Alle Monate wieder schreibt Thomas Steinfeld den einen und anderen weit verzweigten Text über eine ECM-Produktion. Ich lese sie stets gerne, sie enthalten eine unverbrauchte Sprache, beiläufig eingestreute Metaphern mit fast schon ECM-schem Nachhall, und, räusper, räusper, manch streitbare These.
Wenn man so ausladend in den weiten Raum hinein sinniert, kann man schon mal ins Stolpern geraten – jedenfalls musste ich, als ich in der SZ seinen Text „Düstere Gesellen erhellen düstere Zeiten“ über das neue Album Big Vicious von Avishai Cohen las (leicht im Netz zu finden!), hier und da die Stirn runzeln, mit den Augen rollen – und in der Sprechblase, die meiner Denkerstirn entwich, war klar und deutlich „EHRLICH JETZT!?“ abzulesen.
Was war passiert? Scheinbar ein kleiner Kulturschock für die ECM-Welt, lautet doch der finale Schluss: „Diese Musik zielt weniger auf den Kopf als auf das Knochenmark. Laut klingt dieses Album jedenfalls deutlich besser als leise.“ Nun würden mir aus dem Stand 150 Alben von ECM einfallen, die besser laut als leise ertönen sollten: das betrifft zum einen die „wilde Seite von Eichers Musikproduktionen“, aber auch herrliche, von Naturklängen inspirierte, Kammern sprengende Kammermusiken a la Jan Garbareks Dis. Oder, frei assoziiert, Dave Hollands Solobassalbum Emerald Tears. Oder die gesammelten Sun Bear Concerts von Keith Jarrett. Ein „dicker Hund“ schlummert in der Mitte des Textes, als schlichte Beschreibung getarnt, nennen wir es mal den „idealtypischen Bildungsweg“:
„Manche Hörer populärer Musik bleiben sich treu, manche Musiker ebenfalls. Sie beginnen bei den Rolling Stones, bei Abba oder bei Nirvana und bleiben ihr Leben lang an diese Klänge gebunden. Andere durchlaufen einen musikalischen Bildungsweg. Oft beginnt er im eher leichten Genre, geht danach über in den Rock und führt dann früher oder später in den Jazz oder auch in die Klassik, um dort während der verbleibenden Jahrzehnte zu verweilen.“
Nun liegt der Hase im Pfeffer so, dass bei Avishai Cohen, laut Thomas S, eine tollkühne Regression einsetzt, vom Differenzierten zum Einfachen, vom Filigranen zum Elektroschocker. Nun ist die Musik zum einen halb so wild, und durchaus nicht in jenem archaischen Dschungel beheimatet, aus dem Alben wie Bitches Brew oder City: Work of Fiction heimisch sind.
Zum andern erfährt der Hörer hier sicher keine Ermutigungen, den Weg zurück zur Ursuppe der Rockmusik anzutreten. Also, wirklich, hier auf „Big Vicious“ gibt es nicht mal ein „Mini-Kulturschock“ zu verzeichnen. Ich will es nicht verniedlichen: Big Vicious ist eine hochinteressante Produktion, very sophisticated, gewinnt mit jedem Hören, und zeigt einmal mehr, über was für eine spannende Musikszene Israel derzeit verfügt. Nur als Rollenmodell für neue Verwegenheiten taugt sie nicht.
Der von Thomas Steinfeld vor wenigen Absätzen beschriebene Bildungsweg mag durchaus für viele Hörer zutreffen, impliziert aber auch jene Denkungsart, die die leichten Klangwaren und den guten alten Onkel Rock (wer ist das, bitteschön??) auf der Seite der Jugend, und Jazz und Klassik auf der Seiten des reifen Alters verschraubt. Ob Thomas Steinfeld diesen Hörerbildungsweg mit Big Vicious aushebeln, oder ihm ausgewählte Ausnahmen an die Seite stellen möchte, ist mir nicht ganz klar.
Um auf den Punkt zu kommen: in meinem Leben würden Dinge und Klänge verdammt schief laufen, wenn ich neunmalklug und altersweise bei Brahms und Mozart stranden würde, und die Talking Heads, die Mountain Goats, die frühen Jethro Tull-Alben, und die Techno-Pioniere aus Detroit auf dem Abstellgleis der Erinnerungsseligkeit! Klassische Musik spielt eine sowas von marginale Rolle in meinem Leben, dass keine Symphonie von Beethoven je auch nur im Dunstkreis hoher privater Bedeutsamkeit landen würde – jede mit alten Kinks-Songs bestückte und halb defekte Jukebox würde bei solchen Alternativen kalt lächelnd das Rennen um die stets temporäre Zeitlosigkeit für sich entscheiden, und aus guten Gründen. Natürlich gibt es Ausnahmen, ausgewählte Zickzackkurse zwischen den Welten. Für den, der Magie sucht, gibt es keinen Kanon, keine Hierarchie.