verschiedenen Bands eingegangen wird. Dass Janis‘ Ausnahmetalent die Jungs von Big Brother & The Holding Company überforderte, kann jeder hören, der Ohren hat. Das wusste Janis auch selbst. Gleichzeitig aber war die Band für sie so etwas wie ein sicherer Hafen. Die Band hielt zusammen wie Pech und Schwefel, und Janis sah sie als eine Art Familie an. Um sie endlich dazu zu bringen, BBHC zu verlassen und eine eigene Band zu gründen, brauchte es eine starke Vaterfigur, in diesem Fall ihren Manager Albert Grossman. Und selbst das tat sie nicht, ohne Sam Andrew aus BBHC mitzunehmen. Das führte wiederum zu Schwierigkeiten mit den erstklassigen Musikern ihrer Kozmic Blues Band, mit deren Fähigkeiten Sam nicht mithalten konnte. Und Janis selbst stellte schon bald fest, dass es ihr nicht lag, eine Band zu führen. Genau das aber hätte sie tun müssen; die Kozmic-Blues-Leute konnten zwar alles spielen, was man von ihnen verlangte, aber man musste ihnen genau sagen, was sie spielen sollten. Auch das Publikum akzeptierte die neue Band und den souligen Sound nicht so ohne weiteres. Und so erfahren wir dann auch, wie Janis an ihre dritte und beste Band kam, die dann den Namen Full Tilt Boogie Band annahm.

Nebenher wird beschrieben, wie BBHC einen sehr dummen Knebelvertrag mit dem Jazzlabel Mainstream Records abschloss, aus dem sie schließlich von Columbia Records mit 200.000 Dollars herausgekauft wurden — damals eine ungeheure Summe, die ahnen lässt, welche Hoffnungen Labelboss Clive Davis in Janis gesetzt haben muss. Aber auch ihm war klar, dass Janis das nicht mit BBHC schaffen würde, und so wirkte er hinter den Kulissen auf Grossman ein. Gelegentlich tauchen dabei auch Widersprüche zu früheren Biografien auf; etwa über die Story des Songs „Mercedes Benz“ oder das Zustandekommen des namens „Pearl“ — ich kenne da inzwischen drei Varianten. Das Buch erweckt auch den Eindruck, dass Janis kaum jemals allein gewesen ist; immer waren irgendwelche Leute, Lover oder Musiker um sie herum, immer sollen auch Southern Comfort oder sonstwelche Mittelchen im Spiel gewesen sein; gleichzeitig aber wird geschildert, dass sie ständig mit einem großen Stapel Bücher reiste und viel und konzentriert gelesen haben soll. Das geht schlecht zusammen; es verträgt sich auch nicht mit Janis‘ überlieferter Klage, „On stage, I make love to 25,000 different people, then I go home alone„. Und wie war das nun mit ihrem Tod — hat da noch jemand etwas aus ihrem Hotelzimmer entfernt oder nicht? Auch hier gilt: Es ist nicht mehr überprüfbar.

Es sind die kleinen Randgeschichten und Anekdoten, die das Buch interessant machen auch für Leute, die schon andere Janis-Biografien kennen. Pflichtlektüre ist es nicht, aber sauber recherchiert ist es, und im Zusammenhang mit anderen Janis-Biografien ergibt sich ein insgesamt stimmiges Bild einer einmaligen, aber hochgradig zerrissenen Persönlichkeit, die wohl immer auf der Suche war, aber selbst nicht wussste, wonach.

 

Holly George-Warren
Janis — Her Life And Music
Simon & Schuster 2019,
ISBN 9-781476-793108

2020 15 Mai

Alles in Allem

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Ich hatte es ja schon nicht mehr für möglich gehalten, aber die beste Band Deutschlands hat tatsächlich noch einmal ein Album aufgenommen, nachdem das „Auftragswerk“ über den Ersten Weltkrieg, Lament im Jahr 2014 als das abschließende Experimental-Epos einer facettenreichen, über 30 Jahre sich ziehenden Diskografie dastand, und dann nur noch „Greatest Hits“-Tourneen folgten, und das bei einer Band, die ja nie Hits hatte, also war das nun Ironie oder was? Ich war nie bei einem Konzert der Einstürzenden Neubauten, aber alle, die ich kenne, die die Band in den letzten zehn Jahren im Konzert erlebt haben, sei es bei dem Lament-Lärmspektakel oder der „Greatest Hits“-Tour, die letztlich, wie bei Bands über 30 ja üblich, seit mindestens zehn Jahren in jedem Konzert eine zu 80 bis 90 Prozent identische Setlist spielten, ja, die Freunde von mir äußerten sich positiv über die Konzerte.

