Seit ich vor etwa zwei Jahren ein Album mit dem Titel Schwermut und Traurigkeit sind zu schätzende Gefühle (im schwedischen Original Svårmod och vemod är värdesinnen) der Band The End anfragte, finde ich in unregelmäßigen Abständen immer wieder mal Musik vom Londoner Label RareNoiseRecords in meinem E-Mailfach. Aufgefallen war mir das 2008 von Giacomo Bruzzo und Eraldo Bernocchi gegründete Label vermutlich durch David Torns Zusammenarbeit mit der Schweizer Band Sonar. Für deren Album hatten sie Torn als Produzent angefragt; am Ende entstand nicht nur das kraftvolle gemeinsame Debüt Vortex, sondern zuletzt gleich noch ein weiteres (Doppel-)Album namens Tranceportation, von denen im vergangenen Herbst bislang nur Volume 1 erschien und den hypnotisch groovigen Progressive-Rock unverändert gelungen fortführt.
Hinter dem internationalen Quintett The End stecken die beiden nordischen Bariton- und Tenorsaxofon-Stars Mats Gustafsson und Kjetil Møster. Beide setzen wie Sonar gerne mal Elektronik ein, um ihren Sound zu verfremden und vor allem zu radikalisieren. Die weiteren Mitglieder sind der amerikanische Schlagzeuger Greg Saunier, bekannt etwa von Deerhoof und Xiu Xiu, der norwegische Krachmacher-Gitarrist Anders Hana und als jüngstes Mitglied und einzige Frau im Bunde, die 1983 in Äthiopien geborene Schwedin Sofia Jernberg (ebenfalls in Gustafssons Fire! Orchestra und im genreignoranten Quartett „The New Songs“), die ihre Stimme als Instrument einbringt, um gegen den streckenweise noisigen Heavy-Rock anzukämpfen. Als Interpretin der (von Männern geschriebenen und nicht so durchweg überzeugenden) Texte bietet sie dem schwelenden Klangrausch ein waches Gegenüber. In der Mitte der CD stehen zwei epische Viertelstundenstücke, von denen speziell das gemeinsam komponierte Translated Slaughter weitaus weniger martialisch auftritt, als es der Titel vermuten lässt. Jernberg klagt, kreischt und krakeelt, bekommt aber auch den Raum, den Text mal sanft und sensibel vorzutragen, während die düster enervierenden Instrumente um sie herumtanzen wie Hexen in der Walpurgisnacht. Erst zum Ende hin explodiert das vorwiegend angespannte Stück auch mal ins Rockige. Stark ist hier Hanas Gitarrensound-Vielfalt. Reizvoller wird es bei The End immer dann, wenn sich die Musik ins Freie, Aufgeputschte entladen darf. Da erinnerte manche Passage (natürlich) auch mal an Møsters und Gustafssons andere Bands Møster! und The Thing (inklusive dem tollen Album mit Neneh Cherry von 2012, zu dem dieses hier fast wie eine Fortsetzung anmutet).
