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2020 12 Mai

7 1/2 x Kraftwerk

von: Jan Reetze Filed under: Blog | TB | Tags:  | 3 Comments

Ich habe Kraftwerk siebeneinhalbmal auf der Bühne gesehen:
 
 

  • 1971 in der Fabrik in Hamburg;
  • im Sommer 1972 im Weserbergland;
  • Ostern 1974 in der Ernst-Merck-Halle in Hamburg als Headliner eines Deutschrock-Festivals;
  • für den Oktober 1975 hatte ich Karten für die erste Reihe in der Musikhalle Hamburg, aber das Konzert wurde wegen zu schlechten Vorverkaufs abgesagt;
  • 1981 in der Musikhalle;
  • im November 1991 sah ich sie im Docks an der Reeperbahn;
  • im März 2004 im CCH (Hamburg);
  • im April 2012 bei der Eröffnung ihrer Videopräsentation im MoMA PS1 in New York (das war das halbe Mal);
  • und im März 2014 im Riviera in Chicago, IL.

 
 
Ich könnte nicht sagen, welches Konzert „das beste“ war. In gewisser Weise war jedes davon speziell.

1971 war ich 15 und hatte die Band noch relativ frisch entdeckt. Ich erinnere nur noch wenig. Ich meine, sie waren zu zweit. Hätte ich damals gewusst, dass ich fünf Jahrzehnte später darüber schreiben würde, hätte ich mir Notizen gemacht, und Digitalkameras hatten wir auch noch nicht. Damals war die Band noch eine von vielen Krautrockbands auf der Suche nach einer gewissen Bekanntheit, aber es war nicht absehbar, was aus denen mal werden würde.

1972 habe ich die Band während unseres Familienurlaubs in einem Jugendzentrum irgendwo im Weserbergland gesehen. Es könnte in Höxter gewesen sein, Michael Rother hat bestätigt, dass sie da mal gespielt haben. Es kann aber auch in Karlshafen gewesen sein; ich bin ziemlich sicher, dass heute niemand mehr genau weiß, wo man damals überall aufgetreten ist. Das Weserbergland war mir wohlvertraut aus diversen Familienurlauben in einem Nest namens Wahmbeck, ich habe diese wunderschöne Gegend aber auch mal drei Wochen lang mit meiner Pfadfindergruppe durchwandert. Auch das müsste 1972 gewesen sein. Ich erinnere noch das außerordentlich geschmacklose Konzertplakat, das überall klebte (ich bilde es hier nicht ab). Ich meine mich zu erinnern, dass Kraftwerk zu dritt auf der Bühne waren, Ralf, Florian und ein Bassgitarrist, sicher bin ich mir da aber nicht. Dazu gab es Diaprojektionen, aber keine Fotos, sondern einfach nur Farbflächen.

Bei diesen beiden frühen Konzerten war Kraftwerk noch eine komplett andere Band als später. Aber sie war seltsam, arbeitete irgendwie mit Elektronik und Klangeffekten, und die meisten Leute verstanden nicht, was das alles überhaupt sollte – Grund genug für mich, die Band zu lieben.
 
 

 
 
Das Osterfestival 1974 in der Hamburger Ernst-Merck-Halle, einem Bruchschuppen, in dem sonst Boxkämpfe stattfanden, war denkwürdig. Autobahn war noch nicht erschienen, Ralf & Florian war das noch aktuelle Album. Kraftwerk war der Headliner des ersten Tages, weil aber alle anderen Bands ihre Zeit überzogen und die noch unerfahrenen Veranstalter die Zugaben und Umbaupausen unterschätzt hatten, konnte Kraftwerk überhaupt erst gegen halb elf beginnen. Ralf und Florian hatten nicht mal einen Roadie, sie bauten ihre Anlage selbst auf und fingen dann ohne weitere Umstände an. Nach einer Weile gesellte sich ein dritter Mann hinzu und klöppelte mit an Stricknadeln gemahnenden Sticks auf einem seltsam aussehehenden Pult, dem er damit elektronische Drumsounds entlockte. Er wurde nicht vorgestellt, aber es kann nur Wolfgang Flür gewesen sein. Die drei hatten gerade mal 30 Minuten gespielt (ständig unterbrochen von „Ruckzuck!“-Rufen einiger betrunkener Typen, die die Musik ohnehin zum Kotzen fanden), als plötzlich das Saallicht eingeschaltet wurde. Ich erinnere noch Ralf Hütters schüchterne Bitte, man möge es doch bitte wieder löschen. Es blieb an, und dann begannen die Ordner, das Publikum hinauszuwerfen: Die Halle hatte um 11 Uhr leer zu sein. Kraftwerk spielte weiter, für’s Reinigungspersonal (ich vermute, hätten sie es nicht getan, sie wären nicht bezahlt worden). Wir standen vor einem Seiteneingang und hörten durch die offene Tür noch eine Weile zu.