Das letzte eigentliche Album der Einstürzenden Neubauten, Alles wieder offen, erschien allerdings vor knapp 13 Jahren, 2007. Zwischenzeitlich hat Herr Bargeld gleichwohl ein paar wirklich tolle Alben aufgenommen, sei es mit Teho Teardo, (Still Smiling, 2013, ist exzellent) oder mit Carsten Nicolai alias Alva Noto unter dem lustigen Bandnamen anbb, Mimikry (2010), noch großartiger. Bei Blixa Bargelds Projekten, speziell auch „den Neubauten“ kommt doch zuverlässig jedes Mal die Sorge auf, dass man enttäuscht wird. Warum eigentlich? Und dann wird man jedes Mal doch von der erwarteten Enttäuschung enttäuscht – so auch diesmal: Alles in allem ist tatsächlich wieder großartig.

Im Vorfeld dieses neuen Albums habe ich mir wieder einmal die letzten Neubauten-Alben angehört, etwa Silence is sexy, Perpetuum Mobile und Alles wieder offen, die drei „regulären“ Alben der 2000er. Sie sind noch immer keinen Deut langweilig oder enttäuschend geworden, sogar nach wie vor durchgehend überzeugend und voller Höhepunkte. Erwartungsgemäß knüpft Alles in allem dort an, nicht bei Lament, es geht noch ruhiger zu als bisher, geradezu balladesk. Interessant bei den Einstürzenden Neubauten finde ich auch immer wieder, dass man meist denkt, „das sind doch alles total normale Klänge und Instrumente, wo sind denn nun die einstürzenden Dinge und die experimentellen Geräusche?“, und dann liest man das Kleingedruckte durch, und entdeckt wieder die abwegigsten Gerätschaften, oftmals metallischer Natur, aber diesmal waren auch erstaunlich viele konventionelle Instrumente beteiligt, und die Metalle und anderen Geräte sorgen wieder für wunderbare Klangschichten, wenn auch nicht mehr so wunderbar eindrucksvoll wie bei „Greatest Hits“ wie Die Befindlichkeit des Landes oder Alles, die Klänge und Metalle brauchen wirklich niemandem Angst zu machen, der bei dem Bandnamen noch immer an den Krach der ersten drei, vier, fünf Jahre der Neubauten denkt. Selten wird es hier noch laut oder geräuschig, etwa bei Zivilisatorisches Missgeschick, und viele Berlin-Verweise sind wieder zu finden, allerdings legt Bargeld im Interview Wert auf die Feststellung, dass man doch Abstand davon genommen habe, ein Berlin-Album zu produzieren, weil das ja eh alle machen oder, naja, so richtig verstanden habe ich eigentlich auch nicht, was er da sagte, aber das ist voll in Ordnung, das gehört dazu, ich interpretiere, man habe vielmehr ein Berlin-Album mit Berlin als Leerstelle produziert. Eigentlich wiederum verstehe ich bislang jedes Neubauten-Album so. Silence is sexy (2000) schien eine Art Resümee des Berlin der Neunzigerjahre abzubilden, und wenn man (als Berliner) das heute hört, merkt man, wie sehr sich die Stadt in den tatsächlich 20 Jahren seither verändert hat. 2000 war nebenbei bemerkt auch das Jahr, in dem ich nach Berlin gezogen bin, also irgendwie passt das mit dem Grundgestus des Albums Silence is sexy zusammen; dieses Album hat für mich immer irgendwie gut vergegenwärtigt, wie Berliner, die schon länger vor Ort waren, die Stadt genau damals, ums Jahr 2000, erlebt haben und was zu jenem Zeitpunkt mit dem Ende der in Berlin umwälzenden 1990er der Stand war. Damals wurde ja auch der komplett neu gestaltete „Potsdamer Platz“ eröffnet, zuvor „die größte Baustelle Europas“, wo dann auch die Filmakademie (DFFB) ihre neuen Räumlichkeiten eröffnete (vom weiter im Westen gelegenen Theodor-Heuss-Platz herüber in die Ganz Neue Mitte gezogen), also war ich dann als Student dort Jahre lang neu-mittendrin. Und heute ist der Potsdamer Platz schon wieder ein alter Hut, vieles steht leer oder soll raus, und der „Platz“ (der eigentlich keiner ist) wird von keinem Berliner gerne gesehen (angeblich ist er ein Touristenanziehungspunkt, aber das ist irgendwie schräg, denn es gibt und gab dort nie etwas zu sehen).