Stilistisch zwischen diesen beiden Bands liegt Red Kite, eine Art „Supergroup“ diverser bekannter Namen der norwegischen Jazz/Rock/Prog/Psychedelic-Szene, die jeder für sich beim Label Rune Grammofon auf etlichen Alben vertreten war. Auch wenn ich ihre starke eigene Version von Alice Coltranes Ptah, The El Daoud mag, bin ich bin mit der gesamten CD nicht so rückhaltlos warm geworden, doch der Nordische-Musik-Kollege Stefan Vinaricky umso mehr. Er schrieb, im Verlauf des Albums zeige sich, „dass die Eigenkompositionen nicht weniger dicht, komplex und eindringlich, kurz gesagt hervorragend gelungen“ seien. Wer Musik mit „Dampfhammer – Fender-Rhodes und vor allem Stromgitarren-Soli inklusive“ möge, dürfte hier seine Freude haben. „Der tief aus dem Hard-Rock stammenden Rhythmusgruppe gelingt es dabei, den Flow stets aufrecht zu erhalten, so dass das das Dargebotene zwar heftig, aber nie zu anstrengend wird. Die dazwischen eingestreuten ruhigeren Titel folgen einem nicht weniger dichten Flow und erzeugen eine wohltuende atmosphärische Weite. Ein wunderbares, ein großartiges Album.“
Wenn man RareNoiseRecords nun allerdings aufgrund der Alben von Sonar, Red Kite und The End sowie aufgrund ihres gewählten Namens als Lärm-Label abgehakt hat, tut man ihnen sehr Unrecht. Laut Eigenaussage ist „die Mission des Labels, zeitgenössische Trends in progressiver Musik aufzuspüren und diesen eine Plattform zu geben“, mit der sie „unabhängig von Genre und ohne jede Voreingenommenheit, in Beziehung zur Geschichte der Artform gebracht werden. Das Label soll eine Inspiration sein für alle, die gefesselt sind von spannenden, gewagten und progressiven Sounds.“ So findet man im Katalog der letzten ein, zwei Jahre (frühere Alben sind mir allesamt unbekannt) nämlich eine ganze Menge anderer Projekte, darunter auch von Musikern, die sich bereits vor 40 bis 50 Jahren einen Namen gemacht haben, wie Saxofonist Dave Liebman, der mit den nur etwas jüngeren Perkussion-Kollegen Adam Rudolph und Hamid Drake ein sympathisch verspieltes Konzertalbum mitgeschnitten hat. Chi wurde angeregt von John Zorn, der in New York im Club „The Stone“ regelmäßig improvisierende Musiker aus aller Welt zusammenführt. Hier bringen Rudolph und Drake eine Vielzahl spannender Schlaginstrumente auf die Bühne, teils wurde auch mit elektronischen Mitteln verfremdet. Natürlich ist das trotz einer über weite Strecken reduzierten, gar skelettierten Form schon eher Free-Jazz, aber durch die vielfältigen und komplexen Rhythmuselemente, darunter aus afrikanischen Kulturen stammende Instrumente, gewinnt das Ganze einen sehr dynamischen Zug, der auch Liebmans Spiel ins eher Rhythmische treibt. Bekanntlich war Liebman als ganz junger Musiker auf Miles Davis’ stark rhythmusbetontem Album On The Corner vertreten, bevor er unter anderem in den frühen ECM-Jahren eigene kulturübergreifende Gruppen mit Congas, Bongos und Tablas (u.a. mit Collin Walcott) leitete. Da ist es also nicht ganz abwegig, wenn man in Chi eine Fortführung der Ideen von Codona erkennt. Ohne Frage wäre es spannend zu hören, wie die gleiche Besetzung in einer (von Manfred Eicher produzierten?) Studioaufnahme klänge.
Und noch eine andere von ECM wohlbekannte Meisterin ihres (perkussiven) Fachs, die wie Liebman als junge Musikerin etwa zwei Jahre lang bei Miles Davis spielte (viele, viele Jahre später allerdings), reüssierte im vergangenen Jahr bei RareNoise: Marilyn Mazur versammelte für eines ihrer vielen „All-Star“-Projekte zehn tolle Musikerinnen wie Lotte Anker, Lisbeth Diers und Hildegunn Øiseth der nordeuropäischen Improvisation. Über das „groovende World Jazz-“Album Shamania schrieb hier der Kollege Tim Jonathan Kleinecke.