Es muss nichts mit diesem Auftritt zu tun gehabt haben, aber Kraftwerk ist danach jahrelang nicht mehr in Deutschland aufgetreten.

Für das Konzert, das im Oktober 1975, nach dem großen Autobahn-Erfolg in der Musikhalle stattfinden sollte, hatte ich Karten — erste Reihe! Das Konzert wurde wegen mangelnden Vorverkaufs abgesagt, wie überhaupt große Teile der Tournee in Deutschland. Das Konzertplakat habe ich mal irgendwann später auf einem Flohmarkt gefunden, es ziert heute gerahmt unser Wohnzimmer.
 
 

 
 
1981, mit der Veröffentlichung des Computerwelt-Albums, standen die Kraftwerker im Zenit ihrer Kreativität und Begeisterung. Wiederum hatte ich Karten für die erste Reihe in der ehrwürdigen Musikhalle. Die Bühne sah nun aus wie die Kommandokanzel des schnellen Raumkreuzers Orion; es ist zu sehen im Video zu „Das Model“ — die Konzertszenen stammen aus dem Hamburger Auftritt, ich sehe Emil Schult noch mit der Kamera auf der Schulter herumlaufen. Das gesamte Bühnenbild und der dramaturgische Ablauf waren auf Überwältigung getrimmt, und das hat funktioniert. Erstmals gab es auch Videoprojektionen. Der Sound in der Musikhalle war großartig, und die Band hinterließ ein glückliches Publikum. Eines der Konzerte, die ich nie vergessen werde.
 
 

 
 
Zehn Jahre lang traten Kraftwerk dann nicht mehr auf. Im November 1991 waren sie wieder da. Aus irgendwelchen Gründen war an diesem Abend Hamburgs Goth-Gemeinde vollzählig im Docks angetreten. Karl Bartos und Wolfgang Flür hatten die Band inzwischen verlassen, waren durch mir unbekannte neue Leute ersetzt worden, und überhaupt schien sich Kraftwerk in einer Art Übergangsphase zu befinden. Zwar war die Show nicht viel anders als schon zehn Jahre zuvor, allerdings fiel die Tendenz auf, Ideen bis zum Gehtnichtmehr auszuwalzen. Zudem war offenkundig, dass die vier nicht auf bestem Fuß mit ihrem Equipment standen, das zu diesem Zeitpunkt um ein Synclavier herumgestrickt war.
 
 

 
 
Als ich Kraftwerk 2004 wiedersah, hatten sie die Zeit zur kompletten Neugestaltung der Bühne genutzt. Die Herren traten jetzt im dunklen Anzug auf wie ein Streichquartett, die Keyboards waren ersetzt durch Laptops, die Show basierte jetzt hauptsächlich auf Videoprojektionen. Die Tendenz, die Ideen zu lange auszuwalzen, war zwar immer noch vorhanden, aber der Sound hatte jetzt einige Quadro-Effekte und gehörte zum besten, was ich je gehört hatte — und in der akustisch schauderhaften Beton-Umgebung des CCH-Saales 3 will das etwas heißen. Das Konzert war nicht ausverkauft, ein anscheinend vorgesehenes Mitternachtskonzert fand nicht statt. Einen Tag später hörte ich Hilary Hahn in der Musikhalle – umgekehrt wäre wohl besser gewesen.
 
 

 
 

2012, inzwischen hatte ich Deutschland verlassen und lebe seither in den USA. Die Präsentation der Katalog-3D-Konzertreihe im Museum of Modern Art in New York musste leider ohne meine Anwesenheit stattfinden — jeder Kraftwerk-Fan wird sich an das Vorverkaufschaos erinnern. Immerhin war ich aber in der Lage, der Eröffnung der Video-Show im MoMA-Ableger PS1 beizuwohnen. Die entpuppte sich allerdings als eine latent enttäuschende Angelegenheit — eine Art Iglu im Hinterhof, darin acht im Kreis um ein großes Sitzkissen herumarrangierte Videoschirme, die dieselben Videos zeigten, die auf der Bühne liefen. Die Tonqualität war unbefriedigend mulmig, die Videos waren nicht einmal 3D-Projektionen.
 
 

 


 
 
 

 
 
Sehr viel spannender war eine Installation in einem anderen Raum des PS1: Thomas Tallis‘ vermutlich um 1543 herum entstandene Motette Spem in Alium für acht Chorgruppen zu je fünf Stimmen, die im Kreis um das Publikum herum angeordnet werden sollen. 40 Lautsprecher standen hier nun kreisförmig im Raum, jeder einzelnen Stimme war ein Lautsprecher zugeordnet. Man konnte von Lautsprecher zu Lautsprecher gehen und jeder einzelnen Stimme zuhören. Faszinierend.

Für mich war die Show 2014 im Riviera (einem ehemaligen Kino) in Chicago die erste Gelegenheit, Kraftwerks 3D-Show in Augenschein zu nehmen.
 