20 Jahre Berlin, 40 Jahre Einstürzende Neubauten – wenn auch, selbstredend, manchmal von Besetzungswechseln geprägt, fehlt doch leider schon lange der spannende FM Einheit. Gegründet wurden die Neubauten, so geht die Legende, mit einem Auftritt am 1. April 1980, und ich weiß, dass sie in jenen Tagen auch in der Wohnung von Rosa von Praunheim spielten, das schrieb er auch in einem seiner zahlreichen autobiografischen Bücher; Rosas Wohnung, in der er seit den 70er Jahren lebt, war oft eine Begegnungsstätte typischer Berlin-Figuren aller Art. Ich habe, als ich nach Berlin kam, rund zweieinhalb Jahre als persönlicher Assistent für Rosa gearbeitet, und wie es der Zufall will, hatte ich gerade letzte Nacht einen Traum, in dem Rosa vorkam. Also, eigentlich kam er, glaube ich, nur insofern vor, dass er nicht mehr lebte. Und als ich aufwachte, war ich mir erst nicht sicher… lebt er nicht mehr? Nein, er geht zwar zügig auf die 80 zu, aber macht nach wie vor Filme und ist Teil der Berliner Kulturszene.

Es ist allein schon großartig, dass die Einstürzenden Neubauten im Jahr 2020 unverhofft noch einmal ein Album herausbringen. Der Titel „Alles in allem“ lässt befürchten, dass es nun wirklich das letzte sein wird. Es enthält keine „Hits“ – im Gegensatz zu den oben genannten drei Alben, die voll solcher Stücke sind, und in den 1990ern gab es auch nur zwei reguläre Alben, Tabula Rasa (1993) und Ende Neu (1996), die nicht ganz so herausragend sind wie die der 2000er (oder die der Achtziger bis zum genialen Haus der Lüge, 1989), bieten aber immer noch ein paar Höhepunkte. Kein Lärm, keine Hits, keine Überraschungen? Vielleicht ist zumindest überraschend, dass Alles in allem ein außergewöhnlich gutes Album ist. Wieder.

 
 

Am 28. April erlebte ich auf norddeutschen Strassen mein blaues Wunder. Mit einem alten Navi ohne Erkennung von Staus und Umleitungen fuhr ich nahe Husum im Kreis, und noch einmal im Kreis, die B5 war in Richtung Niebüll gesperrt, kein Taxi, kein Mensch, keine Tankstelle weit und breit. Ich war genervt. Schliesslich fuhr ich den längsten Umweg ever, zurück nach Hamburg, und dann auf der A7 wieder nordwärts in grossem Bogen, an Handewitt vorbei, bis zur Polizeikontrolle vor dem Sylt-Shuttle. Es sollte nicht die einzige Begegnung mit einer Ordnungsmacht an diesem Tag gewesen sein. Ich kam auf meiner Irrfahrt auch an Neustadt vorbei, der angeblichen Heimat der hier im Rahmen der grossen Mana-Krise aufgetauchten „doppelten Clara“, die damals recht tendenziös das dynamische Geschehen kommentierte. Mit ihr hätte ich gerne einen Kaffee getrunken. Woran man bei Irrfahrten immer so denkt. Schliesslich kam ich am Ort der Bestimmung an. Nichts dokumentiert die Einsamkeit einer Insel so sehr, wie ein verlassener Parkplatz vor der „Sansibar“. Das obige Bild entstand am 28. April um 18.26 Uhr. Kurz bevor ich drei Insulaner-Paare zum munteren Strandkorb-Gelage traf, unter Wahrung aller Sicherheitsauflagen. Das Foto meines köstlichen Züricher Kalbsgeschnetzelten lasse ich aus Gründen der Reduktion aufs Wesentliche unberücksichtigt. Mancher Zeitgenosse wird sich fragen, was ich denn hier mitzuteilen gedenke. Nun, ich hatte schon zu Schulzeiten einen Sinn für das Absurde Theater, und diese Anreise hatte einiges davon zu bieten. Und der Tag warf einen langen Schatten. Gestern bekam ich einen Anhörungsbogen aus dem Kreis Dithmarschen. Mir wird vorgeworfen, am 28. April um 12.42 Uhr nahe Hemme und Karolinenkroog auf der vermaledeitem B5 eine beträchtliche Verkehrsordnungswidrigkeit begangen zu haben. Ich soll die zulässige Höchstgeschwindigkeit ausserhalb geschlossener Ortschaften, abzgl. der Toleranz, um 30 km/h überschritten, und mit 130 km/h durch die Lande gebraust sein. Ich sah keinen Blitz, und wenn dies so war, dann weiss ich nur, dass dadurch weit und breit keine Gefahrensituation heraufbeschworen wurde. Es war der erste Tag des neuen Sündenkataloges. Ich werde mein Bussgeld zahlen und ein Fahrverbot für einen Monat erhalten. Ich werde den September wählen und meinen Führerschein zu gegebener Zeit per Einschreiben dem Ordnungsamt in Heide zukommen lassen. Vielleicht fahre ich dann mit meinem E-Bike vier Wochen durchs Weserbergland. Mit einem Sloterdijk, und dem jüngsten Handke im Gepäck. Auf den Schreck legte ich erst einmal die mir gerade zugegangene Kraftwerk 3D Blu Ray ein, und hörte „Autobahn“ im Sensurround. Mit den entsprechenden bewegten Bildern auf der Leinwand.

