Ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, stand im Fahrradkeller und blickte mich um. Mein schilfgrünes Rad, das ich so liebte, weil die Übersetzung des einzigen Ganges einfach perfekt war, lehnte gegen eine weißgekalte Mauer. Immer, wenn ich die Mauer berührte, waren meine Hände mit einer knochenfarbenen feinen Staubschicht überzogen, und es war nicht so gut, die Hände dann an der Hose abzuwischen. Ich war jeden Tag mit dem Rad unterwegs und ich suchte am liebsten Feldwege auf, die nicht asphaltiert waren. Es gab nur ein paar davon. Ich hatte den Hausschlüssel in der Hand, und ich überlegte, wie es wäre, wenn ich einfach abhauen würde. Ich fühlte mich auf eine Art einsam, die ich immer noch gut nachfühlen kann, und wie in einem System gefangen und ich fragte mich instinktiv, was die Freiheit, die in unserem westlichen Gesellschaftssystem so hoch gehandelt wurde, praktisch bedeutete. Später stand auf meinem großen Wanderrucksack „born to be wild“. Anfang der Neunziger war ich mit P losgezogen Richtung Wales. Per Mitfahrgelegenheit gelangten wir bis auf die britischen Inseln. Der Mann und die Frau, denen das Auto gehörte, tranken in jeder Pause Bier und abends bekifften sie sich. Wir hatten nichts gebucht, weder Unterkunft noch Fähre, und schlugen das Zelt am Ufer von Flüssen auf. P rauchte Benson & Hedges, und er mochte es nicht, wenn ich einfach nur mal einen Zug nehmen wollte; er wollte die Zigarette für sich allein. Der Blick war frei bis zum Horizont, das Gras wuchs hoch, die Felder waren kurz vor der Ernte, sie waren voneinander abgetrennt durch Gatter aus dunklem Holz, auf denen wir sitzen und ausruhen konnten. Es war etwa in dieser Zeit, als Jon Krakauer eine kurze Notiz in der New York Times las. Ein Wanderer war im Denali Nationalpark in Alaska nahe des Wentitikasees in einem ausrangierten Schulbus von Elchjägern tot aufgefunden worden. Er hatte tagebuchartige knappe Skizzen und einen Abschiedsbrief hinterlassen. Sein Name war Christopher McCandless. (Er war im gleichen Jahr wie P geboren.) Krakauer, der selbst im Alter von 23 Jahren drei Wochen allein in Alaska verbracht hatte, begab sich auf das intensivste Schreibabenteuer seines Lebens. Das Buch Into the Wild erschien im Jahr 1996. Sean Penn entdeckte es in einer Buchhandlung in einem Innenhof in Brentwood, L.A., er las es in einer Nacht und erkundigte sich am nächsten Morgen nach den Filmrechten. Into the Wild kam elf Jahre später, 2007, in die Kinos. Als ich selbst Anfang 20 war, hatte ich den Eindruck, dass Männer in dem Alter (jedenfalls die, die ich kannte) etwas Verbohrtes und Unbedingtes an sich haben. Sie hatten vielleicht endlich ein Ziel für sich definiert, es liegt jedoch in der Ferne. Sie wollen etwas verkörpern, was sie nicht sind. Und steht die Zahl 23 nicht in Verbindung mit Verschwörungstheorien und unerklärlichen Flugzeugabstürzen? Christopher McCandless fand seine Träume in Büchern. Es ist die klassische Outsiderlektüre, heute nennt man es Nature Writing und es ist hip.
Ein intelligenter junger Mann aus einer Mittelstandsfamilie mit sehr guten Abschlussnoten macht nicht mehr mit, steigt aus, verweigert sich dem System. Er zerschneidet alle Ausweise, wirft das Familienfoto, das er im Geldbeutel hatte, in den Papierkorb, er spendet seine Ersparnisse einem wohltätigen Zweck, verbrennt seine letzten Dollarscheine und hält Karriere für eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Ein krasses Abenteuer. Als ob das Innere der Seele ein Paar abgetragene Wanderschuhe sind: Auf einem Hügel zu stehen, Wildnis bis weit, weit über den Horizont, der Ruf des American spirit, von der Kamera umkreist. Über den Film möchte ich nicht mehr sagen, als dass nicht nur die Landschaftsaufnahmen von grandioser Schönheit sind. Vor allem die Schnitttechnik ist auffallend ausgezeichnet. In der Bildbearbeitung wird mit slow motion Effekten gearbeitet und Rückblenden sind mit Super 8 gedreht, was die Authentizität unterstreicht, auch wenn der Film trotz der beratenden Mitwirkung der Eltern und der Schwester von McCandless keinen Anspruch auf einen dokumentarischen Charakter erhebt. In Alaska schmilzt im Sommer das Eis auf den Bergen, die Ströme verbreitern sich. Der letzte Satz, den Christopher McCandless schrieb, lautete: „Happyness is the most important thing, only real when shared.“