 


 
 
 

 
 
Es war immer noch alles da, was man von Kraftwerk erwartet — die kristallklaren Visuals, der Retrofuturismus, die kühle Präsentation; eher Performance-Art als Konzert. Am Anfang packt einen der 3D-Effekt, manchmal ist er wirklich verblüffend, beispielsweise, wenn Nummern durch die Luft schießen oder das Spacelab zur Landung in der Halle anzusetzen scheint. Im Laufe des Abends allerdings nutzt sich der Effekt ab — man kann ein Publikum nicht zwei Stunden lang mit 3D-Effekten in ständiges Erstaunen versetzen. Einige der neuen Videos sind leider schlicht langweilig (insbesondere einfallslos sind jetzt Trans Europe Express und Neon Lights, früher zwei ihrer magischsten Tracks). Der Sound war verblüffend unbefriedigend — unbalanciert, zu viel Bass, streckenweise war der Gesang kaum zu hören, es gab einige Quadro-Effekte, aber irgendwie gingen sie verloren.

Es ist ziemlich witzlos, über eine Kategorie wie „live“ zu philosophieren, wenn die Hauptinstrumente Computer sind. Dies war keine „Playback-Show“, mit Sicherheit nicht. Die Künstler tun irgendetwas auf der Bühne. Nach meinem Eindruck ist das Ganze eine Art Halbplayback, das ihnen die Möglichkeit zum Mitspielen gibt, und mit dem sie interagieren können, etwa, indem sie Echo- oder Filtereffekte hinzufügen. Einige böse Fehler fielen auf; so kam etwa der Gesang in The Man Machine durch das ganze Stück hindurch eine Viertelnote zu früh, gelegentlich erschienen kurz auch falsche Videoausschnitte.
 
 

 
 
Von der Bühne aus gesehen muss es seltsam sein, in hunderte von Gesichtern mit der 3D-Pappbrille auf der Nase zu schauen. Das Konzert war routiniert. Wie auch immer, das Publikum war happy, wir sahen erstklassige Unterhaltung. Alle Begeisterung allerdings kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kraftwerk, so wie sich die Band heute präsentiert, im wesentlichen Ralf Hütters Nostalgiezirkus ist. Aber das ist immer noch eine Menge.

Was man im Laufe eines Lebens so mit einer Band verbindet … Karten für das Juli-Konzert in der Radio City Music Hall New York sind bereits gekauft, aber wer kann sagen, ob und wann der Auftritt stattfinden wird … Das Wichtigste ist allerdings dies: Auf der (inzwischen längst eingeschlafenen, damals aber sehr aktiven) E-Mail-Liste über Kraftwerk, auf der sich Fans über Konzerte und sonstigen Kraftwerk-Klatsch austauschen konnten, habe ich meine Frau (Amerikanerin) kennengelernt. Und ohne sie wäre ich heute nicht in Pittsburgh.

Danke, Kraftwerk, danke, Florian.

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3 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Wow, was für Geschichten, was für eine Pointe! Ich hätte nie gedacht, dass sie nach den ganz frühen Jahren immer wieder mit der Technik so ihre Probleme hatten, in Live-Umgebungen. Gerade mit dem Image des Perfektionismus, das die Alben seit AUTOBAHN ausstrahlen. So schade, dass 1975 nicht stattfand. So schön, für dich, das Ende der Geschichte!

    Wie doof bin ich eigentlich, dass ich sie nie sah :) – aber jetzt habe ich für mein eigenes 3D-Event gesorgt und mir die nun einzeln, als DVD und BLURAY vorliegende Version für 5:1 und Headphones bestellt. Ich würde mal sagen: Samstag wird mein privates DeutschGRENZENLOSFestival stattfinden – zuerst höre ich meine Sylter Entdeckung HAUT und das Album DIE WILDE JAGD auf der Anlage, an dem Tag telefoniere ich mit Ulrike Haage, die ich hoffentlich im Herbst in der Eifel erleben werde, live on stage in Monschau, und abends öffne ich den besten Weissburgunder der Welt für sieben Euro, TEUFELSKOPF, Sansibar only. Und starte das KRAFTWERK, surround surround surround. HOMEOFFICE COOKING.

    Jetzt hatte ich den Kommentar schon versehentlich am Betzenberg abgelegt. Wird eine schöne Frühstückslektüre und Filmguckerei – Kaiserslautern 100 und Peacock 80.

  2. Lajla:

    Ja, was für eine Fan Geschichte. Jan, dir fehlt noch Düsseldorf. Kraftwerk tritt immer mal wieder hier auf. I’ll keep you informed 🌝

  3. Michael Engelbrecht:

    An gut sortierten Bahnhofsbuchhandlungen gibt es von UNCUT ein richtig gutes Heft zu KRAFTWERK, mit ausführlichen Besprechungen aller Alben (incl. des legendären AUTOBAHN Verrisses im Melody Maker 1974), historischen Interviews, Konzertplakaten (die Jan eher nicht in seiner Pittsburgher Kollektion führt:)), etc etc


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