 

Discourses is Jon Balke‘s third solo piano album. With the second one, the wonderfully seductive Warp, sound processing & sound design enter the field – a subtile undermining of the piano‘s purity. The Norwegian composer (b. 1955)  is a member of the „ECM family“ since the early years, with his first appearance on Arild Andersen‘s album Clouds In My Head (1974). Let‘s skip his broad range of works as a leader since the days of Nonsentration (1991) and come to the here and now. When I first heard the new album, I immediately sensed that it was not Jon‘s idea to simply add more colours to the sensual palette of Warp. I felt urgency, anger, ruptures. There is something faithful though, a sense of mystery wrapped around melodic figures. Discourses is a very special record.

 
 
 

 
 

Do you agree when I say, Discourses is the „dark sister“ of Warp? It is a very dense work.

 

I sincerely don´t want to direct how people hear this album, and I am happy to hear totally different and opposite interpretations of the music. But, yes, it is connected to Warp and also to Book of Velocitites (2007) in the sense that it explores the same situation, which is the solo artist and the surroundings (Book of V playing to an empty room, Warp playing to a world that starts to respond). And then I have tried to make Discourses a more focused album than the previous two, in the sense that it explores a smaller field of dynamics and tonal concepts. More focus on micro-details. So a detour into a smaller space, in a way.

 

Of course in these days new albums are often linked with Covid 19. Thus, nearly automatically, when looking at the cover, I imagined some early social distancing exercise. When listening to the album I had the impression of a kind of fight going on between uncompromised self-expression and a threatening counter-force of some kind. Am I wrong?

 

No, you are right, absolutely. I am concerned with society and political developments, and do not make music in a vacuum. And, since this music had language and rhetoric as direct inspiration, the music is a reaction to the deterioration of language in political discourse. In a way the Covid crisis highlights this even more, with the desperate press conferences we see too often by leaders who have made catastrophical choices all the way into this disaster. I took the cover photo on a morning square in Malmo, Sweden, and made a series of the same theme that I the crossfaded with each other into a slow-mo movie, because the light was good and the people moving isolated in their own world.

 

The new album is somehow inspired by language, but words themselves are absent.

 

I am attracted to the music of language in rhetoric, and dayly speech: how we use tonality and flexible, non-metric rhythm to express as precisely as possible what we want to say. We pause, we rush, we punctuate, we climb in pitch. Also how we make a statement, debates it, argue for it, return to it, conclude. The solo speech is a good school for solo piano playing.


Discourses will be released tomorrow. How do all these strange sounds care for additional suspense without interrupting the flow of listening? What has been the role of producer Manfred Eicher in the final mix? How come this „smaller space“ is opening up again and again? You can hear other parts of my interview with Jon Balke during the radio night of „Klanghorizonte“ on June 20, and as part of the „Jazz Facts“ on July 5 (Deutschlandfunk).

 

„Eine Mannschaft ohne Abenteurer ist wie ein Land ohne Poesie.“

(Menotti, Fussballphilosoph)

 

„Und in Erinnerung bleiben die Teams, die mit gutem Spiel gewonnen haben … und nicht die Bastarde der modernen Kultur, die Fussball als reine Ware betrachten.“

(dito)

 

Wenn ich ihn sehe, dann immer an der Hand unserer Mutter. Wenn ich ihn spüre, dann durch seine verschwitzte Hand, die mich den Berg hinaufzog. Wir waren 12, er 14, seine Freunde waren die Söhne der Helden vom „Wunder von Bern“. Fritz Walter war unser Fussballgott. Wir stiegen mit erregtem Gemüt und viel Gaudi hinauf zum Betzenberg, so wie wir später in die Tempel- und Konzertarenen zogen. Wir waren wild things. Wir pendelten zwischen Ottmar Walter’s Kino und der roten Hölle. In K-Town gab es immer eine nervöse Spannung wegen der anwesenden Garnisonen. Auf dem Peak in der Westkurve konnten sich solche Emotionen gefährlich entladen. Günther Netzer: „Da war man schon in grösserer Gefahr.“ Fritz Walter gab den roten Teufeln die Farbe, er spielte während des 2. Weltkriegs bereits in der Soldatenmannschaft „Rote Jäger“. Es waren er und später Sepp Herberger, die den 1. FCK beziehungsweise die Nationalmannschaft geformt hatten. Zu seinem 65. Geburtstag taufte man den Platz auf seinen Namen: Fritz Walter Stadion.

