Manafonistas

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2020 27 Apr

„Play it loud!“ – ein paar Gedanken zu einer Plattenkritik

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Tags: , | 9 Comments

Alle Monate wieder schreibt Thomas Steinfeld den einen und anderen weit verzweigten Text über eine ECM-Produktion. Ich lese sie stets gerne, sie enthalten eine unverbrauchte Sprache, beiläufig eingestreute Metaphern mit fast schon ECM-schem Nachhall, und, räusper, räusper, manch streitbare These.

Wenn man so ausladend in den weiten Raum hinein sinniert, kann man schon mal ins Stolpern geraten – jedenfalls musste ich, als ich in der SZ seinen Text „Düstere Gesellen erhellen düstere Zeiten“ über das neue Album Big Vicious von Avishai Cohen las (leicht im Netz zu finden!), hier und da die Stirn runzeln, mit den Augen rollen – und in der Sprechblase, die meiner Denkerstirn entwich, war klar und deutlich „EHRLICH JETZT!?“ abzulesen.

Was war passiert? Scheinbar ein kleiner Kulturschock für die ECM-Welt, lautet doch der finale Schluss: „Diese Musik zielt weniger auf den Kopf als auf das Knochenmark. Laut klingt dieses Album jedenfalls deutlich besser als leise.“ Nun würden mir aus dem Stand 150 Alben von ECM einfallen, die besser laut als leise ertönen sollten: das betrifft zum einen die „wilde Seite von Eichers Musikproduktionen“, aber auch herrliche, von Naturklängen inspirierte, Kammern sprengende Kammermusiken a la Jan Garbareks Dis. Oder, frei assoziiert, Dave Hollands Solobassalbum Emerald Tears. Oder die gesammelten Sun Bear Concerts von Keith Jarrett. Ein „dicker Hund“ schlummert in der Mitte des Textes, als schlichte Beschreibung getarnt, nennen wir es mal den „idealtypischen Bildungsweg“:

 

„Manche Hörer populärer Musik bleiben sich treu, manche Musiker ebenfalls. Sie beginnen bei den Rolling Stones, bei Abba oder bei Nirvana und bleiben ihr Leben lang an diese Klänge gebunden. Andere durchlaufen einen musikalischen Bildungsweg. Oft beginnt er im eher leichten Genre, geht danach über in den Rock und führt dann früher oder später in den Jazz oder auch in die Klassik, um dort während der verbleibenden Jahrzehnte zu verweilen.“

 

Nun liegt der Hase im Pfeffer so, dass bei Avishai Cohen, laut Thomas S, eine tollkühne Regression einsetzt, vom Differenzierten zum Einfachen, vom Filigranen zum Elektroschocker. Nun ist die Musik zum einen halb so wild, und durchaus nicht in jenem archaischen Dschungel beheimatet, aus dem Alben wie Bitches Brew oder City: Work of Fiction heimisch sind.

Zum andern erfährt der Hörer hier sicher keine Ermutigungen, den Weg zurück zur Ursuppe der Rockmusik anzutreten. Also, wirklich, hier auf „Big Vicious“ gibt es nicht mal ein „Mini-Kulturschock“ zu verzeichnen. Ich will es nicht verniedlichen: Big Vicious ist eine hochinteressante Produktion, very sophisticated, gewinnt mit jedem Hören, und zeigt einmal mehr, über was für eine spannende Musikszene Israel derzeit verfügt. Nur als Rollenmodell für neue Verwegenheiten taugt sie nicht.

Der von Thomas Steinfeld vor wenigen Absätzen beschriebene Bildungsweg mag durchaus für viele Hörer zutreffen, impliziert aber auch jene Denkungsart, die die leichten Klangwaren und den guten alten Onkel Rock (wer ist das, bitteschön??) auf der Seite der Jugend, und Jazz und Klassik auf der Seiten des reifen Alters verschraubt. Ob Thomas Steinfeld diesen Hörerbildungsweg mit Big Vicious aushebeln, oder ihm ausgewählte Ausnahmen an die Seite stellen möchte, ist mir nicht ganz klar.