Mit mehreren CDs ist der italienische Bassist, Gitarrist und Klangbastler Lorenzo Feliciati bereits bei RareNoise im Katalog: Zuletzt erschien im Oktober das hinreißende Duoalbum Antikythera mit seinem Landsmann Michele Rabbia und einer Handvoll Gästen. Uli äußerte bereits seine Begeisterung für diese wunderbar unvorhersehbaren und detailreichen Soundscapes, bei denen oftmals rein akustisch erzeugte und elektronisch verfremdete Klänge nicht voneinander zu unterscheiden sind – es sei denn, da taucht plötzlich Andy Sheppards magisches Saxofon oder das warme (teils präparierte) Klavierspiel von Rita Marcotulli auf. Wieder einmal spannend ist auch Trompeter Cuong Vu, der zwei Stücke bereichert. Bereits im Vorjahr erschien das treibendere Album Twinscapes 2 mit Colin Edwin (ehemals Porcupine Tree), der ebenfalls Bass spielt und „Rhythm Design“ programmierte. Wie der Albumtitel verrät, hatten die beiden bereits zuvor gemeinsam eine CD veröffentlicht, damals gastierte Nils Petter Molvær, hier wurde Schlagzeuger Roberto Gualdi vollwertiges Bandmitglied, und zusammen entwarfen die Drei A Modern Approach To The Dancefloor, wie die Platte im Untertitel unglücklicherweise heißt. Wirklich tanzbar sind die zehn Stücke nur bedingt, eher schon könnte man vielleicht an eine flotte bis latent kraut- und progrockige Lounge-Fusion oder dergleichen denken, dabei gibt’s einige Momente, die an die Achtziger erinnern, vielleicht vage an die Band Material bzw. Bill Laswell, bei zwei Bassisten nicht ganz überraschend. Die CD ist zwar jetzt keine spektakuläre Entdeckung und nicht so eindrucksvoll wie Antikythera (siehe hierzu auch dies), aber ich finde, da sind immer wieder gut gespielte Grooves, E-Gitarren und andere schöne Ideen zu finden, etwa wenn recht überraschend Chorgesang auftaucht.
Molvær gastierte unlängst noch auf einer anderen RareNoise-Platte, noch eine mit einem verweisreichen Titel: Hyperuranion. Chat Noir wurden 2001 als akustisches Jazztrio gegründet, doch mit ihrem siebten Album haben sie quasi nichts mehr mit Pianotriojazz gemein. Zunehmend wurden elektronische Elemente eingearbeitet, Keyboards spielen eine tragende Rolle, und mittlerweile zählt Gitarrist Daniel Calvi, der auch Synthesizer ins Klangbild der Band integriert, zum festen Personal. Die Gruppe pflegt einen spür- und hörbar gemeinschaftlichen Produktionsprozess, und mit ihrer Klangästhetik scheint sie mir bei einer zeitgemäßen Version von dem angekommen, was man in den 1990ern „Future-Jazz“ nannte, bald darauf auch „NuJazz“ (siehe Wesseltoft, Aarset und, klar, Molvær – Electronica, Techno, Ambient im Jazz), aber auch hier dachte ich wieder an Bill Laswell. Oder an Toshinori Kondo, der mit Laswell und Bernocchi in den Neunzigern ein für mich damals ohrenöffnendes Album namens Charged herausbrachte. So ist es also gerade mal konsequent, wenn Molvær auf Hyperuranion einige Stücke mit seinem markanten Sound veredelt. Solche Gastauftritte in progressiven Bands (Slim Marvel, Food, Dhafer Youssef) und Kollaborationen (Sly & Robbie, Trilok Gurtu, Moritz von Oswald) pflegt der Trompeter ja seit jeher gerne und regelmäßig, und oft sind die so toll wie hier auf dieser CD. Ein wenig dachte ich übrigens auch an The Comet Is Coming, die in diesem Blog im letzten Jahr ja öfters erwähnt wurden.