Wenn ich mir meine Leidenschaft für Fussball erklären will, treten rationale Bezüge vollkommen in den Hintergrund. Es sind ganz grosse Gefühle, die ich mit dem „Betze“ verbinde: das Bruder/Schwester Ereignis,  die zarten Küsse meiner ersten Liebe,  die ausgelassene Freude über das 7:4 gegen die Bayern oder 5:0 gegen Madrid. Es sind die Überraschungen, die als 6. grundlegendes Element der Emotionen der Ratio den Platz verweisen. „Take my hand –  life is what happens to you while you’re busy making other plans …“ (John Lennon).

Mein letztes Highlight auf dem Betzenberg war das WM Spiel 2006. Die FIFA hatte mit dem Letzten noch Lebenden der Waltermannschaft, Horst Eckel, einen teuflischen Deal ausgehandelt. Er holte die saudische Mannschaft ins Stadion nach K Town, wo sie gegen die Spanier vor deren König aufliefen.

Ich hatte Tickets für meine Kursteilnehmer aus Saudiarabien von deren Botschafter geschenkt bekommen. Spanien gewann knapp mit 1:0. Nach dem Spiel zogen wir eingehüllt in die islamgrünen Nationalflaggen hinunter zum Marktplatz, wo ich ihnen die Erfolgsgeschichte des 1.FCK erzählte: 4 mal Deutscher Meister, 2 mal Pokalmeister und Fritz Walter, unser Lauterer Bub, erzwang mit seinen Jungs das Glück, am Ende kamen sie als Weltmeister zurück.

Ich zeigte ihnen die Stadt mit dem zu gross geratenen Stadion. Ich beschrieb ihnen, wie die ersten Männer mit Schaufel die Erde vor ca.100 Jahren umgruben. Wie 2002 der Umbau zum WM Stadion erfolgte, der den Niedergang des Clubs bereits ein Jahr später anzeigte. Alle Kredite und Sponsorengelder führten nicht dazu, dass der 1. FCK sich in der 1. Liga halten konnte. Heute spielt er in der 3. Liga, manchmal vor ausverkauftem Stadion, das heisst: vor fast 50.000 Zuschauern. Da bebt es in der Westkurve: wenn der Morgen erwacht und die letzten Schatten vergeh’n, sieht man den FCK wieder oben steh’n.

 

2020 12 Mai

7 1/2 x Kraftwerk

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Ich habe Kraftwerk siebeneinhalbmal auf der Bühne gesehen:
 
 

  • 1971 in der Fabrik in Hamburg;
  • im Sommer 1972 im Weserbergland;
  • Ostern 1974 in der Ernst-Merck-Halle in Hamburg als Headliner eines Deutschrock-Festivals;
  • für den Oktober 1975 hatte ich Karten für die erste Reihe in der Musikhalle Hamburg, aber das Konzert wurde wegen zu schlechten Vorverkaufs abgesagt;
  • 1981 in der Musikhalle;
  • im November 1991 sah ich sie im Docks an der Reeperbahn;
  • im März 2004 im CCH (Hamburg);
  • im April 2012 bei der Eröffnung ihrer Videopräsentation im MoMA PS1 in New York (das war das halbe Mal);
  • und im März 2014 im Riviera in Chicago, IL.

 
 
Ich könnte nicht sagen, welches Konzert „das beste“ war. In gewisser Weise war jedes davon speziell.

1971 war ich 15 und hatte die Band noch relativ frisch entdeckt. Ich erinnere nur noch wenig. Ich meine, sie waren zu zweit. Hätte ich damals gewusst, dass ich fünf Jahrzehnte später darüber schreiben würde, hätte ich mir Notizen gemacht, und Digitalkameras hatten wir auch noch nicht. Damals war die Band noch eine von vielen Krautrockbands auf der Suche nach einer gewissen Bekanntheit, aber es war nicht absehbar, was aus denen mal werden würde.