Um auf den Punkt zu kommen: in meinem Leben würden Dinge und Klänge verdammt schief laufen, wenn ich neunmalklug und altersweise bei Brahms und Mozart stranden würde, und die Talking Heads, die Mountain Goats, die frühen Jethro Tull-Alben, und die Techno-Pioniere aus Detroit auf dem Abstellgleis der Erinnerungsseligkeit! Klassische Musik spielt eine sowas von marginale Rolle in meinem Leben, dass keine Symphonie von Beethoven je auch nur im Dunstkreis hoher privater Bedeutsamkeit landen würde – jede mit alten Kinks-Songs bestückte und halb defekte Jukebox würde bei solchen Alternativen kalt lächelnd das Rennen um die stets temporäre Zeitlosigkeit für sich entscheiden, und aus guten Gründen. Natürlich gibt es Ausnahmen, ausgewählte Zickzackkurse zwischen den Welten. Für den, der Magie sucht, gibt es keinen Kanon, keine Hierarchie. 

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9 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Dieser Text war mal kurz da, dann habe ich ihn aufs Abstellgleis geschoben, stark bearbeitet, und jetzt erst ist er für mich stimmig.

    Es sei noch einmal betont, dass ich BIG VICIOUS als sehr sehr gutes Album erlebe, gerade weil der Umgang mit den grossen Errungenschaften der Fusion und Post-Fusion-Ära raffiniert, subtil ist, und eben nicht auf den grossen Effekt schielt.

    Ein kleiner Beitrag zum winzigen Subgenre der Plattenkritikkritik.

  2. Hans-Dieter Klinger:

     

    Gedanken zu einer Plattenkritik – das ist hier angesagt – können sehr unterschiedlich ausfallen. Ich lese gerne die schon oft gelesene und immer noch frische Sprache von M.E. Das Review von Thomas Sternfeld ist mir im SZ-epaper nur am Rande aufgefallen – war es vor einer Woche? Gelesen habe ich es jetzt erst, angeregt durch das manafonistische „Play it loud“.
     

    Sternfelds Besprechung ist ein netter Aufsatz, der viel Beiläufiges enthält, die Erinnerung an die Zappel-VU-Meter, die Frage, ob Avishai Cohens Album für ECM-Verhältnisse ungewöhnlich hoch ausgesteuert ist. Der „idealtypische Bildungsweg“ ist einer angemessenen Besichtigung und einer angedeuteten Berichtigung unterzogen worden.
     

    Mir ist etwas anderes aufgefallen und deshalb habe ich mein Beckmesser gewetzt. Thomas Steinfeld zückt seinen Fachwissenausweis. In „Teardrop“ entdeckt er die drei Akkorde G 11, D-Dur, C 7. Das stimmt leider nicht. G11 kommt nicht vor, auch nicht C7 – was es mit 11 und 7 auf sich hat, würde ich gegen Gebühr erklären. D-Dur ist ganz und gar nicht vertreten. Notenkundige Manafonistas können sich hier überzeugen.
     

    Nach rockigem Eingrooven stellt die Gitarre ein nicht ganz regelmäßiges Riff vor, das aus den Tönen g, d und c besteht. Es ist nicht eindeutig, welcher Ton Grundton bzw. Zentralton ist. Es könnte C sein. Bei Zeitmarke 0:45 setzt der Bass ein mit der Tonfolge G F C. Wenn diese zum 3. Mal erklingt, spielt Avishai die schöne Themenmelodie über diesem Gerüst aus ostinatem Bass und Gitarrenriff. Viel später – von 3:25 bis 4:50 – spielt der Bass auf dem Ton G verweilend einen knackigen Rhythmus. Über dieser Basis erklingt verdünntes Bitches Brew – gelungen!

    Schief liegt Herr Steinfeld auch mit diesem Satz:
     
    Und in der Komposition „King Kutner“ rückt man so nah wie möglich […] an den Grunge heran, mit zwei Powerchords über As und E und einer Melodie, die nicht viel mehr tut, als die Grundakkorde um eine Quinte zu versetzen.
     