Auch über Eraldo Bernocchi hatten wir vor mehr als einem Jahr bereits ein wenig kommuniziert, und auch hier empfahl Uli dessen Album Like a Fire That Consumes All Before It. Mit Hilfe von Gitarren, „treated guitars“ und Elektronik gestaltet der Italiener ein knapp 75-minütiges Ambient-Epos, das eigentlich als Filmmusik für einen Dokumentarfilm über den amerikanischen Maler und Zeichner Cy Twombly entstand. Ich fand auch hier viel Schönes, muss aber auch zugeben, dass mir in Bernocchis warmem Klangbad doch irgendwie etwas die Kanten fehlen und ich endlich mal den Film – er trägt den Titel Cy Dear – sehen möchte, denn in meinen Ohren passt diese elegisch schwebende Stimmungsmusik, die in vielen Momenten an Harold Budd oder Michael Brook erinnert, nicht so wirklich zu den Bilden von Cy Twombly.
Vergleichbar ruhig und minimalistisch, aber noch näher am Genre der „klassischen Musik“ ist Francesco Guerris Album Su Mimmi Non Si Spara!, das mich ebenfalls weniger begeistern konnte als Uli, auf dessen eindrucksvolle Würdigung daher hier noch einmal verwiesen sein soll. Noch ratloser ließ mich indes das Quintett Sean Noonan’s Pavees Dance mit dem Album Tin Man’s Hat. RareNoise selbst schreiben, es gäbe hier Prog-Rock und Avantgarde-Klassik in Kombination mit afrikanischen Volkstraditionen sowie „ruckartige Infusionen von Psychedelien und Lagerfeuergeschichten“ (ich vermute, dass diese amüsante Formulierung in der Pressemitteilung in der Info-Mail durch ein automatisches Übersetzungsprogramm entstand) zu hören. Das klingt ohne Frage interessant, aber ich konnte die Musik nicht wirklich anhören.
Deshalb zum Abschluss und zur Schließung des Kreises noch der Verweis auf mein bisheriges Lieblingsalbum beim Label RareNoise. Bei Nordische Musik habe ich es bereits in den höchsten Tönen gelobt, es erschien Ende 2018 als Katalognummer 100 zum zehnten Geburtstags des Labels. Der Begriff „Supergroup“ oder „All-Star-Band“ wird ja oftmals allzu leichtfertig für Gruppen genutzt, die weder „super“ noch „Stars“ sind. Das ist beim Quintett Anguish anders: Hans Joachim Irmler von der Band Faust, Will Brooks und Mike Mare von der Hip-Hop-Gruppe Dälek aus Newark, New Jersey, dazu die beiden Schweden Mats Gustafsson und Anders Werliin, die nicht nur von Liebhabern Nordischer Musik seit vielen Jahren mit ihren zahlreichen Bands zwischen Rock und Jazz (FIRE! / Fire! Orchestra, The Thing, Wildbirds & Peacedrums usw.) geschätzt werden. Als Anguish verbanden diese Fünf nun eben diese verschiedenen Einflüsse zu einem energetischen, mitreißenden Strom aus Ideen und Intensität: Rauer Hip-Hop mit elektronisch verfremdeten Gitarren trifft auf Gustafssons variables Tenorsaxofon trifft auf den rollenden Synth-Krautrock der Faust-Schule trifft auf schwebende Industrial-Sounds und Noise-Rock. Und doch bleiben die neun Stücke des Albums stets eingängig, selbst in den feinen experimentellen Kanten fast Pop Art. An drei Tagen im Sommer 2018 wurde diese Scheibe in Irmlers Faust-Studio im schwäbischen Scheer an der Donau eingespielt und erinnerte mich in ihrer Power und der Kreuzung aus gegenwärtigem elektrischem Jazz und elektronisch durchsetztem Rock auch an David Bowies letztes Album mit der Band von Saxofonist Donny McCaslin, das immerhin ebenfalls von Hip Hop beeinflusst war. Vergleichbares muss man lange suchen; allenfalls das kollaborative Projekt „13 & God“ zwischen den US-Hip-Hoppern Themselves und der süddeutschen Band The Notwist kam mir in den Sinn, wenngleich das freilich am Ende anders klingt.