1972 habe ich die Band während unseres Familienurlaubs in einem Jugendzentrum irgendwo im Weserbergland gesehen. Es könnte in Höxter gewesen sein, Michael Rother hat bestätigt, dass sie da mal gespielt haben. Es kann aber auch in Karlshafen gewesen sein; ich bin ziemlich sicher, dass heute niemand mehr genau weiß, wo man damals überall aufgetreten ist. Das Weserbergland war mir wohlvertraut aus diversen Familienurlauben in einem Nest namens Wahmbeck, ich habe diese wunderschöne Gegend aber auch mal drei Wochen lang mit meiner Pfadfindergruppe durchwandert. Auch das müsste 1972 gewesen sein. Ich erinnere noch das außerordentlich geschmacklose Konzertplakat, das überall klebte (ich bilde es hier nicht ab). Ich meine mich zu erinnern, dass Kraftwerk zu dritt auf der Bühne waren, Ralf, Florian und ein Bassgitarrist, sicher bin ich mir da aber nicht. Dazu gab es Diaprojektionen, aber keine Fotos, sondern einfach nur Farbflächen.

Bei diesen beiden frühen Konzerten war Kraftwerk noch eine komplett andere Band als später. Aber sie war seltsam, arbeitete irgendwie mit Elektronik und Klangeffekten, und die meisten Leute verstanden nicht, was das alles überhaupt sollte – Grund genug für mich, die Band zu lieben.
 
 

 
 
Das Osterfestival 1974 in der Hamburger Ernst-Merck-Halle, einem Bruchschuppen, in dem sonst Boxkämpfe stattfanden, war denkwürdig. Autobahn war noch nicht erschienen, Ralf & Florian war das noch aktuelle Album. Kraftwerk war der Headliner des ersten Tages, weil aber alle anderen Bands ihre Zeit überzogen und die noch unerfahrenen Veranstalter die Zugaben und Umbaupausen unterschätzt hatten, konnte Kraftwerk überhaupt erst gegen halb elf beginnen. Ralf und Florian hatten nicht mal einen Roadie, sie bauten ihre Anlage selbst auf und fingen dann ohne weitere Umstände an. Nach einer Weile gesellte sich ein dritter Mann hinzu und klöppelte mit an Stricknadeln gemahnenden Sticks auf einem seltsam aussehehenden Pult, dem er damit elektronische Drumsounds entlockte. Er wurde nicht vorgestellt, aber es kann nur Wolfgang Flür gewesen sein. Die drei hatten gerade mal 30 Minuten gespielt (ständig unterbrochen von „Ruckzuck!“-Rufen einiger betrunkener Typen, die die Musik ohnehin zum Kotzen fanden), als plötzlich das Saallicht eingeschaltet wurde. Ich erinnere noch Ralf Hütters schüchterne Bitte, man möge es doch bitte wieder löschen. Es blieb an, und dann begannen die Ordner, das Publikum hinauszuwerfen: Die Halle hatte um 11 Uhr leer zu sein. Kraftwerk spielte weiter, für’s Reinigungspersonal (ich vermute, hätten sie es nicht getan, sie wären nicht bezahlt worden). Wir standen vor einem Seiteneingang und hörten durch die offene Tür noch eine Weile zu.

Es muss nichts mit diesem Auftritt zu tun gehabt haben, aber Kraftwerk ist danach jahrelang nicht mehr in Deutschland aufgetreten.

Für das Konzert, das im Oktober 1975, nach dem großen Autobahn-Erfolg in der Musikhalle stattfinden sollte, hatte ich Karten — erste Reihe! Das Konzert wurde wegen mangelnden Vorverkaufs abgesagt, wie überhaupt große Teile der Tournee in Deutschland. Das Konzertplakat habe ich mal irgendwann später auf einem Flohmarkt gefunden, es ziert heute gerahmt unser Wohnzimmer.
 
 

 
 
1981, mit der Veröffentlichung des Computerwelt-Albums, standen die Kraftwerker im Zenit ihrer Kreativität und Begeisterung. Wiederum hatte ich Karten für die erste Reihe in der ehrwürdigen Musikhalle. Die Bühne sah nun aus wie die Kommandokanzel des schnellen Raumkreuzers Orion; es ist zu sehen im Video zu „Das Model“ — die Konzertszenen stammen aus dem Hamburger Auftritt, ich sehe Emil Schult noch mit der Kamera auf der Schulter herumlaufen. Das gesamte Bühnenbild und der dramaturgische Ablauf waren auf Überwältigung getrimmt, und das hat funktioniert. Erstmals gab es auch Videoprojektionen. Der Sound in der Musikhalle war großartig, und die Band hinterließ ein glückliches Publikum. Eines der Konzerte, die ich nie vergessen werde.
 