    Hä ??? Und der eine Ton muss Gis heißen und nicht As. Niemand würde „Fater“ statt „Vater“ schreiben – klingt ja genauso.
     

    Heute habe ich das ganze Album gehört. „Teardrop“ gefällt mir am besten. Im Übrigen ist das Album nicht notwendig für mich. Einmal gehört, und dann ad acta angesichts der Schwemme von Musik, die heutzutage zugänglich ist …
     

    Mit der schauerlichen Version von Beethovens erstem Satz der Klaviersonate in cis-Moll op. 27,2 haben sie ihren Bandnamen wahrlich verdient. Klassische Musik spielt alles andere als eine marginale Rolle in meinem Leben. Vom Konstruieren etwaiger Hierarchien oder gar von verknöchert knallharten Vorlieben habe ich mich schon längst verabschiedet – sicher bedroht von Rückfällen. Zur Zeit genieße ich oft Ravels „Gaspard de la nuit“ und 6- bis 7-stündige Fahrradtouren. Mit Kinks-Songs und Jethro-Tull-Alben konnte ich noch nie etwas anfangen & werde mir auch nicht die Mühe machen, das zu ändern.
     
     

  3. Michael Engelbrecht:

    😉🥁⛵️

    Die Nordsee wartet.

    Come on, Rosato,

    AQUALUNG!!!
    THICK AS A BRICK!

    WATERLOO SUNSET!
    SUNNY AFTERNOON!

    KING KUTNER!

    Kommt alles in die Hörnumer Jukebox!

    Aber auch

    Arvo Pärt (Für Alina – Die Singleauskopplung!)

  4. Jochen:

    Danke für deinen Kommentar, Rosato: interessant, zutreffend und witzig zu lesen.

    Die Melodie- und Akkordführung des Massive Attack Songs scheint mir bezeichnend zu sein für das ganze Big Vicious Album: simpel, mäandernd, hasenfüssige Wendungen, minimalistische Leerläufe, tentatives Hasch-mich-du-kriegst-mich-nicht-Spiel.

    Das Album klingt aufnahmetechnisch geradezu „erlesen“. Es enthält Überraschungen – ich war erstaunt, es gleichzeitig langatmig und spannend zu finden.

  5. Michael Engelbrecht:

    Einen langen Atem kann kann man ja auch positiv empfinden. Aber schön, vier verschiedene Ansichten hier vorzufinden, die steinfeldische, die rosatonische, die siemersche und meine.

    Ich stehe gerade mit sieben Autos am Syltshuttle. Es wird nordisch frisch und viel regnen, ganz nach meinem Geschmack. Ich habe eine Irrfahrt hinter mir mit Autobahnsperrungen, und einem komplett versagenden Navi mit einer Obsession für gesperrte Strassen. Das Beste war gerade das launige Gespräch mit dem Polizisten.

    Meine Musikzusammenstellung hat sich übrigens leicht verändert, die zwei Pianosoloalben aus der nahen ECM-Zukunft wären Futter für Rosato. Meine Unterkunft Ist auch eine andere, bin jetzt im „Rosenhaus“. Das hört sich vielleicht kitschig an, ist aber eine coole Sache.

  6. Michael Engelbrecht:

    Signore Vellucci‘s take on BIG VICIOUS

  7. Rosato:

    kannst du mir erklären, was ein *opener* ist?

    ich habe immer das erste liedlein eines albums für den *opener* gehalten

    und:
    hat sich Velluci verzählt? nach meiner quellenlage ist *intent* track 11

    keine überraschung:
    der beste songschreiber des albums ist Beethoven

  8. Michael Engelbrecht:

    Junge, Junge, deine „Plattenkritikkritiken“ haben es aber in sich.

    Wahrscheinlich war Vellucci so gebannt, dass ihm das genaue Zählen abhanden kam.

  9. stimme aus dem off:


    he probably listened to the italian edition of the album

     


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