 

 
 
Zehn Jahre lang traten Kraftwerk dann nicht mehr auf. Im November 1991 waren sie wieder da. Aus irgendwelchen Gründen war an diesem Abend Hamburgs Goth-Gemeinde vollzählig im Docks angetreten. Karl Bartos und Wolfgang Flür hatten die Band inzwischen verlassen, waren durch mir unbekannte neue Leute ersetzt worden, und überhaupt schien sich Kraftwerk in einer Art Übergangsphase zu befinden. Zwar war die Show nicht viel anders als schon zehn Jahre zuvor, allerdings fiel die Tendenz auf, Ideen bis zum Gehtnichtmehr auszuwalzen. Zudem war offenkundig, dass die vier nicht auf bestem Fuß mit ihrem Equipment standen, das zu diesem Zeitpunkt um ein Synclavier herumgestrickt war.
 
 

 
 
Als ich Kraftwerk 2004 wiedersah, hatten sie die Zeit zur kompletten Neugestaltung der Bühne genutzt. Die Herren traten jetzt im dunklen Anzug auf wie ein Streichquartett, die Keyboards waren ersetzt durch Laptops, die Show basierte jetzt hauptsächlich auf Videoprojektionen. Die Tendenz, die Ideen zu lange auszuwalzen, war zwar immer noch vorhanden, aber der Sound hatte jetzt einige Quadro-Effekte und gehörte zum besten, was ich je gehört hatte — und in der akustisch schauderhaften Beton-Umgebung des CCH-Saales 3 will das etwas heißen. Das Konzert war nicht ausverkauft, ein anscheinend vorgesehenes Mitternachtskonzert fand nicht statt. Einen Tag später hörte ich Hilary Hahn in der Musikhalle – umgekehrt wäre wohl besser gewesen.
 
 

 
 

2012, inzwischen hatte ich Deutschland verlassen und lebe seither in den USA. Die Präsentation der Katalog-3D-Konzertreihe im Museum of Modern Art in New York musste leider ohne meine Anwesenheit stattfinden — jeder Kraftwerk-Fan wird sich an das Vorverkaufschaos erinnern. Immerhin war ich aber in der Lage, der Eröffnung der Video-Show im MoMA-Ableger PS1 beizuwohnen. Die entpuppte sich allerdings als eine latent enttäuschende Angelegenheit — eine Art Iglu im Hinterhof, darin acht im Kreis um ein großes Sitzkissen herumarrangierte Videoschirme, die dieselben Videos zeigten, die auf der Bühne liefen. Die Tonqualität war unbefriedigend mulmig, die Videos waren nicht einmal 3D-Projektionen.
 
 

 


 
 
 

 
 
Sehr viel spannender war eine Installation in einem anderen Raum des PS1: Thomas Tallis‘ vermutlich um 1543 herum entstandene Motette Spem in Alium für acht Chorgruppen zu je fünf Stimmen, die im Kreis um das Publikum herum angeordnet werden sollen. 40 Lautsprecher standen hier nun kreisförmig im Raum, jeder einzelnen Stimme war ein Lautsprecher zugeordnet. Man konnte von Lautsprecher zu Lautsprecher gehen und jeder einzelnen Stimme zuhören. Faszinierend.

Für mich war die Show 2014 im Riviera (einem ehemaligen Kino) in Chicago die erste Gelegenheit, Kraftwerks 3D-Show in Augenschein zu nehmen.
 
 


 
 
 

 
 
Es war immer noch alles da, was man von Kraftwerk erwartet — die kristallklaren Visuals, der Retrofuturismus, die kühle Präsentation; eher Performance-Art als Konzert. Am Anfang packt einen der 3D-Effekt, manchmal ist er wirklich verblüffend, beispielsweise, wenn Nummern durch die Luft schießen oder das Spacelab zur Landung in der Halle anzusetzen scheint. Im Laufe des Abends allerdings nutzt sich der Effekt ab — man kann ein Publikum nicht zwei Stunden lang mit 3D-Effekten in ständiges Erstaunen versetzen. Einige der neuen Videos sind leider schlicht langweilig (insbesondere einfallslos sind jetzt Trans Europe Express und Neon Lights, früher zwei ihrer magischsten Tracks). Der Sound war verblüffend unbefriedigend — unbalanciert, zu viel Bass, streckenweise war der Gesang kaum zu hören, es gab einige Quadro-Effekte, aber irgendwie gingen sie verloren.

Es ist ziemlich witzlos, über eine Kategorie wie „live“ zu philosophieren, wenn die Hauptinstrumente Computer sind. Dies war keine „Playback-Show“, mit Sicherheit nicht. Die Künstler tun irgendetwas auf der Bühne. Nach meinem Eindruck ist das Ganze eine Art Halbplayback, das ihnen die Möglichkeit zum Mitspielen gibt, und mit dem sie interagieren können, etwa, indem sie Echo- oder Filtereffekte hinzufügen. Einige böse Fehler fielen auf; so kam etwa der Gesang in The Man Machine durch das ganze Stück hindurch eine Viertelnote zu früh, gelegentlich erschienen kurz auch falsche Videoausschnitte.
 
 

 
 
Von der Bühne aus gesehen muss es seltsam sein, in hunderte von Gesichtern mit der 3D-Pappbrille auf der Nase zu schauen. Das Konzert war routiniert. Wie auch immer, das Publikum war happy, wir sahen erstklassige Unterhaltung. Alle Begeisterung allerdings kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kraftwerk, so wie sich die Band heute präsentiert, im wesentlichen Ralf Hütters Nostalgiezirkus ist. Aber das ist immer noch eine Menge.

Was man im Laufe eines Lebens so mit einer Band verbindet … Karten für das Juli-Konzert in der Radio City Music Hall New York sind bereits gekauft, aber wer kann sagen, ob und wann der Auftritt stattfinden wird … Das Wichtigste ist allerdings dies: Auf der (inzwischen längst eingeschlafenen, damals aber sehr aktiven) E-Mail-Liste über Kraftwerk, auf der sich Fans über Konzerte und sonstigen Kraftwerk-Klatsch austauschen konnten, habe ich meine Frau (Amerikanerin) kennengelernt. Und ohne sie wäre ich heute nicht in Pittsburgh.

Danke, Kraftwerk, danke, Florian.

2020 12 Mai

Cooler Zeitreisen-Rock

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Bobby Conns neues Album gefällt mir total gut. Weder  mein Tee noch meine Baustelle. Eigentlich. Der Mann des Jahrganges 1967 ist schon so lange im Geschäft, aber nun endlich habe ich ihn in meine Plattensammlung aufgenommen. Unberechenbarkeit galt stets als sein Merkmal, und dies mag die erstaunliche Retro-Vielfalt von „Recovery“ bestätigen. Er schwankt zwischen unbeschwertem Punk-Funk, Pastiche-Synthie-Pop aus den Achtzigern, Pulp-Art-Indie (vor allem bei auf dem Song „Disaster“), psychedelisch leichtem Easy Listening und manchmal einer Fusion aller vier auf einmal. Man kann nicht nur von Brian Eno, sondern auch von Bryan Ferry einiges lernen – zum Beispiel, wie man artifizielle Posen nutzen kann, um in den Texten knallharte Abrechnungen zu platzieren. Das Hamburger Label Tapete hat jedenfalls mit Bobby Conns musikalischem Genesungsprogramm einmal mehr ein As aus dem Ärmel geschüttelt. Ein Outsider, der uns etwas mehr über uns und unser Leben erzähken kann, als die üblicherweise behypten Zeitgeister. Kann man mit bestem Wissen (und verdammt gutem Gefühl) neben die neue Schallplatte von Tim Burgess platzieren, nur dass letzterer etwas mehr von Brian Eno („Here Come The Warm Jets“ kann Tim B. 
wahrscheinlich mitsingen) und Robert Wyatt in seinem Plattenschrank führt. Wenn Sie mal Lust auf gleich zwei herrlich schräge Vögel haben … you‘re welcome!

 

2020 12 Mai

Muthspiel 2

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Weil ich das Stück „Camino“ nicht unter Manafonistas vorstellen möchte (ein Handgriff, der sich seit der Anfangszeit des Blogs oft als nützlich und unproblematisch bewährt hatte, zunehmend aber zu Verwirrung und auch Unbehagen hinsichtlich nicht nachverfolgbarer Autorenschaft führte und deshalb nun eine Zeitlang brach liegen sollte), hier eine kurze Begleitnotiz, direkt und frech in die Tastatur getippt – zu diesem wieder einmal vorzüglichen Vortrag des Österreichers. Wenn einem zu einem Thema etwas einfällt, und zu solcherlei Gitarrenspiel fällt mir eine Menge ein, dann geraten die Dinge ja generell wie Dominosteine ins Purzeln. Jegliche Schreibhemmung (little reference to Shining) wird auf den nächsten Tag verschoben und jede Latte, die zu hoch gesteckt war, fällt herab und verliert so ihren Schrecken. Klassische Gitarrenmusik interessiert mich ja relativ selten, umso mehr aber der typische Klang einer Konzertgitarre in anderen Musikbereichen, sei es Jazz, Folklore oder Bossa Nova. Muthspiels Spiel ist diesbezüglich paradigmatisch. Es hat einen Anklang an die Klassik, ist aber etwas Anderes – es ist, wie wir Anglophilen sagen: far more thrilling.

 


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